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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Feuerprobe des humanistischen Gymnasiums

ganzen Schwierigkeiten der Verproviantierung und geographischen Hindernisse,
bei zerstörten Brücken, künstlich unter Wasser gesetzten Landesteilen usw." --
Wenn man ihnen dann noch sagt, daß dieser Zug in der strategischen Literatur
bis hin zu unserem Moltke und zum russischen Kuropatkin als eine vorbildliche
Leistung gegolten hat, wenn man ihnen hin und wieder zur Beglaubigung
und Illustration eine Stelle aus Moltkes Reisebriefen aus der Türkei mitteilt,
so ist man ihres doppelten Interesses auch für die sprachliche Aufgabe gewiß.

Oder wenn in der Äneis aus der Fülle der poetischen Einzelbilder aus
grauer Vorzeit ganz aktuelle plötzlich auftauchen, wie z. B. das vom unheilvollen
Wesen und Treiben der Fama oder von der Autorität eines besonnenen, an¬
gesehenen Mannes über einen wütenden Volkshaufen, wenn man in diesem
ganzen, bunten Epos die ehrliche und fast fromme vaterländische und kaisertreue
Tendenz finden läßt, oder wenn man am Demosthenes die ganze Ohnmacht der
glänzendsten und doch so kurzsichtigen republikanischen Beredsamkeit zeigt gegen¬
über dem festen, monarchischen Prinzip des starken Gegners, in dessen könig¬
lichen Händen auch im Felde beim Heere die oberste Entscheidung liegt --
wer darf dann die vorhin angeführten Angriffe wiederholen, wer sieht nicht
ein. daß auch bei uns Schule und Leben, daß Antike und Vaterland keine
Gegensätze zu sein brauchen? Und endlich, oben in Prima, wenn man von
alledem die Summe zieht und an Cicero die Notwendigkeit des Unterganges
der Republik und des Emporsteigens der Monarchie zeigt, oder den Zusammen¬
bruch eines über die Kräfte gespannten Ehrgeizes, und die im Unglück tröstende
Kraft der Philosophie und der geistigen Arbeit überhaupt aus seinen öffentlichen
Schriften und intimen brieflichen persönlichen Bekenntnissen gemeinsam erarbeiten
kann, wenn man zur Germania und den Arminusgeschichten des Tacitus gelangt
und zu den vaterländischen Oden und zu den satirischen Plaudereien des Horaz
über die großen und kleinen Fehler der Zeitgenossen, wenn man endlich, über
allem in den Dialogen Platos die mühevolle Trennung von Schein und Sein
für eine neue Generation mit hat wieder entdecken helfen -- wer wiederholt
das Märchen noch von dem öden Formalkram, den das Gymnasium mitleidslos
den durstigen jungen Seelen darbietet, und durch den es gerade in dieser großen
Zeit der Jugend die Schule zur Qual macht?

Gewiß, vor solcher Ernte muß auch stramm gearbeitet werden, wie es der
Minister gerade in dieser ernsten Zeit der Jugend und uns zur Pflicht gemacht
hat, aber das hat die formale Erziehung durch die Sprache vor der an sich,
soweit es logisches Denken angeht, mindestens gleichwertigen durch die Mathe¬
matik sicherlich voraus: daß sie immer zugleich neben der abstrakten Erkenntnis
die konkrete, menschliche, lebendige Anschauung vermittelt, daß sie immer zugleich
ethisch, intellektuell und ästhetisch wertvoll ist, das heißt, daß sie immer gleich¬
zeitig den Willen, den Verstand und die Phantasie beschäftigt.

Dies alles schließlich, auch jede altsprachliche Grammatikstunde von Sexta
an dient mindestens zur Hälfte der Muttersprache und der Erkenntnis deutscher


Die Feuerprobe des humanistischen Gymnasiums

ganzen Schwierigkeiten der Verproviantierung und geographischen Hindernisse,
bei zerstörten Brücken, künstlich unter Wasser gesetzten Landesteilen usw." —
Wenn man ihnen dann noch sagt, daß dieser Zug in der strategischen Literatur
bis hin zu unserem Moltke und zum russischen Kuropatkin als eine vorbildliche
Leistung gegolten hat, wenn man ihnen hin und wieder zur Beglaubigung
und Illustration eine Stelle aus Moltkes Reisebriefen aus der Türkei mitteilt,
so ist man ihres doppelten Interesses auch für die sprachliche Aufgabe gewiß.

Oder wenn in der Äneis aus der Fülle der poetischen Einzelbilder aus
grauer Vorzeit ganz aktuelle plötzlich auftauchen, wie z. B. das vom unheilvollen
Wesen und Treiben der Fama oder von der Autorität eines besonnenen, an¬
gesehenen Mannes über einen wütenden Volkshaufen, wenn man in diesem
ganzen, bunten Epos die ehrliche und fast fromme vaterländische und kaisertreue
Tendenz finden läßt, oder wenn man am Demosthenes die ganze Ohnmacht der
glänzendsten und doch so kurzsichtigen republikanischen Beredsamkeit zeigt gegen¬
über dem festen, monarchischen Prinzip des starken Gegners, in dessen könig¬
lichen Händen auch im Felde beim Heere die oberste Entscheidung liegt —
wer darf dann die vorhin angeführten Angriffe wiederholen, wer sieht nicht
ein. daß auch bei uns Schule und Leben, daß Antike und Vaterland keine
Gegensätze zu sein brauchen? Und endlich, oben in Prima, wenn man von
alledem die Summe zieht und an Cicero die Notwendigkeit des Unterganges
der Republik und des Emporsteigens der Monarchie zeigt, oder den Zusammen¬
bruch eines über die Kräfte gespannten Ehrgeizes, und die im Unglück tröstende
Kraft der Philosophie und der geistigen Arbeit überhaupt aus seinen öffentlichen
Schriften und intimen brieflichen persönlichen Bekenntnissen gemeinsam erarbeiten
kann, wenn man zur Germania und den Arminusgeschichten des Tacitus gelangt
und zu den vaterländischen Oden und zu den satirischen Plaudereien des Horaz
über die großen und kleinen Fehler der Zeitgenossen, wenn man endlich, über
allem in den Dialogen Platos die mühevolle Trennung von Schein und Sein
für eine neue Generation mit hat wieder entdecken helfen — wer wiederholt
das Märchen noch von dem öden Formalkram, den das Gymnasium mitleidslos
den durstigen jungen Seelen darbietet, und durch den es gerade in dieser großen
Zeit der Jugend die Schule zur Qual macht?

