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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das belgische Problem

dahin gebracht hatten, daß sich bald kein Beamter für den Kongo mehr an¬
werben lassen wollte. Noch drastischer suchte man die Vlamen einzufangen,
die seit mehreren Jahren immer stolzer und unabhängiger ihren Kopf erhoben
hatten, aus ihrer deutschen Gesinnung kein Hehl machten und auf nichts weniger
als auf die Wiederaufrichtung eines selbständigen belgischen, rein vlämischen
Königreiches hinauswollten. Vorher, als man sich ihrer Anmaßungen und Be¬
leidigungen der befreundeten französischen Nation, wie man behauptete, garnicht
mehr zu erwehren wußte, schuf und befürwortete man eine "vlämische Bewegung
französischer Ausdrucksweise". Damit glaubte man recht jesuitisch beiden Teilen
Genugtuung verschafft zu haben; es war aber nur Öl in das Feuer der rein
vlämischen Bewegung gegossen, deren Kampfgeschrei nunmehr der Umgestaltung
der Genter Universität in eine streng vlämische Hochschule galt. Alle belgischen
Französlinge und die Pariser Presse gerieten über diese Anmaßung aus dem
Häuschen, und die Regierung schien fast einen feierlichen Eid darauf ablegen
zu wollen, daß so etwas nie geschehen würde. Da ereignete sich kurz vor
Ausbruch des Krieges folgendes: erstens wurde nach heftigem Widerstande in^
der Kammer den Vlamen zugestanden, daß die Regimenter der flandrischen
und vlämischen Provinzen auf vlämisch befehligt würden. Ferner ließ der
Ministerpräsident bei einer Tischrede sehr verständlich durchblicken, daß die Um¬
wandlung der Genter Hochschule in ein rein vlämisches Institut ein doch nicht
so glatt von der Hand zu weisender Vorschlag sei. Und drittens ließ
sich die Regierung herbei, mit der Stadt Antwerpen behufs Ausdehnung
der Hafenanlagen und der dazu notwendigen Niederlegung der nördlichen
innersten Umwallung abzuschließen, nachdem diese Stadt jahrelang darum ver¬
gebens gekämpft, die Regierung gewissenlos ihre Verpflichtungen wiederholt
nicht innegehalten und die wirtschaftliche Blüte des nationalen Hafens fast ver¬
nichtet hatte, nur weil Antwerpen eine Hochburg des Vlamentums und des
ausgesprochensten Liberalismus gewesen war. Niemand wußte damals, woher
mit einem Male all dieses fieberhafte Ausgleichen bisheriger Gegensätze
und Verneinungen. Man schrieb diese, eine gewisse Unsicherheit hervorrufende
plötzliche Nachgiebigkeit der Unfähigkeit des Ministeriums im allgemeinen und
des Kabinettschefs de Broqueville im besonderen zu, der heute nicht wußte,
was er morgen tun würde. Erst als es zu spät und Deutschlands Ultimatum
ergangen war, verstand man, daß alle diese schönen Versprechungen und Ab¬
machungen in ^ dazu dienen sollten, das ganze Belgien geeint gegen Deutsch¬
land zu wisset,, namentlich die dreieinhalb Millionen Vlamen, die Hälfte der
gesamten Bevölkerung. Der Gipfelpunkt dieser nationalen Bestechung wurde
dann damit erreicht, daß dem Könige anempfohlen wurde, die Liberalen Graf
Goblet d'Alviella und Paul Hnmans, und den Sozialisten Emile Vandervelde,
also die stärksten Köpfe der Opposition, zu Staats Ministern zu ernennen. Sie sind
zwar Minister ohne Portefeuille, dennoch kann die Krone bei allen nationalen
Angelegenheiten ihren Rat nicht entbehren. Und dank diesem letzten - Raketen-


