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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Aulturproblem

Kampf ums Gesetz hervor, gab es Beispiele deutscher "Treue"? Nichts von
alledem. "Unsere Erde ist ertragreich, das Volk fruchtbar und groß, aber da
ist niemand, der unter uns Ordnung macht oder Gesetze. Seid ihr unsere
Herrscher." So ungefähr sprechen die Russen in der sogenannten Chronik des
Nestor, indem sie die germanischen Normannen herbeirufen. Und Rastislaw
schickt ungefähr dieselbe Botschaft nach Byzanz, damit es dem Volk eine Kirche
gebe. Germanen richteten den Slawen ihre Staaten ein, Griechen und Römer
ihre Kirchen. Der Slawe ist die Schöpfung des radikalsten Individualismus
und deshalb hat es keine organisatorischen Formen erdacht, weder staatliche noch
kirchliche. Er ist sogar gleichgültig gegen sie. Er ist ein Gewächs der Steppe,
der unabsehbaren Niederung. Das Gebirge aber ist der Schöpfer hoher
Menschen und fester Charaktere, des Systems; in der sarmatischen Niederung
wird der wohlschmeckende flache slawische Kuchen gemischt, der ein breites Gesicht
hat ohne Profil. Recht und Pflicht haben dieses Geschlecht immer kalt gelassen.
Aber an ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit (nicht von Recht) zu rühren, an
ihre persönliche Ehre, an ihr Gewissen zu greifen, hatte immer verhängnisvolle
Folgen. Persönlicher Gerechtigkeit halber verließ der Slawe Staat und Kirche,
stand gegen sie auf und warf sich in endlose Kämpfe. Die großen Glaubens¬
bewegungen in der Geschichte der slawischen Völker bezeugen das. Die Bogu-
milen hatten nur ein Gebot: sei gut. Der Bogumilismus war in seinem
Keime antistaatlich und antikirchlich. Das heißt nicht, daß er gegen Staat und
Kirche arbeitete, aber er wollte an ihnen vorbei leben, ohne Rücksicht auf sie,
jeder Verbindung des Gewissens mit diesen Organisationen wich er aus. Der
Bogumilismus war für das slawische Gefühl etwas so Heiliges und Großes,
daß vor ihm jedes andere Mittel erblaßte. Ein Glaube ohne Dogma und Regel,
ein Glaube der Spontaneität und persönlichen Vollkommenheit meldet sich
zum zweitenmal im Hussitentum. Die mittelalterliche tschechische "Reformation"
ist in Wahrheit gar keine Reformation. Huß hat keine neue Kirche formiert, also
auch die alte nicht reformiert, er blieb in der Seele dem Katholizismus ergeben,
weil er nicht seine Einrichtungen, sondern die Menschen in ihm ändern wollte.
Das vermochte er durch keinerlei Lehre zu erreichen, durch keinerlei Wissen,
sondern allein durch persönliches Beispiel. Und deshalb brachte er sich zum
Opfer dar. Im Ersteigen des Scheiterhaufens liegt seine ganze "Lehre".
Was er schrieb, gehört fast alles Wicliff an, aber was er erlebte und wollte
ist in Ewigkeit sein. Das ist die Religion der Erlösung, der Aufopferung.
Was für Grundsätze folgen daraus für die Gesellschaft, was für Gesetze für
den Staat? Die Religion des Opfers wird nicht im Staat und nicht in der
Kirche ausgeübt, sondern einzig in der eigenen Person. Niemand kann diese
Religion erhalten, sie zur allgemein anerkannten machen. Als das tschechische
Volk sich zur Nachfolge Hus' entschloß, konnte es zu nichts anderem kommen als
zum Weißen Berge, auf seinen Scheiterhaufen. Am Weißen Berge endet die Tragödie
des Hussitentums. Damit ist der Sinn der "tschechischen" Reformation erschöpft.


