Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Me Feuerprobe des humanistischen Gymnasiums

oder nicht? Ein zweites, fast symbolisches Beispiel dafür, wie zwischen dem
Unterricht im Deutschen bzw. der Geschichte und in der Antike die Fäden hin-
und herlaufen, aus der Praxis der letzten Tage: wir lasen in Obertertia neben
dem Pensum der Schillerschen antikisierenden Balladen eine patriotische, künst¬
lerisch vollendete Festrede eines Archäologen, eines Forschers griechischer Geschichte.
Sein Thema war: "Moltke." Unsere Schüler wissen, daß der Verfasser Ernst
Curtius der beste Freund Emanuel Geibels war, des deutschen Dichters also,
den die vorige Generation als den "Herold der deutschen Einigungskriege" mit
den höchsten Ehren gefeiert hat. Diesen vaterländischen Dichter lernen sie bald
darauf zugleich als den Verfasser eines "klassischen Liederbuchs" kennen, d. h.
feinsinnigster Übertragungen griechisch-römischer Lyrik oder von Neubearbeitungen,
wie des schönsten Naustkaagedichtes, das wir besitzen, zu denen er sich auf einer
Reise durch Hellas Stimmung und Farbe geholt hatte, wie einst Goethe in
Italien, und wie jetzt wieder unsere modernen deutschen Dichter und bildenden
Künstler -- sie alle, ohne daß sie dabei in ihrem Herzen Griechen und Römer
oder schlechte Patrioten geworden wären. Im Gegenteill

Die Aufgabe des Unterrichts in den modernen Sprachen ist dringender als
je. Aber für das rein rhetorische Pathos der französischen Tragödie fehlt jetzt
das Interesse, für die Witze der französischen Komödie hat die Zeit kein Ohr,
und die Memoiren französischer Generale aus der Zeit von Jena und die Ver¬
höhnung preußischer Soldaten von 1870 werden wohl auch verschwinden müssen.

Man vergleiche damit die Stoffe des altsprachlichen Unterrichts! Bieten
sie wirklich, zumal jetzt, keine "Wege zum Herzen des Schülers"? Zugleich
mit dem Vorzug der Objektivität und Distanz liefern sie eine Fülle der edelsten
und überraschendsten Analogien und Beziehungen zu unserer Gegenwart, so daß
man sich beinahe vor der Gefahr allzugroßer Aktualität hüten niuß. Wollte
man diese Aktualität zum Prinzip des Unterrichts erheben, so würde
man das Beste daran verderben. Das Beste daran aber ist, daß diese Er¬
kenntnisse sich im Laufe des Arbeitspensums plötzlich darbieten, daß sie sozusagen
auf neutralem Boden erobert werden und nun auf die Gegenwart übertragen
werden wollen, daß sie nicht wie so manche patriotische Zwangserziehung wirken
und somit verstimmen können, während sie doch überall zugleich das historische
Bewußtsein schärfen und ebensooft zur Bescheidenheit wie zum nationalen Stolz
erziehen.

"Schon das öde VokabelpaukenI" hört man wohl noch als Ein¬
wand. Aber der Ton macht auch hier die Musik. Ein Beispiel aus der
Praxis: schon vor einigen Jahren, als wir nicht an diesen Krieg denken
konnten, haben sich unsere Sextaner ihr kleines lateinisches "Soldaten -
duch" anlegen müssen oder "dürfen". Dieses Buch hieß offiziell nicht etwa
kalt und unpersönlich "Vokabularium" oder "Präparationsheft" oder "Phraseo¬
logie", sondern eben "Soldatenbuch". Darin lag eine starke Suggestion. Ich
versichere, daß es den Jungen ebenso lieb gewesen ist, wie die schönste Schachtel


