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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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des Gefühls des Rechtes das Pflichtgefühl. Der Deutsche fühlt sich durch
Rücksichten auf seine Mitbürger gebunden, sei es, daß er über sie herrscht, sei
es. daß er ihnen gehorcht. Hier leben die einen um der andern willen. Herder
hat sür dieses Gefühl einen philosophischen Ausdruck gefunden, indem er es
Humanität nannte, und Humanität betrachtete er als den Sinn nicht nur der
deutschen, sondern jeder Geschichte. Die Völker treten deshalb in die Geschichte
ein, weil sie ihr etwas, nur ihnen Eigenes zu geben haben und wenn sie ihre
Aufgabe, ihre Pflicht gegen die Menschheit erfüllt haben, verschwinden sie. Und
worauf läuft Goethes Philosophie im Faust hinaus, wenn nicht auf dasselbe?
Nachdem er alle Epochen des Lebens und der Kulturen durchlaufen hat, endet
er damit, ein Wohltäter des Volkes zu werden. Für andere zu leben und für
sie zu arbeiten ist ihm "der Weisheit letzter Schluß".

Nietzsche formulierte diese Wahrheit schärfer und führte die deutsche
Humanität zu ihren letzten Folgerungen. Aus dem Menschen leitete er den
Übermenschen ab. Der neue Mensch Nietzsches hat sechs Sinne -- außer
Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn hat er noch -- den historischen
Sinn. Solch ein Mensch lebt mit dem Geiste der Vergangenheit ebenso persönlich
und lebendig wie mit dem der Gegenwart. In ihm ist durch Vererbung alles
Menschliche aufgehäuft und potenziert. Herder hat die Idee der Menschheit
durch die Völker hindurchgeführt und ihr als Lohn "den Kranz der Humanität"
versprochen. Goethe führt Faust zum selben Ziel, und Nietzsche nimmt diesen
Kranz und setzt ihn seinem Übermenschen aufs Haupt. Nietzsche haßt die Gleich¬
berechtigung, das Recht, den Sozialismus, die Demokratie, er ist ein Gegner
der Gesellschaftsmoral. Asozial und amoralisch ist er deshalb, weil in ihn alle
Zeitalter und alle Kulturen übergingen. Was Proudhon das Eigentum, ist
für Nietzsche das Erbe und was ersterer Recht nennt, ist für letzteren Lüge.
Herder sammelt alle Kulturen in eine gemeinsame Schatzkasse, Rousseau hingegen
erklärt jede Kultur für nichtig, indem er sich dem unkultivierten Naturzustand
als dem höhermenschlichen zuwendet. Das heutige Deutschland ist ein Gefüge
feudaler historischer Beziehungen, das heutige Frankreich ein demolierter und
wieder erneuter Kontrakt. Deutschland mit seinen großen und kleinen Fürsten
und Königen und mit dem Kaiser an der Spitze ist ein verwirklichter Traum
Herders, Goethes und Nietzsches, und Frankreich mit seinem Kaleidoskop von
Parteien und Ministerien, von Syndikaten -- ist nichts anderes als ein Organismus,
dessen Ganzheit einzig das Gefühl des Rechtes beschützt. Der deutsche Im¬
perialismus hat seine Grundlage im deutschen Kulturideal der Humanität.
Durch den Imperialismus läßt sich die militärische Organisation Deutschlands
erklären, aber sie ist nur ein Teil des deutschen Geistes, der auch ohne Gewalt
und Waffen erobert und organisiert.

Blicken wir jetzt in die sarmatische Niederung, um zu sehen, wie dort die
Leute ihr Leben einrichteten. Ist hier das Leben auf Recht gegründet, gründet
es sich auf Verpflichtungen, trat je in der Geschichte der slawischen Völker ein


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des Gefühls des Rechtes das Pflichtgefühl. Der Deutsche fühlt sich durch
Rücksichten auf seine Mitbürger gebunden, sei es, daß er über sie herrscht, sei
es. daß er ihnen gehorcht. Hier leben die einen um der andern willen. Herder
hat sür dieses Gefühl einen philosophischen Ausdruck gefunden, indem er es
Humanität nannte, und Humanität betrachtete er als den Sinn nicht nur der
deutschen, sondern jeder Geschichte. Die Völker treten deshalb in die Geschichte
ein, weil sie ihr etwas, nur ihnen Eigenes zu geben haben und wenn sie ihre
Aufgabe, ihre Pflicht gegen die Menschheit erfüllt haben, verschwinden sie. Und
worauf läuft Goethes Philosophie im Faust hinaus, wenn nicht auf dasselbe?
Nachdem er alle Epochen des Lebens und der Kulturen durchlaufen hat, endet
er damit, ein Wohltäter des Volkes zu werden. Für andere zu leben und für
sie zu arbeiten ist ihm „der Weisheit letzter Schluß".