Gewiß, vor solcher Ernte muß auch stramm gearbeitet werden, wie es der
Minister gerade in dieser ernsten Zeit der Jugend und uns zur Pflicht gemacht
hat, aber das hat die formale Erziehung durch die Sprache vor der an sich,
soweit es logisches Denken angeht, mindestens gleichwertigen durch die Mathe¬
matik sicherlich voraus: daß sie immer zugleich neben der abstrakten Erkenntnis
die konkrete, menschliche, lebendige Anschauung vermittelt, daß sie immer zugleich
ethisch, intellektuell und ästhetisch wertvoll ist, das heißt, daß sie immer gleich¬
zeitig den Willen, den Verstand und die Phantasie beschäftigt.

Dies alles schließlich, auch jede altsprachliche Grammatikstunde von Sexta
an dient mindestens zur Hälfte der Muttersprache und der Erkenntnis deutscher


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[0038] Die Feuerprobe des humanistischen Gymnasiums ganzen Schwierigkeiten der Verproviantierung und geographischen Hindernisse, bei zerstörten Brücken, künstlich unter Wasser gesetzten Landesteilen usw." — Wenn man ihnen dann noch sagt, daß dieser Zug in der strategischen Literatur bis hin zu unserem Moltke und zum russischen Kuropatkin als eine vorbildliche Leistung gegolten hat, wenn man ihnen hin und wieder zur Beglaubigung und Illustration eine Stelle aus Moltkes Reisebriefen aus der Türkei mitteilt, so ist man ihres doppelten Interesses auch für die sprachliche Aufgabe gewiß. Oder wenn in der Äneis aus der Fülle der poetischen Einzelbilder aus grauer Vorzeit ganz aktuelle plötzlich auftauchen, wie z. B. das vom unheilvollen Wesen und Treiben der Fama oder von der Autorität eines besonnenen, an¬ gesehenen Mannes über einen wütenden Volkshaufen, wenn man in diesem ganzen, bunten Epos die ehrliche und fast fromme vaterländische und kaisertreue Tendenz finden läßt, oder wenn man am Demosthenes die ganze Ohnmacht der glänzendsten und doch so kurzsichtigen republikanischen Beredsamkeit zeigt gegen¬ über dem festen, monarchischen Prinzip des starken Gegners, in dessen könig¬ lichen Händen auch im Felde beim Heere die oberste Entscheidung liegt — wer darf dann die vorhin angeführten Angriffe wiederholen, wer sieht nicht ein. daß auch bei uns Schule und Leben, daß Antike und Vaterland keine Gegensätze zu sein brauchen? Und endlich, oben in Prima, wenn man von alledem die Summe zieht und an Cicero die Notwendigkeit des Unterganges der Republik und des Emporsteigens der Monarchie zeigt, oder den Zusammen¬ bruch eines über die Kräfte gespannten Ehrgeizes, und die im Unglück tröstende Kraft der Philosophie und der geistigen Arbeit überhaupt aus seinen öffentlichen Schriften und intimen brieflichen persönlichen Bekenntnissen gemeinsam erarbeiten kann, wenn man zur Germania und den Arminusgeschichten des Tacitus gelangt und zu den vaterländischen Oden und zu den satirischen Plaudereien des Horaz über die großen und kleinen Fehler der Zeitgenossen, wenn man endlich, über allem in den Dialogen Platos die mühevolle Trennung von Schein und Sein für eine neue Generation mit hat wieder entdecken helfen — wer wiederholt das Märchen noch von dem öden Formalkram, den das Gymnasium mitleidslos den durstigen jungen Seelen darbietet, und durch den es gerade in dieser großen Zeit der Jugend die Schule zur Qual macht? Gewiß, vor solcher Ernte muß auch stramm gearbeitet werden, wie es der Minister gerade in dieser ernsten Zeit der Jugend und uns zur Pflicht gemacht hat, aber das hat die formale Erziehung durch die Sprache vor der an sich, soweit es logisches Denken angeht, mindestens gleichwertigen durch die Mathe¬ matik sicherlich voraus: daß sie immer zugleich neben der abstrakten Erkenntnis die konkrete, menschliche, lebendige Anschauung vermittelt, daß sie immer zugleich ethisch, intellektuell und ästhetisch wertvoll ist, das heißt, daß sie immer gleich¬ zeitig den Willen, den Verstand und die Phantasie beschäftigt. Dies alles schließlich, auch jede altsprachliche Grammatikstunde von Sexta an dient mindestens zur Hälfte der Muttersprache und der Erkenntnis deutscher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/38>, abgerufen am 30.06.2024.