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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Rnlturproblcm

man auch fremdes, ja jederlei Wissen. Das Wissen ist eine statische, mechanische
Sache, die Weisheit aber ist eine dynamische, schaffende Kraft. Söhnen von
Arbeitern ist es möglich zu wissen, was die Söhne von Intelligenten wissen.
Aber die ganze Rhythmik des Lebens, das Begreifen der Pflicht, der Ver¬
antwortlichkeit, der Liebe, der Gnade wird jeder mehr nach seinen oder seiner
Vorfahren Erlebnissen, als nach seinem Wissen gestalten.

Und gerade deshalb kann man auch die Kultur nicht generalisierend aus
Individuen übertragen, die unter den Einflüssen verschiedener Tradition und
Umgebung heranwachsen. Zwei Völker mit verschiedener Vergangenheit können
sich nicht leicht als ein Kulturganzes auffassen. Das gilt nicht nur für die
Slawen, sondern für die. europäischen Völker im allgemeinen. Den slawischen
Völkern stehen mehrere europäische Völker mit ziemlich starken Kulturunterschieden
gegenüber. Zwei Kulturtypen haben besonders die Slawen verwirrend beeinflußt:
der französische und der deutsche Typus. Trennen wir das Wissen von der
Weisheit, fragen wir, wie Franzosen und Deutsche sich das Leben geordnet
haben, wenigstens dem gröbsten, dem Problem der Klassenrechte nach.

Auf einem Pariser Boulevard sah ich folgende Szene. Zur Mittagszeit,
wenn der Menschenstrom, der von der Arbeit kommt, sich auf die Straßen
ergießt, setzte sich ein Weib aufs Pflaster, um aus einem Topf ihre Bohnen
zu essen. Ein Wachmann trat zu ihr und war natürlich sofort von einer
Menge umringt. Das Weib sagte: "Ich gehe nicht fort von hier, ich bin
Bürgerin. Es ist mein Recht, hier zu sitzen." Der Wachmann antwortete:
"Aber hier haben Sie es unbequem." Das Publikum mischte sich in das
Gespräch: "Lassen Sie sie! Sie hat recht." Und die Menge strömte an der
eigensinnigen Bürgerin vorüber, die, die Bank verachtend, auf dem Pflaster saß,
um ihr Bürgerrecht zu beweisen. Das ist keine Phrase, sondern die tiefste
Überzeugung des französischen Volkes. Dieser Fanatismus des Rechtes ist das
Mark der romanischen Kultur. I^me justitis,, pereat munäu8. Das ist der
Grundunterschied zwischen Rom und Byzanz. Dort Rechtsweisheit, hier Rechts¬
wissen. Das republikanische Recht ist lebendig, das justinianische ist tot.
Rousseau, dem Vater der französischen Revolution, ist das Recht ein Gesellschafts¬
vertrag (Lonti'at social) und nicht der Ausfluß eines Regentenwillens, das
Recht ist eingeboren, lebendig und vom Menschen unzertrennlich und kann
ungeschneben sein. Um dies Unrecht zu beseitigen ist nichts anderes nötig,
als die Rückkehr zur Natur. Und hier fährt Proudhon fort: dem Menschen
ist die Freiheit eingeboren, die Gleichberechtigung, die Sicherheit, nicht aber
die Besitzherrschaft über Sachen, keinerlei Eigentumsrecht.

Die deutsche Auffassung ist eine ganz andere und die ganze Einrichtung
des deutschen Lebens geht von einer anderen Gesellschaftsidee aus. Der
romanische Staat ist eine Nechtsinstitution, der germanische eine aufgenötigte
Ordnung. Diese gründet sich nicht auf Übereinkommen, sondern auf den Schutz
des Herrschers und das Gefühl der Treue und Pflicht der Untertanen. Statt


Das slawische Rnlturproblcm

man auch fremdes, ja jederlei Wissen. Das Wissen ist eine statische, mechanische
Sache, die Weisheit aber ist eine dynamische, schaffende Kraft. Söhnen von
Arbeitern ist es möglich zu wissen, was die Söhne von Intelligenten wissen.
Aber die ganze Rhythmik des Lebens, das Begreifen der Pflicht, der Ver¬
antwortlichkeit, der Liebe, der Gnade wird jeder mehr nach seinen oder seiner
Vorfahren Erlebnissen, als nach seinem Wissen gestalten.

Und gerade deshalb kann man auch die Kultur nicht generalisierend aus
Individuen übertragen, die unter den Einflüssen verschiedener Tradition und
Umgebung heranwachsen. Zwei Völker mit verschiedener Vergangenheit können
sich nicht leicht als ein Kulturganzes auffassen. Das gilt nicht nur für die
Slawen, sondern für die. europäischen Völker im allgemeinen. Den slawischen
Völkern stehen mehrere europäische Völker mit ziemlich starken Kulturunterschieden
gegenüber. Zwei Kulturtypen haben besonders die Slawen verwirrend beeinflußt:
der französische und der deutsche Typus. Trennen wir das Wissen von der
Weisheit, fragen wir, wie Franzosen und Deutsche sich das Leben geordnet
haben, wenigstens dem gröbsten, dem Problem der Klassenrechte nach.

