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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Handel und Freiheit in den englijchen Kolonien

lokale Behörden, die oft eine ganze Million Eingeborener und mehr umfassen,
urteilt und entscheidet über Hungersnöte und Polizeimaßnahmen, Eisenbahn¬
linien und Ehegesetze, Irrenhäuser und Seuchcnschutz, Missionsbüchereien und
Dampferfrachten, Hochschulfragen und Militärverpflegung (vgl. Viscount Morter,
Indian Speeches 1905 bis 1908, Seite 135 ff.). Ähnlich liegen die Dinge in
Ägypten, wo der englische Generalresident über Leben und Güter wie ein Gott
auf Erden schaltet und waltet. -- eine Last der politischen und moralischen
Verantwortung, die jeden anderen als einen Menschen mit englischer Selbst'
einschätzung geradezu hilflos machen könnte. Ebenso herrscht -- hier jedoch
nicht nur as i^w. sondern auch ac jure -- der britische Militürgouverneur
in Gibraltar, auf den Andamanen und zu Se. Helena unumschränkt; er und
nur er macht das Gesetz.

Daß bei einer solchen Konzentration der politischen Machtmittel für den
Eingeborenen so gut wie gar kein Recht mehr übrig bleibt, ist offenbar. Hört
man doch in Indien die englischen Beamten nicht selten mit Bedauern fest¬
stellen, daß "leider" die Zeiten vorbei seien, wo man den Hindu noch ohne
weiteres auf vierundzwanzig Stunden an den Ziehbrunnen schicken konnte,
ohne gleich eine langweilige Verantwortung dafür gewärtigen zu müssen ("Fort-
nightly Review", Juli 1914, Seite 99ff.); und daß auch heute noch das Maß
der positiven Rechte des Eingeborenen Indiens trotz aller papiernen Reformen
ganz erstaunlich niedrig ist, geht schon aus der bloßen Tatsache hervor, daß
noch jetzt -- wie auch kürzlich gemeldete Massenverhaftungen eingeborener
Offiziere wieder offenbart haben -- ein von 1818 (!). also aus der East Jndia
Co.°Zeit. datiertes sogenanntes "Gesetz" den Generalgouvemeur in Fällen des
Staatsinteresses in Stand setzt, solchen "Individuen, gegen die hinreichende
Gründe zur Einleitung eines Rechtsoerfahrens nicht (I) vorliegen, ihre persön¬
liche Freiheit zu nehmen", so daß. nach zutreffender Beurteilung Viscount
Mariens "kein Prozeß, keine Anklage, keine Frist für Inhaftierung" für solche
Verdächtigten vorhanden, fondern einfach offenbare Rechtslosigkeit erklärt ist!
Daß bei einem solchen Zustand gesetzlich qualifizierter Gesetzlosigkeit ein auch
nur einigermaßen menschenwürdiger Platz im Rechtssystem sür den Eingeborenen
nicht vorhanden sein kann, ergibt sich von selbst: sitzen doch im ganzen "Jndien-
rat" nur zwei, im Rate des Vizekönigs nur ein Eingeborener, die beide oben¬
drein vom Staatssekretär für Indien ernannt werden; die reichste, und durch
Wohltätigkeit wie durch hohen Bildungseifer gleich ausgezeichnete Gruppe der
Parse hat überhaupt gar keinen Vertreter, auf die sechzig Millionen Muhamme-
daner wie auf die zweihundert und mehr Millionen Hindu entfällt nur je einerI
Und in der Union von Südafrika wurde überhaupt erst seit 1904 ein (!) Ein¬
geborener -- übrigens ein muhammedanischer Araber und Doktor der Staats¬
wissenschaften einer europäischen Universität -- nach mancherlei Widerstand zum
Stadtrat der Hauptstadt gewählt, ja hier ließ sich selbst die Wahl eines christ¬
lichen Negers zum Bischof der englischen Kirche nicht ermöglichen, so daß der