Das belgische Problem

dahin gebracht hatten, daß sich bald kein Beamter für den Kongo mehr an¬
werben lassen wollte. Noch drastischer suchte man die Vlamen einzufangen,
die seit mehreren Jahren immer stolzer und unabhängiger ihren Kopf erhoben
hatten, aus ihrer deutschen Gesinnung kein Hehl machten und auf nichts weniger
als auf die Wiederaufrichtung eines selbständigen belgischen, rein vlämischen
Königreiches hinauswollten. Vorher, als man sich ihrer Anmaßungen und Be¬
leidigungen der befreundeten französischen Nation, wie man behauptete, garnicht
mehr zu erwehren wußte, schuf und befürwortete man eine „vlämische Bewegung
französischer Ausdrucksweise". Damit glaubte man recht jesuitisch beiden Teilen
Genugtuung verschafft zu haben; es war aber nur Öl in das Feuer der rein
vlämischen Bewegung gegossen, deren Kampfgeschrei nunmehr der Umgestaltung
der Genter Universität in eine streng vlämische Hochschule galt. Alle belgischen
Französlinge und die Pariser Presse gerieten über diese Anmaßung aus dem
Häuschen, und die Regierung schien fast einen feierlichen Eid darauf ablegen
zu wollen, daß so etwas nie geschehen würde. Da ereignete sich kurz vor
Ausbruch des Krieges folgendes: erstens wurde nach heftigem Widerstande in^
der Kammer den Vlamen zugestanden, daß die Regimenter der flandrischen
und vlämischen Provinzen auf vlämisch befehligt würden. Ferner ließ der
Ministerpräsident bei einer Tischrede sehr verständlich durchblicken, daß die Um¬
wandlung der Genter Hochschule in ein rein vlämisches Institut ein doch nicht
so glatt von der Hand zu weisender Vorschlag sei. Und drittens ließ
sich die Regierung herbei, mit der Stadt Antwerpen behufs Ausdehnung
der Hafenanlagen und der dazu notwendigen Niederlegung der nördlichen
innersten Umwallung abzuschließen, nachdem diese Stadt jahrelang darum ver¬
gebens gekämpft, die Regierung gewissenlos ihre Verpflichtungen wiederholt
nicht innegehalten und die wirtschaftliche Blüte des nationalen Hafens fast ver¬
nichtet hatte, nur weil Antwerpen eine Hochburg des Vlamentums und des
ausgesprochensten Liberalismus gewesen war. Niemand wußte damals, woher
mit einem Male all dieses fieberhafte Ausgleichen bisheriger Gegensätze
und Verneinungen. Man schrieb diese, eine gewisse Unsicherheit hervorrufende
plötzliche Nachgiebigkeit der Unfähigkeit des Ministeriums im allgemeinen und
des Kabinettschefs de Broqueville im besonderen zu, der heute nicht wußte,
was er morgen tun würde. Erst als es zu spät und Deutschlands Ultimatum
ergangen war, verstand man, daß alle diese schönen Versprechungen und Ab¬
machungen in ^ dazu dienen sollten, das ganze Belgien geeint gegen Deutsch¬
land zu wisset,, namentlich die dreieinhalb Millionen Vlamen, die Hälfte der
gesamten Bevölkerung. Der Gipfelpunkt dieser nationalen Bestechung wurde
dann damit erreicht, daß dem Könige anempfohlen wurde, die Liberalen Graf
Goblet d'Alviella und Paul Hnmans, und den Sozialisten Emile Vandervelde,
also die stärksten Köpfe der Opposition, zu Staats Ministern zu ernennen. Sie sind
zwar Minister ohne Portefeuille, dennoch kann die Krone bei allen nationalen
Angelegenheiten ihren Rat nicht entbehren. Und dank diesem letzten - Raketen-


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[0026] Das belgische Problem dahin gebracht hatten, daß sich bald kein Beamter für den Kongo mehr an¬ werben lassen wollte. Noch drastischer suchte man die Vlamen einzufangen, die seit mehreren Jahren immer stolzer und unabhängiger ihren Kopf erhoben hatten, aus ihrer deutschen Gesinnung kein Hehl machten und auf nichts weniger als auf die Wiederaufrichtung eines selbständigen belgischen, rein vlämischen Königreiches hinauswollten. Vorher, als man sich ihrer Anmaßungen und Be¬ leidigungen der befreundeten französischen Nation, wie man behauptete, garnicht mehr zu erwehren wußte, schuf und befürwortete man eine „vlämische Bewegung französischer Ausdrucksweise". Damit glaubte man recht jesuitisch beiden Teilen Genugtuung verschafft zu haben; es war aber nur Öl in das Feuer der rein vlämischen Bewegung gegossen, deren Kampfgeschrei nunmehr der Umgestaltung der Genter Universität in eine streng vlämische Hochschule galt. Alle belgischen Französlinge und die Pariser Presse gerieten über diese Anmaßung aus dem Häuschen, und die Regierung schien fast einen feierlichen Eid darauf ablegen zu wollen, daß so etwas nie geschehen würde. Da ereignete sich kurz vor Ausbruch des Krieges folgendes: erstens wurde nach heftigem Widerstande in^ der Kammer den Vlamen zugestanden, daß die Regimenter der flandrischen und vlämischen Provinzen auf vlämisch befehligt würden. Ferner ließ der Ministerpräsident bei einer Tischrede sehr verständlich durchblicken, daß die Um¬ wandlung der Genter Hochschule in ein rein vlämisches Institut ein doch nicht so glatt von der Hand zu weisender Vorschlag sei. Und drittens ließ sich die Regierung herbei, mit der Stadt Antwerpen behufs Ausdehnung der Hafenanlagen und der dazu notwendigen Niederlegung der nördlichen innersten Umwallung abzuschließen, nachdem diese Stadt jahrelang darum ver¬ gebens gekämpft, die Regierung gewissenlos ihre Verpflichtungen wiederholt nicht innegehalten und die wirtschaftliche Blüte des nationalen Hafens fast ver¬ nichtet hatte, nur weil Antwerpen eine Hochburg des Vlamentums und des ausgesprochensten Liberalismus gewesen war. Niemand wußte damals, woher mit einem Male all dieses fieberhafte Ausgleichen bisheriger Gegensätze und Verneinungen. Man schrieb diese, eine gewisse Unsicherheit hervorrufende plötzliche Nachgiebigkeit der Unfähigkeit des Ministeriums im allgemeinen und des Kabinettschefs de Broqueville im besonderen zu, der heute nicht wußte, was er morgen tun würde. Erst als es zu spät und Deutschlands Ultimatum ergangen war, verstand man, daß alle diese schönen Versprechungen und Ab¬ machungen in ^ dazu dienen sollten, das ganze Belgien geeint gegen Deutsch¬ land zu wisset,, namentlich die dreieinhalb Millionen Vlamen, die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Der Gipfelpunkt dieser nationalen Bestechung wurde dann damit erreicht, daß dem Könige anempfohlen wurde, die Liberalen Graf Goblet d'Alviella und Paul Hnmans, und den Sozialisten Emile Vandervelde, also die stärksten Köpfe der Opposition, zu Staats Ministern zu ernennen. Sie sind zwar Minister ohne Portefeuille, dennoch kann die Krone bei allen nationalen Angelegenheiten ihren Rat nicht entbehren. Und dank diesem letzten - Raketen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/26>, abgerufen am 30.06.2024.