Me Feuerprobe des humanistischen Gymnasiums

oder nicht? Ein zweites, fast symbolisches Beispiel dafür, wie zwischen dem
Unterricht im Deutschen bzw. der Geschichte und in der Antike die Fäden hin-
und herlaufen, aus der Praxis der letzten Tage: wir lasen in Obertertia neben
dem Pensum der Schillerschen antikisierenden Balladen eine patriotische, künst¬
lerisch vollendete Festrede eines Archäologen, eines Forschers griechischer Geschichte.
Sein Thema war: „Moltke." Unsere Schüler wissen, daß der Verfasser Ernst
Curtius der beste Freund Emanuel Geibels war, des deutschen Dichters also,
den die vorige Generation als den „Herold der deutschen Einigungskriege" mit
den höchsten Ehren gefeiert hat. Diesen vaterländischen Dichter lernen sie bald
darauf zugleich als den Verfasser eines „klassischen Liederbuchs" kennen, d. h.
feinsinnigster Übertragungen griechisch-römischer Lyrik oder von Neubearbeitungen,
wie des schönsten Naustkaagedichtes, das wir besitzen, zu denen er sich auf einer
Reise durch Hellas Stimmung und Farbe geholt hatte, wie einst Goethe in
Italien, und wie jetzt wieder unsere modernen deutschen Dichter und bildenden
Künstler — sie alle, ohne daß sie dabei in ihrem Herzen Griechen und Römer
oder schlechte Patrioten geworden wären. Im Gegenteill

Die Aufgabe des Unterrichts in den modernen Sprachen ist dringender als
je. Aber für das rein rhetorische Pathos der französischen Tragödie fehlt jetzt
das Interesse, für die Witze der französischen Komödie hat die Zeit kein Ohr,
und die Memoiren französischer Generale aus der Zeit von Jena und die Ver¬
höhnung preußischer Soldaten von 1870 werden wohl auch verschwinden müssen.

Man vergleiche damit die Stoffe des altsprachlichen Unterrichts! Bieten
sie wirklich, zumal jetzt, keine „Wege zum Herzen des Schülers"? Zugleich
mit dem Vorzug der Objektivität und Distanz liefern sie eine Fülle der edelsten
und überraschendsten Analogien und Beziehungen zu unserer Gegenwart, so daß
man sich beinahe vor der Gefahr allzugroßer Aktualität hüten niuß. Wollte
man diese Aktualität zum Prinzip des Unterrichts erheben, so würde
man das Beste daran verderben. Das Beste daran aber ist, daß diese Er¬
kenntnisse sich im Laufe des Arbeitspensums plötzlich darbieten, daß sie sozusagen
auf neutralem Boden erobert werden und nun auf die Gegenwart übertragen
werden wollen, daß sie nicht wie so manche patriotische Zwangserziehung wirken
und somit verstimmen können, während sie doch überall zugleich das historische
Bewußtsein schärfen und ebensooft zur Bescheidenheit wie zum nationalen Stolz
erziehen.