Handel und Freiheit in den englijchen Kolonien

lokale Behörden, die oft eine ganze Million Eingeborener und mehr umfassen,
urteilt und entscheidet über Hungersnöte und Polizeimaßnahmen, Eisenbahn¬
linien und Ehegesetze, Irrenhäuser und Seuchcnschutz, Missionsbüchereien und
Dampferfrachten, Hochschulfragen und Militärverpflegung (vgl. Viscount Morter,
Indian Speeches 1905 bis 1908, Seite 135 ff.). Ähnlich liegen die Dinge in
Ägypten, wo der englische Generalresident über Leben und Güter wie ein Gott
auf Erden schaltet und waltet. — eine Last der politischen und moralischen
Verantwortung, die jeden anderen als einen Menschen mit englischer Selbst'
einschätzung geradezu hilflos machen könnte. Ebenso herrscht — hier jedoch
nicht nur as i^w. sondern auch ac jure — der britische Militürgouverneur
in Gibraltar, auf den Andamanen und zu Se. Helena unumschränkt; er und
nur er macht das Gesetz.

Daß bei einer solchen Konzentration der politischen Machtmittel für den
Eingeborenen so gut wie gar kein Recht mehr übrig bleibt, ist offenbar. Hört
man doch in Indien die englischen Beamten nicht selten mit Bedauern fest¬
stellen, daß „leider" die Zeiten vorbei seien, wo man den Hindu noch ohne
weiteres auf vierundzwanzig Stunden an den Ziehbrunnen schicken konnte,
ohne gleich eine langweilige Verantwortung dafür gewärtigen zu müssen („Fort-
nightly Review", Juli 1914, Seite 99ff.); und daß auch heute noch das Maß
der positiven Rechte des Eingeborenen Indiens trotz aller papiernen Reformen
ganz erstaunlich niedrig ist, geht schon aus der bloßen Tatsache hervor, daß
noch jetzt — wie auch kürzlich gemeldete Massenverhaftungen eingeborener
Offiziere wieder offenbart haben — ein von 1818 (!). also aus der East Jndia
Co.°Zeit. datiertes sogenanntes „Gesetz" den Generalgouvemeur in Fällen des
Staatsinteresses in Stand setzt, solchen „Individuen, gegen die hinreichende
Gründe zur Einleitung eines Rechtsoerfahrens nicht (I) vorliegen, ihre persön¬
liche Freiheit zu nehmen", so daß. nach zutreffender Beurteilung Viscount
Mariens „kein Prozeß, keine Anklage, keine Frist für Inhaftierung" für solche
Verdächtigten vorhanden, fondern einfach offenbare Rechtslosigkeit erklärt ist!
Daß bei einem solchen Zustand gesetzlich qualifizierter Gesetzlosigkeit ein auch
nur einigermaßen menschenwürdiger Platz im Rechtssystem sür den Eingeborenen
nicht vorhanden sein kann, ergibt sich von selbst: sitzen doch im ganzen „Jndien-
rat" nur zwei, im Rate des Vizekönigs nur ein Eingeborener, die beide oben¬
drein vom Staatssekretär für Indien ernannt werden; die reichste, und durch
Wohltätigkeit wie durch hohen Bildungseifer gleich ausgezeichnete Gruppe der
Parse hat überhaupt gar keinen Vertreter, auf die sechzig Millionen Muhamme-
daner wie auf die zweihundert und mehr Millionen Hindu entfällt nur je einerI
Und in der Union von Südafrika wurde überhaupt erst seit 1904 ein (!) Ein¬
geborener — übrigens ein muhammedanischer Araber und Doktor der Staats¬
wissenschaften einer europäischen Universität — nach mancherlei Widerstand zum
Stadtrat der Hauptstadt gewählt, ja hier ließ sich selbst die Wahl eines christ¬
lichen Negers zum Bischof der englischen Kirche nicht ermöglichen, so daß der


