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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Aulturproblem

Bei den Tschechen beginnt sich die Tragödie des Gewissens in dem Augen-
blick zu entwickeln, als die Tschechen fallen. Die Polen bekannten sich zu dem
Prinzip des persönlichen Willens im Staat. Das persönliche Veto hält man
für den Totengräber der polnischen Republik. Nach dem Verfall des Staates
meldet sich das persönliche Prinzip in der sozialen Arbeit der Polen. Der
Pole gründet seine politische Wiedergeburt auf die Wiedergeburt des Gewissens.
Mickiewicz zeigt seinem Volke den "Kreuzweg", die Aufgabe der Aufopferung.
Das ist der Sinn des polnischen Messianismus -- Towianskis, die Grundidee
der Ungöttlichen Komödie Krasinskis und das Geheimnis in Slowackis "König
Geist". Das Geheimnis liegt in der persönlichen Erneuerung. Alle polnischen
Herren sind Menschen "Ohne Dogma" (Sienkiewicz). Ohne Dogma bedeutet
ohne legalisiertes "Recht", ohne gesellschaftliche Verpflichtungen.

Doch wenden wir uns zur Gegenwart -- zu Rußland. Hier liegt die
Lösung unseres Problems. Rußland ist diese Lösung. In ihm entwickelt sich
jener selbe Prozeß des Kampfes zwischen Persönlichkeit und Staat, Persönlichkeit
und Kirche, welcher für die südslawischen Völker, für die Tschechen und die
Polen verhängnisvoll war. Wird Rußland diesen Kampf anders durchführen
als wir westliche und südliche Slawen? Das heißt, wird er auch Rußland die
staatliche Selbständigkeit kosten, wird er es ebenfalls brechen oder wird er es
erheben, erhöhen? -- Eins ist schon heute klar. Dieser Kampf wird uns ein¬
ander nähern. Solange das russische Volk mit seinem Gewissen nicht abrechnet,
solange wird es nicht nur vom übrigen Slawentum, sondern auch von Europa
getrennt bleiben. Rußland ist heute nur der staatlichen und kirchlichen Ein¬
richtung nach, also äußerlich und halb europäisiert, seine Intelligenz aber will
es von innen aus kultivieren. Deshalb ruft die russische Intelligenz einen
Kampf mit diesem Staat und dieser Kirche hervor. Und diese Intelligenz ist
derart, daß sie denselben Kampf auch gegen jede europäische staatliche und
kirchliche Organisation führen würde. Das ist es, woran man gewöhnlich
im Westen nicht denkt. Der Deutsche oder Franzose glaubt, der russische
Vertreter der Intelligenz suche dasselbe, was der westliche schon erreicht hat.
Er schätzt die slawische Kultur nur in dem Maße, inwiefern sie sich westlichen
Formen und Grundsätzen nähert und sieht nicht, daß die Häupter des russischen
Geistes Dostojewski, Solowjew, Tolstoi diesen Maßstab durchaus nicht anerkennen,
da sie eigene Wege suchen. In gleicher Weise aus demselben Gefühl heraus
suchen Tausende und Millionen russischer Sektierer und Duhoborzen etwas
neben dem Europäertum. Diesem Nußland gegenüber verhält sich auch der
vorsichtigste Europäer leichtsinnig, wenn er es an seiner Kultur zu messen
unternimmmt. Ein französischer Kritiker (Henri Bidoux) hielt vor nicht
langer Zeit in Petersburg einen Vortrag über den Einfluß der russischen
Literatur auf die französischen Schriftsteller. Er sagte: "Das Leiden,
das von den russischen Schriftstellern besungen wird, verwandelt sich in den
französischen Autoren in Stoizismus, denn der Lateiner ist zu stolz, um zu


Das slawische Aulturproblem

Bei den Tschechen beginnt sich die Tragödie des Gewissens in dem Augen-
blick zu entwickeln, als die Tschechen fallen. Die Polen bekannten sich zu dem
Prinzip des persönlichen Willens im Staat. Das persönliche Veto hält man
für den Totengräber der polnischen Republik. Nach dem Verfall des Staates
meldet sich das persönliche Prinzip in der sozialen Arbeit der Polen. Der
Pole gründet seine politische Wiedergeburt auf die Wiedergeburt des Gewissens.
Mickiewicz zeigt seinem Volke den „Kreuzweg", die Aufgabe der Aufopferung.
Das ist der Sinn des polnischen Messianismus — Towianskis, die Grundidee
der Ungöttlichen Komödie Krasinskis und das Geheimnis in Slowackis „König
Geist". Das Geheimnis liegt in der persönlichen Erneuerung. Alle polnischen
Herren sind Menschen „Ohne Dogma" (Sienkiewicz). Ohne Dogma bedeutet
ohne legalisiertes „Recht", ohne gesellschaftliche Verpflichtungen.