„Schon das öde VokabelpaukenI" hört man wohl noch als Ein¬
wand. Aber der Ton macht auch hier die Musik. Ein Beispiel aus der
Praxis: schon vor einigen Jahren, als wir nicht an diesen Krieg denken
konnten, haben sich unsere Sextaner ihr kleines lateinisches „Soldaten -
duch" anlegen müssen oder „dürfen". Dieses Buch hieß offiziell nicht etwa
kalt und unpersönlich „Vokabularium" oder „Präparationsheft" oder „Phraseo¬
logie", sondern eben „Soldatenbuch". Darin lag eine starke Suggestion. Ich
versichere, daß es den Jungen ebenso lieb gewesen ist, wie die schönste Schachtel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329264"/>
          <fw type="header" place="top"> Me Feuerprobe des humanistischen Gymnasiums</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_63" prev="#ID_62"> oder nicht? Ein zweites, fast symbolisches Beispiel dafür, wie zwischen dem<lb/>
Unterricht im Deutschen bzw. der Geschichte und in der Antike die Fäden hin-<lb/>
und herlaufen, aus der Praxis der letzten Tage: wir lasen in Obertertia neben<lb/>
dem Pensum der Schillerschen antikisierenden Balladen eine patriotische, künst¬<lb/>
lerisch vollendete Festrede eines Archäologen, eines Forschers griechischer Geschichte.<lb/>
Sein Thema war: &#x201E;Moltke." Unsere Schüler wissen, daß der Verfasser Ernst<lb/>
Curtius der beste Freund Emanuel Geibels war, des deutschen Dichters also,<lb/>
den die vorige Generation als den &#x201E;Herold der deutschen Einigungskriege" mit<lb/>
den höchsten Ehren gefeiert hat. Diesen vaterländischen Dichter lernen sie bald<lb/>
darauf zugleich als den Verfasser eines &#x201E;klassischen Liederbuchs" kennen, d. h.<lb/>
feinsinnigster Übertragungen griechisch-römischer Lyrik oder von Neubearbeitungen,<lb/>
wie des schönsten Naustkaagedichtes, das wir besitzen, zu denen er sich auf einer<lb/>
Reise durch Hellas Stimmung und Farbe geholt hatte, wie einst Goethe in<lb/>
Italien, und wie jetzt wieder unsere modernen deutschen Dichter und bildenden<lb/>
Künstler &#x2014; sie alle, ohne daß sie dabei in ihrem Herzen Griechen und Römer<lb/>
oder schlechte Patrioten geworden wären.  Im Gegenteill</p><lb/>
          <p xml:id="ID_64"> Die Aufgabe des Unterrichts in den modernen Sprachen ist dringender als<lb/>
je. Aber für das rein rhetorische Pathos der französischen Tragödie fehlt jetzt<lb/>
das Interesse, für die Witze der französischen Komödie hat die Zeit kein Ohr,<lb/>
und die Memoiren französischer Generale aus der Zeit von Jena und die Ver¬<lb/>
höhnung preußischer Soldaten von 1870 werden wohl auch verschwinden müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_65"> Man vergleiche damit die Stoffe des altsprachlichen Unterrichts! Bieten<lb/>
sie wirklich, zumal jetzt, keine &#x201E;Wege zum Herzen des Schülers"? Zugleich<lb/>
mit dem Vorzug der Objektivität und Distanz liefern sie eine Fülle der edelsten<lb/>
und überraschendsten Analogien und Beziehungen zu unserer Gegenwart, so daß<lb/>
man sich beinahe vor der Gefahr allzugroßer Aktualität hüten niuß. Wollte<lb/>
man diese Aktualität zum Prinzip des Unterrichts erheben, so würde<lb/>
man das Beste daran verderben. Das Beste daran aber ist, daß diese Er¬<lb/>
kenntnisse sich im Laufe des Arbeitspensums plötzlich darbieten, daß sie sozusagen<lb/>
auf neutralem Boden erobert werden und nun auf die Gegenwart übertragen<lb/>
werden wollen, daß sie nicht wie so manche patriotische Zwangserziehung wirken<lb/>
und somit verstimmen können, während sie doch überall zugleich das historische<lb/>
Bewußtsein schärfen und ebensooft zur Bescheidenheit wie zum nationalen Stolz<lb/>
erziehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_66" next="#ID_67"> &#x201E;Schon das öde VokabelpaukenI" hört man wohl noch als Ein¬<lb/>
wand. Aber der Ton macht auch hier die Musik. Ein Beispiel aus der<lb/>