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[0247] Handel und Freiheit in den englijchen Kolonien lokale Behörden, die oft eine ganze Million Eingeborener und mehr umfassen, urteilt und entscheidet über Hungersnöte und Polizeimaßnahmen, Eisenbahn¬ linien und Ehegesetze, Irrenhäuser und Seuchcnschutz, Missionsbüchereien und Dampferfrachten, Hochschulfragen und Militärverpflegung (vgl. Viscount Morter, Indian Speeches 1905 bis 1908, Seite 135 ff.). Ähnlich liegen die Dinge in Ägypten, wo der englische Generalresident über Leben und Güter wie ein Gott auf Erden schaltet und waltet. — eine Last der politischen und moralischen Verantwortung, die jeden anderen als einen Menschen mit englischer Selbst' einschätzung geradezu hilflos machen könnte. Ebenso herrscht — hier jedoch nicht nur as i^w. sondern auch ac jure — der britische Militürgouverneur in Gibraltar, auf den Andamanen und zu Se. Helena unumschränkt; er und nur er macht das Gesetz. Daß bei einer solchen Konzentration der politischen Machtmittel für den Eingeborenen so gut wie gar kein Recht mehr übrig bleibt, ist offenbar. Hört man doch in Indien die englischen Beamten nicht selten mit Bedauern fest¬ stellen, daß „leider" die Zeiten vorbei seien, wo man den Hindu noch ohne weiteres auf vierundzwanzig Stunden an den Ziehbrunnen schicken konnte, ohne gleich eine langweilige Verantwortung dafür gewärtigen zu müssen („Fort- nightly Review", Juli 1914, Seite 99ff.); und daß auch heute noch das Maß der positiven Rechte des Eingeborenen Indiens trotz aller papiernen Reformen ganz erstaunlich niedrig ist, geht schon aus der bloßen Tatsache hervor, daß noch jetzt — wie auch kürzlich gemeldete Massenverhaftungen eingeborener Offiziere wieder offenbart haben — ein von 1818 (!). also aus der East Jndia Co.°Zeit. datiertes sogenanntes „Gesetz" den Generalgouvemeur in Fällen des Staatsinteresses in Stand setzt, solchen „Individuen, gegen die hinreichende Gründe zur Einleitung eines Rechtsoerfahrens nicht (I) vorliegen, ihre persön¬ liche Freiheit zu nehmen", so daß. nach zutreffender Beurteilung Viscount Mariens „kein Prozeß, keine Anklage, keine Frist für Inhaftierung" für solche Verdächtigten vorhanden, fondern einfach offenbare Rechtslosigkeit erklärt ist! Daß bei einem solchen Zustand gesetzlich qualifizierter Gesetzlosigkeit ein auch nur einigermaßen menschenwürdiger Platz im Rechtssystem sür den Eingeborenen nicht vorhanden sein kann, ergibt sich von selbst: sitzen doch im ganzen „Jndien- rat" nur zwei, im Rate des Vizekönigs nur ein Eingeborener, die beide oben¬ drein vom Staatssekretär für Indien ernannt werden; die reichste, und durch Wohltätigkeit wie durch hohen Bildungseifer gleich ausgezeichnete Gruppe der Parse hat überhaupt gar keinen Vertreter, auf die sechzig Millionen Muhamme- daner wie auf die zweihundert und mehr Millionen Hindu entfällt nur je einerI Und in der Union von Südafrika wurde überhaupt erst seit 1904 ein (!) Ein¬ geborener — übrigens ein muhammedanischer Araber und Doktor der Staats¬ wissenschaften einer europäischen Universität — nach mancherlei Widerstand zum Stadtrat der Hauptstadt gewählt, ja hier ließ sich selbst die Wahl eines christ¬ lichen Negers zum Bischof der englischen Kirche nicht ermöglichen, so daß der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/247>, abgerufen am 02.07.2024.