Doch wenden wir uns zur Gegenwart — zu Rußland. Hier liegt die
Lösung unseres Problems. Rußland ist diese Lösung. In ihm entwickelt sich
jener selbe Prozeß des Kampfes zwischen Persönlichkeit und Staat, Persönlichkeit
und Kirche, welcher für die südslawischen Völker, für die Tschechen und die
Polen verhängnisvoll war. Wird Rußland diesen Kampf anders durchführen
als wir westliche und südliche Slawen? Das heißt, wird er auch Rußland die
staatliche Selbständigkeit kosten, wird er es ebenfalls brechen oder wird er es
erheben, erhöhen? — Eins ist schon heute klar. Dieser Kampf wird uns ein¬
ander nähern. Solange das russische Volk mit seinem Gewissen nicht abrechnet,
solange wird es nicht nur vom übrigen Slawentum, sondern auch von Europa
getrennt bleiben. Rußland ist heute nur der staatlichen und kirchlichen Ein¬
richtung nach, also äußerlich und halb europäisiert, seine Intelligenz aber will
es von innen aus kultivieren. Deshalb ruft die russische Intelligenz einen
Kampf mit diesem Staat und dieser Kirche hervor. Und diese Intelligenz ist
derart, daß sie denselben Kampf auch gegen jede europäische staatliche und
kirchliche Organisation führen würde. Das ist es, woran man gewöhnlich
im Westen nicht denkt. Der Deutsche oder Franzose glaubt, der russische
Vertreter der Intelligenz suche dasselbe, was der westliche schon erreicht hat.
Er schätzt die slawische Kultur nur in dem Maße, inwiefern sie sich westlichen
Formen und Grundsätzen nähert und sieht nicht, daß die Häupter des russischen
Geistes Dostojewski, Solowjew, Tolstoi diesen Maßstab durchaus nicht anerkennen,
da sie eigene Wege suchen. In gleicher Weise aus demselben Gefühl heraus
suchen Tausende und Millionen russischer Sektierer und Duhoborzen etwas
neben dem Europäertum. Diesem Nußland gegenüber verhält sich auch der
vorsichtigste Europäer leichtsinnig, wenn er es an seiner Kultur zu messen
unternimmmt. Ein französischer Kritiker (Henri Bidoux) hielt vor nicht
langer Zeit in Petersburg einen Vortrag über den Einfluß der russischen
Literatur auf die französischen Schriftsteller. Er sagte: „Das Leiden,
das von den russischen Schriftstellern besungen wird, verwandelt sich in den
französischen Autoren in Stoizismus, denn der Lateiner ist zu stolz, um zu


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[0259] Das slawische Aulturproblem Bei den Tschechen beginnt sich die Tragödie des Gewissens in dem Augen- blick zu entwickeln, als die Tschechen fallen. Die Polen bekannten sich zu dem Prinzip des persönlichen Willens im Staat. Das persönliche Veto hält man für den Totengräber der polnischen Republik. Nach dem Verfall des Staates meldet sich das persönliche Prinzip in der sozialen Arbeit der Polen. Der Pole gründet seine politische Wiedergeburt auf die Wiedergeburt des Gewissens. Mickiewicz zeigt seinem Volke den „Kreuzweg", die Aufgabe der Aufopferung. Das ist der Sinn des polnischen Messianismus — Towianskis, die Grundidee der Ungöttlichen Komödie Krasinskis und das Geheimnis in Slowackis „König Geist". Das Geheimnis liegt in der persönlichen Erneuerung. Alle polnischen Herren sind Menschen „Ohne Dogma" (Sienkiewicz). Ohne Dogma bedeutet ohne legalisiertes „Recht", ohne gesellschaftliche Verpflichtungen. Doch wenden wir uns zur Gegenwart — zu Rußland. Hier liegt die Lösung unseres Problems. Rußland ist diese Lösung. In ihm entwickelt sich jener selbe Prozeß des Kampfes zwischen Persönlichkeit und Staat, Persönlichkeit und Kirche, welcher für die südslawischen Völker, für die Tschechen und die Polen verhängnisvoll war. Wird Rußland diesen Kampf anders durchführen als wir westliche und südliche Slawen? Das heißt, wird er auch Rußland die staatliche Selbständigkeit kosten, wird er es ebenfalls brechen oder wird er es erheben, erhöhen? — Eins ist schon heute klar. Dieser Kampf wird uns ein¬ ander nähern. Solange das russische Volk mit seinem Gewissen nicht abrechnet, solange wird es nicht nur vom übrigen Slawentum, sondern auch von Europa getrennt bleiben. Rußland ist heute nur der staatlichen und kirchlichen Ein¬ richtung nach, also äußerlich und halb europäisiert, seine Intelligenz aber will es von innen aus kultivieren. Deshalb ruft die russische Intelligenz einen Kampf mit diesem Staat und dieser Kirche hervor. Und diese Intelligenz ist derart, daß sie denselben Kampf auch gegen jede europäische staatliche und kirchliche Organisation führen würde. Das ist es, woran man gewöhnlich im Westen nicht denkt. Der Deutsche oder Franzose glaubt, der russische Vertreter der Intelligenz suche dasselbe, was der westliche schon erreicht hat. Er schätzt die slawische Kultur nur in dem Maße, inwiefern sie sich westlichen Formen und Grundsätzen nähert und sieht nicht, daß die Häupter des russischen Geistes Dostojewski, Solowjew, Tolstoi diesen Maßstab durchaus nicht anerkennen, da sie eigene Wege suchen. In gleicher Weise aus demselben Gefühl heraus suchen Tausende und Millionen russischer Sektierer und Duhoborzen etwas neben dem Europäertum. Diesem Nußland gegenüber verhält sich auch der vorsichtigste Europäer leichtsinnig, wenn er es an seiner Kultur zu messen unternimmmt. Ein französischer Kritiker (Henri Bidoux) hielt vor nicht langer Zeit in Petersburg einen Vortrag über den Einfluß der russischen Literatur auf die französischen Schriftsteller. Er sagte: „Das Leiden, das von den russischen Schriftstellern besungen wird, verwandelt sich in den französischen Autoren in Stoizismus, denn der Lateiner ist zu stolz, um zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/259>, abgerufen am 04.07.2024.