Praxis: schon vor einigen Jahren, als wir nicht an diesen Krieg denken<lb/>
konnten, haben sich unsere Sextaner ihr kleines lateinisches &#x201E;Soldaten -<lb/>
duch" anlegen müssen oder &#x201E;dürfen". Dieses Buch hieß offiziell nicht etwa<lb/>
kalt und unpersönlich &#x201E;Vokabularium" oder &#x201E;Präparationsheft" oder &#x201E;Phraseo¬<lb/>
logie", sondern eben &#x201E;Soldatenbuch". Darin lag eine starke Suggestion. Ich<lb/>
versichere, daß es den Jungen ebenso lieb gewesen ist, wie die schönste Schachtel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0036] Me Feuerprobe des humanistischen Gymnasiums oder nicht? Ein zweites, fast symbolisches Beispiel dafür, wie zwischen dem Unterricht im Deutschen bzw. der Geschichte und in der Antike die Fäden hin- und herlaufen, aus der Praxis der letzten Tage: wir lasen in Obertertia neben dem Pensum der Schillerschen antikisierenden Balladen eine patriotische, künst¬ lerisch vollendete Festrede eines Archäologen, eines Forschers griechischer Geschichte. Sein Thema war: „Moltke." Unsere Schüler wissen, daß der Verfasser Ernst Curtius der beste Freund Emanuel Geibels war, des deutschen Dichters also, den die vorige Generation als den „Herold der deutschen Einigungskriege" mit den höchsten Ehren gefeiert hat. Diesen vaterländischen Dichter lernen sie bald darauf zugleich als den Verfasser eines „klassischen Liederbuchs" kennen, d. h. feinsinnigster Übertragungen griechisch-römischer Lyrik oder von Neubearbeitungen, wie des schönsten Naustkaagedichtes, das wir besitzen, zu denen er sich auf einer Reise durch Hellas Stimmung und Farbe geholt hatte, wie einst Goethe in Italien, und wie jetzt wieder unsere modernen deutschen Dichter und bildenden Künstler — sie alle, ohne daß sie dabei in ihrem Herzen Griechen und Römer oder schlechte Patrioten geworden wären. Im Gegenteill Die Aufgabe des Unterrichts in den modernen Sprachen ist dringender als je. Aber für das rein rhetorische Pathos der französischen Tragödie fehlt jetzt das Interesse, für die Witze der französischen Komödie hat die Zeit kein Ohr, und die Memoiren französischer Generale aus der Zeit von Jena und die Ver¬ höhnung preußischer Soldaten von 1870 werden wohl auch verschwinden müssen. Man vergleiche damit die Stoffe des altsprachlichen Unterrichts! Bieten sie wirklich, zumal jetzt, keine „Wege zum Herzen des Schülers"? Zugleich mit dem Vorzug der Objektivität und Distanz liefern sie eine Fülle der edelsten und überraschendsten Analogien und Beziehungen zu unserer Gegenwart, so daß man sich beinahe vor der Gefahr allzugroßer Aktualität hüten niuß. Wollte man diese Aktualität zum Prinzip des Unterrichts erheben, so würde man das Beste daran verderben. Das Beste daran aber ist, daß diese Er¬ kenntnisse sich im Laufe des Arbeitspensums plötzlich darbieten, daß sie sozusagen auf neutralem Boden erobert werden und nun auf die Gegenwart übertragen werden wollen, daß sie nicht wie so manche patriotische Zwangserziehung wirken und somit verstimmen können, während sie doch überall zugleich das historische Bewußtsein schärfen und ebensooft zur Bescheidenheit wie zum nationalen Stolz erziehen. „Schon das öde VokabelpaukenI" hört man wohl noch als Ein¬ wand. Aber der Ton macht auch hier die Musik. Ein Beispiel aus der Praxis: schon vor einigen Jahren, als wir nicht an diesen Krieg denken konnten, haben sich unsere Sextaner ihr kleines lateinisches „Soldaten - duch" anlegen müssen oder „dürfen". Dieses Buch hieß offiziell nicht etwa kalt und unpersönlich „Vokabularium" oder „Präparationsheft" oder „Phraseo¬ logie", sondern eben „Soldatenbuch". Darin lag eine starke Suggestion. Ich versichere, daß es den Jungen ebenso lieb gewesen ist, wie die schönste Schachtel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/36
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/36>, abgerufen am 30.06.2024.