Das slawische Aulturproblem

Kampf ums Gesetz hervor, gab es Beispiele deutscher „Treue"? Nichts von
alledem. „Unsere Erde ist ertragreich, das Volk fruchtbar und groß, aber da
ist niemand, der unter uns Ordnung macht oder Gesetze. Seid ihr unsere
Herrscher." So ungefähr sprechen die Russen in der sogenannten Chronik des
Nestor, indem sie die germanischen Normannen herbeirufen. Und Rastislaw
schickt ungefähr dieselbe Botschaft nach Byzanz, damit es dem Volk eine Kirche
gebe. Germanen richteten den Slawen ihre Staaten ein, Griechen und Römer
ihre Kirchen. Der Slawe ist die Schöpfung des radikalsten Individualismus
und deshalb hat es keine organisatorischen Formen erdacht, weder staatliche noch
kirchliche. Er ist sogar gleichgültig gegen sie. Er ist ein Gewächs der Steppe,
der unabsehbaren Niederung. Das Gebirge aber ist der Schöpfer hoher
Menschen und fester Charaktere, des Systems; in der sarmatischen Niederung
wird der wohlschmeckende flache slawische Kuchen gemischt, der ein breites Gesicht
hat ohne Profil. Recht und Pflicht haben dieses Geschlecht immer kalt gelassen.
Aber an ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit (nicht von Recht) zu rühren, an
ihre persönliche Ehre, an ihr Gewissen zu greifen, hatte immer verhängnisvolle
Folgen. Persönlicher Gerechtigkeit halber verließ der Slawe Staat und Kirche,
stand gegen sie auf und warf sich in endlose Kämpfe. Die großen Glaubens¬
bewegungen in der Geschichte der slawischen Völker bezeugen das. Die Bogu-
milen hatten nur ein Gebot: sei gut. Der Bogumilismus war in seinem
Keime antistaatlich und antikirchlich. Das heißt nicht, daß er gegen Staat und
Kirche arbeitete, aber er wollte an ihnen vorbei leben, ohne Rücksicht auf sie,
jeder Verbindung des Gewissens mit diesen Organisationen wich er aus. Der
Bogumilismus war für das slawische Gefühl etwas so Heiliges und Großes,
daß vor ihm jedes andere Mittel erblaßte. Ein Glaube ohne Dogma und Regel,
ein Glaube der Spontaneität und persönlichen Vollkommenheit meldet sich
zum zweitenmal im Hussitentum. Die mittelalterliche tschechische „Reformation"
ist in Wahrheit gar keine Reformation. Huß hat keine neue Kirche formiert, also
auch die alte nicht reformiert, er blieb in der Seele dem Katholizismus ergeben,
weil er nicht seine Einrichtungen, sondern die Menschen in ihm ändern wollte.
Das vermochte er durch keinerlei Lehre zu erreichen, durch keinerlei Wissen,
sondern allein durch persönliches Beispiel. Und deshalb brachte er sich zum
Opfer dar. Im Ersteigen des Scheiterhaufens liegt seine ganze „Lehre".
Was er schrieb, gehört fast alles Wicliff an, aber was er erlebte und wollte
ist in Ewigkeit sein. Das ist die Religion der Erlösung, der Aufopferung.
Was für Grundsätze folgen daraus für die Gesellschaft, was für Gesetze für
den Staat? Die Religion des Opfers wird nicht im Staat und nicht in der
Kirche ausgeübt, sondern einzig in der eigenen Person. Niemand kann diese
Religion erhalten, sie zur allgemein anerkannten machen. Als das tschechische
Volk sich zur Nachfolge Hus' entschloß, konnte es zu nichts anderem kommen als
zum Weißen Berge, auf seinen Scheiterhaufen. Am Weißen Berge endet die Tragödie
des Hussitentums. Damit ist der Sinn der „tschechischen" Reformation erschöpft.


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[0258] Das slawische Aulturproblem Kampf ums Gesetz hervor, gab es Beispiele deutscher „Treue"? Nichts von alledem. „Unsere Erde ist ertragreich, das Volk fruchtbar und groß, aber da ist niemand, der unter uns Ordnung macht oder Gesetze. Seid ihr unsere Herrscher." So ungefähr sprechen die Russen in der sogenannten Chronik des Nestor, indem sie die germanischen Normannen herbeirufen. Und Rastislaw schickt ungefähr dieselbe Botschaft nach Byzanz, damit es dem Volk eine Kirche gebe. Germanen richteten den Slawen ihre Staaten ein, Griechen und Römer ihre Kirchen. Der Slawe ist die Schöpfung des radikalsten Individualismus und deshalb hat es keine organisatorischen Formen erdacht, weder staatliche noch kirchliche. Er ist sogar gleichgültig gegen sie. Er ist ein Gewächs der Steppe, der unabsehbaren Niederung. Das Gebirge aber ist der Schöpfer hoher Menschen und fester Charaktere, des Systems; in der sarmatischen Niederung wird der wohlschmeckende flache slawische Kuchen gemischt, der ein breites Gesicht hat ohne Profil. Recht und Pflicht haben dieses Geschlecht immer kalt gelassen. Aber an ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit (nicht von Recht) zu rühren, an ihre persönliche Ehre, an ihr Gewissen zu greifen, hatte immer verhängnisvolle Folgen. Persönlicher Gerechtigkeit halber verließ der Slawe Staat und Kirche, stand gegen sie auf und warf sich in endlose Kämpfe. Die großen Glaubens¬ bewegungen in der Geschichte der slawischen Völker bezeugen das. Die Bogu- milen hatten nur ein Gebot: sei gut. Der Bogumilismus war in seinem Keime antistaatlich und antikirchlich. Das heißt nicht, daß er gegen Staat und Kirche arbeitete, aber er wollte an ihnen vorbei leben, ohne Rücksicht auf sie, jeder Verbindung des Gewissens mit diesen Organisationen wich er aus. Der Bogumilismus war für das slawische Gefühl etwas so Heiliges und Großes, daß vor ihm jedes andere Mittel erblaßte. Ein Glaube ohne Dogma und Regel, ein Glaube der Spontaneität und persönlichen Vollkommenheit meldet sich zum zweitenmal im Hussitentum. Die mittelalterliche tschechische „Reformation" ist in Wahrheit gar keine Reformation. Huß hat keine neue Kirche formiert, also auch die alte nicht reformiert, er blieb in der Seele dem Katholizismus ergeben, weil er nicht seine Einrichtungen, sondern die Menschen in ihm ändern wollte. Das vermochte er durch keinerlei Lehre zu erreichen, durch keinerlei Wissen, sondern allein durch persönliches Beispiel. Und deshalb brachte er sich zum Opfer dar. Im Ersteigen des Scheiterhaufens liegt seine ganze „Lehre". Was er schrieb, gehört fast alles Wicliff an, aber was er erlebte und wollte ist in Ewigkeit sein. Das ist die Religion der Erlösung, der Aufopferung. Was für Grundsätze folgen daraus für die Gesellschaft, was für Gesetze für den Staat? Die Religion des Opfers wird nicht im Staat und nicht in der Kirche ausgeübt, sondern einzig in der eigenen Person. Niemand kann diese Religion erhalten, sie zur allgemein anerkannten machen. Als das tschechische Volk sich zur Nachfolge Hus' entschloß, konnte es zu nichts anderem kommen als zum Weißen Berge, auf seinen Scheiterhaufen. Am Weißen Berge endet die Tragödie des Hussitentums. Damit ist der Sinn der „tschechischen" Reformation erschöpft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/258>, abgerufen am 04.07.2024.