Nietzsche formulierte diese Wahrheit schärfer und führte die deutsche
Humanität zu ihren letzten Folgerungen. Aus dem Menschen leitete er den
Übermenschen ab. Der neue Mensch Nietzsches hat sechs Sinne — außer
Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn hat er noch — den historischen
Sinn. Solch ein Mensch lebt mit dem Geiste der Vergangenheit ebenso persönlich
und lebendig wie mit dem der Gegenwart. In ihm ist durch Vererbung alles
Menschliche aufgehäuft und potenziert. Herder hat die Idee der Menschheit
durch die Völker hindurchgeführt und ihr als Lohn „den Kranz der Humanität"
versprochen. Goethe führt Faust zum selben Ziel, und Nietzsche nimmt diesen
Kranz und setzt ihn seinem Übermenschen aufs Haupt. Nietzsche haßt die Gleich¬
berechtigung, das Recht, den Sozialismus, die Demokratie, er ist ein Gegner
der Gesellschaftsmoral. Asozial und amoralisch ist er deshalb, weil in ihn alle
Zeitalter und alle Kulturen übergingen. Was Proudhon das Eigentum, ist
für Nietzsche das Erbe und was ersterer Recht nennt, ist für letzteren Lüge.
Herder sammelt alle Kulturen in eine gemeinsame Schatzkasse, Rousseau hingegen
erklärt jede Kultur für nichtig, indem er sich dem unkultivierten Naturzustand
als dem höhermenschlichen zuwendet. Das heutige Deutschland ist ein Gefüge
feudaler historischer Beziehungen, das heutige Frankreich ein demolierter und
wieder erneuter Kontrakt. Deutschland mit seinen großen und kleinen Fürsten
und Königen und mit dem Kaiser an der Spitze ist ein verwirklichter Traum
Herders, Goethes und Nietzsches, und Frankreich mit seinem Kaleidoskop von
Parteien und Ministerien, von Syndikaten — ist nichts anderes als ein Organismus,
dessen Ganzheit einzig das Gefühl des Rechtes beschützt. Der deutsche Im¬
perialismus hat seine Grundlage im deutschen Kulturideal der Humanität.
Durch den Imperialismus läßt sich die militärische Organisation Deutschlands
erklären, aber sie ist nur ein Teil des deutschen Geistes, der auch ohne Gewalt
und Waffen erobert und organisiert.

Blicken wir jetzt in die sarmatische Niederung, um zu sehen, wie dort die
Leute ihr Leben einrichteten. Ist hier das Leben auf Recht gegründet, gründet
es sich auf Verpflichtungen, trat je in der Geschichte der slawischen Völker ein


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[0257] Hals slawische Rnlturproblcm des Gefühls des Rechtes das Pflichtgefühl. Der Deutsche fühlt sich durch Rücksichten auf seine Mitbürger gebunden, sei es, daß er über sie herrscht, sei es. daß er ihnen gehorcht. Hier leben die einen um der andern willen. Herder hat sür dieses Gefühl einen philosophischen Ausdruck gefunden, indem er es Humanität nannte, und Humanität betrachtete er als den Sinn nicht nur der deutschen, sondern jeder Geschichte. Die Völker treten deshalb in die Geschichte ein, weil sie ihr etwas, nur ihnen Eigenes zu geben haben und wenn sie ihre Aufgabe, ihre Pflicht gegen die Menschheit erfüllt haben, verschwinden sie. Und worauf läuft Goethes Philosophie im Faust hinaus, wenn nicht auf dasselbe? Nachdem er alle Epochen des Lebens und der Kulturen durchlaufen hat, endet er damit, ein Wohltäter des Volkes zu werden. Für andere zu leben und für sie zu arbeiten ist ihm „der Weisheit letzter Schluß". Nietzsche formulierte diese Wahrheit schärfer und führte die deutsche Humanität zu ihren letzten Folgerungen. Aus dem Menschen leitete er den Übermenschen ab. Der neue Mensch Nietzsches hat sechs Sinne — außer Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn hat er noch — den historischen Sinn. Solch ein Mensch lebt mit dem Geiste der Vergangenheit ebenso persönlich und lebendig wie mit dem der Gegenwart. In ihm ist durch Vererbung alles Menschliche aufgehäuft und potenziert. Herder hat die Idee der Menschheit durch die Völker hindurchgeführt und ihr als Lohn „den Kranz der Humanität" versprochen. Goethe führt Faust zum selben Ziel, und Nietzsche nimmt diesen Kranz und setzt ihn seinem Übermenschen aufs Haupt. Nietzsche haßt die Gleich¬ berechtigung, das Recht, den Sozialismus, die Demokratie, er ist ein Gegner der Gesellschaftsmoral. Asozial und amoralisch ist er deshalb, weil in ihn alle Zeitalter und alle Kulturen übergingen. Was Proudhon das Eigentum, ist für Nietzsche das Erbe und was ersterer Recht nennt, ist für letzteren Lüge. Herder sammelt alle Kulturen in eine gemeinsame Schatzkasse, Rousseau hingegen erklärt jede Kultur für nichtig, indem er sich dem unkultivierten Naturzustand als dem höhermenschlichen zuwendet. Das heutige Deutschland ist ein Gefüge feudaler historischer Beziehungen, das heutige Frankreich ein demolierter und wieder erneuter Kontrakt. Deutschland mit seinen großen und kleinen Fürsten und Königen und mit dem Kaiser an der Spitze ist ein verwirklichter Traum Herders, Goethes und Nietzsches, und Frankreich mit seinem Kaleidoskop von Parteien und Ministerien, von Syndikaten — ist nichts anderes als ein Organismus, dessen Ganzheit einzig das Gefühl des Rechtes beschützt. Der deutsche Im¬ perialismus hat seine Grundlage im deutschen Kulturideal der Humanität. Durch den Imperialismus läßt sich die militärische Organisation Deutschlands erklären, aber sie ist nur ein Teil des deutschen Geistes, der auch ohne Gewalt und Waffen erobert und organisiert. Blicken wir jetzt in die sarmatische Niederung, um zu sehen, wie dort die Leute ihr Leben einrichteten. Ist hier das Leben auf Recht gegründet, gründet es sich auf Verpflichtungen, trat je in der Geschichte der slawischen Völker ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/257>, abgerufen am 02.07.2024.