Auf einem Pariser Boulevard sah ich folgende Szene. Zur Mittagszeit,
wenn der Menschenstrom, der von der Arbeit kommt, sich auf die Straßen
ergießt, setzte sich ein Weib aufs Pflaster, um aus einem Topf ihre Bohnen
zu essen. Ein Wachmann trat zu ihr und war natürlich sofort von einer
Menge umringt. Das Weib sagte: „Ich gehe nicht fort von hier, ich bin
Bürgerin. Es ist mein Recht, hier zu sitzen." Der Wachmann antwortete:
„Aber hier haben Sie es unbequem." Das Publikum mischte sich in das
Gespräch: „Lassen Sie sie! Sie hat recht." Und die Menge strömte an der
eigensinnigen Bürgerin vorüber, die, die Bank verachtend, auf dem Pflaster saß,
um ihr Bürgerrecht zu beweisen. Das ist keine Phrase, sondern die tiefste
Überzeugung des französischen Volkes. Dieser Fanatismus des Rechtes ist das
Mark der romanischen Kultur. I^me justitis,, pereat munäu8. Das ist der
Grundunterschied zwischen Rom und Byzanz. Dort Rechtsweisheit, hier Rechts¬
wissen. Das republikanische Recht ist lebendig, das justinianische ist tot.
Rousseau, dem Vater der französischen Revolution, ist das Recht ein Gesellschafts¬
vertrag (Lonti'at social) und nicht der Ausfluß eines Regentenwillens, das
Recht ist eingeboren, lebendig und vom Menschen unzertrennlich und kann
ungeschneben sein. Um dies Unrecht zu beseitigen ist nichts anderes nötig,
als die Rückkehr zur Natur. Und hier fährt Proudhon fort: dem Menschen
ist die Freiheit eingeboren, die Gleichberechtigung, die Sicherheit, nicht aber
die Besitzherrschaft über Sachen, keinerlei Eigentumsrecht.

Die deutsche Auffassung ist eine ganz andere und die ganze Einrichtung
des deutschen Lebens geht von einer anderen Gesellschaftsidee aus. Der
romanische Staat ist eine Nechtsinstitution, der germanische eine aufgenötigte
Ordnung. Diese gründet sich nicht auf Übereinkommen, sondern auf den Schutz
des Herrschers und das Gefühl der Treue und Pflicht der Untertanen. Statt


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[0256] Das slawische Rnlturproblcm man auch fremdes, ja jederlei Wissen. Das Wissen ist eine statische, mechanische Sache, die Weisheit aber ist eine dynamische, schaffende Kraft. Söhnen von Arbeitern ist es möglich zu wissen, was die Söhne von Intelligenten wissen. Aber die ganze Rhythmik des Lebens, das Begreifen der Pflicht, der Ver¬ antwortlichkeit, der Liebe, der Gnade wird jeder mehr nach seinen oder seiner Vorfahren Erlebnissen, als nach seinem Wissen gestalten. Und gerade deshalb kann man auch die Kultur nicht generalisierend aus Individuen übertragen, die unter den Einflüssen verschiedener Tradition und Umgebung heranwachsen. Zwei Völker mit verschiedener Vergangenheit können sich nicht leicht als ein Kulturganzes auffassen. Das gilt nicht nur für die Slawen, sondern für die. europäischen Völker im allgemeinen. Den slawischen Völkern stehen mehrere europäische Völker mit ziemlich starken Kulturunterschieden gegenüber. Zwei Kulturtypen haben besonders die Slawen verwirrend beeinflußt: der französische und der deutsche Typus. Trennen wir das Wissen von der Weisheit, fragen wir, wie Franzosen und Deutsche sich das Leben geordnet haben, wenigstens dem gröbsten, dem Problem der Klassenrechte nach. Auf einem Pariser Boulevard sah ich folgende Szene. Zur Mittagszeit, wenn der Menschenstrom, der von der Arbeit kommt, sich auf die Straßen ergießt, setzte sich ein Weib aufs Pflaster, um aus einem Topf ihre Bohnen zu essen. Ein Wachmann trat zu ihr und war natürlich sofort von einer Menge umringt. Das Weib sagte: „Ich gehe nicht fort von hier, ich bin Bürgerin. Es ist mein Recht, hier zu sitzen." Der Wachmann antwortete: „Aber hier haben Sie es unbequem." Das Publikum mischte sich in das Gespräch: „Lassen Sie sie! Sie hat recht." Und die Menge strömte an der eigensinnigen Bürgerin vorüber, die, die Bank verachtend, auf dem Pflaster saß, um ihr Bürgerrecht zu beweisen. Das ist keine Phrase, sondern die tiefste Überzeugung des französischen Volkes. Dieser Fanatismus des Rechtes ist das Mark der romanischen Kultur. I^me justitis,, pereat munäu8. Das ist der Grundunterschied zwischen Rom und Byzanz. Dort Rechtsweisheit, hier Rechts¬ wissen. Das republikanische Recht ist lebendig, das justinianische ist tot. Rousseau, dem Vater der französischen Revolution, ist das Recht ein Gesellschafts¬ vertrag (Lonti'at social) und nicht der Ausfluß eines Regentenwillens, das Recht ist eingeboren, lebendig und vom Menschen unzertrennlich und kann ungeschneben sein. Um dies Unrecht zu beseitigen ist nichts anderes nötig, als die Rückkehr zur Natur. Und hier fährt Proudhon fort: dem Menschen ist die Freiheit eingeboren, die Gleichberechtigung, die Sicherheit, nicht aber die Besitzherrschaft über Sachen, keinerlei Eigentumsrecht. Die deutsche Auffassung ist eine ganz andere und die ganze Einrichtung des deutschen Lebens geht von einer anderen Gesellschaftsidee aus. Der romanische Staat ist eine Nechtsinstitution, der germanische eine aufgenötigte Ordnung. Diese gründet sich nicht auf Übereinkommen, sondern auf den Schutz des Herrschers und das Gefühl der Treue und Pflicht der Untertanen. Statt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/256>, abgerufen am 30.06.2024.