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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Handel und Freiheit in den englischen Kolonien

den einzelnen Kolonien gegeben oder belassen wird, recht verschieden bemessen,
hängt es doch allein und völlig von der wirtschaftlichen Position der Kolonie
und ihrer Wertstellung sür das Mutterland ab. Eine eigene Bewertung aus
inneren Prinzipien oder gar eine moralpolilische Begründung für die Verleihung
von Rechten an die Reichsglieder in Übersee gibt es für den Engländer nicht.
Australien zum Beispiel, das um 1788 als Verbrecherkolonie begründet worden
war, wurde mehr als zwei Generationen hindurch als solche behandelt trotz der
dringenden Proteste der allmählich eingewanderten freien Ansiedler, bis endlich
der Freihandel der vierziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts die Abnahme
des Ackerbaues in England und damit das Bedürfnis nach Erschließung und
politischer Ankettung der überseeischen Getreidemärkte bewirkte. Ungefähr gleichzeitig
wurde aus ähnlichen Erwägungen Kanada die langgehegte, übrigens schon durch mehr¬
fache Aufstände verdeutlichte Bitte um größere Selbstverwaltung erfüllt. Die
Andamanengruppe ist noch heute gegen den Willen der -- allerdings spärlichen --
freien Ansiedler, trotz ihrer außerordentlichen Entwicklungsfähigkeit ein bloßes
Deportationsgebiet, vornehmlich deshalb, weilman ein der unruhigen vorderindischen
Besitzung möglichst nahes Gebiet als Ablagerstätte für gefährliche Elemente braucht.
Die Kapkolonie und Natal bekamen ihre "Repräsentanten" erst in den fünfziger
Jahren, als die Gold- und Diamantenfunde eine Sicherung des eigenen Ein¬
flusses gegen etwaige fremde Eingriffe erheischte; und der Zusammenschluß der
australischen Bundesstaaten zu einem "Commonwealth" war nur die halb wider¬
willig großgezogene Frucht der Not, neben dem Äquivalent sür die im Buren¬
kriege geleistete Hilfe. Hier wie auch in Südafrika und Kanada hat man sich
bemüht, re perkecta wenigstens durch mehr oder minder geschickte Fesselung
ehrgeiziger Kolonisten einen letzten politischen Riegel vor die große Neigung
aller mündig gewordenen Kolonien -- die endgültige Loslösung voni Mutter¬
lande nach dem Muster der Vereinigten Staaten -- zu legen. So hat man
z. B. in Südafrika einen charakterlosen politischen Renegaten zum ersten Minister
gemacht und obendrein noch die staatsrechtliche Exekutive des gesamten Unions¬
gebietes dem König von England überwiesen; so hat man in Kanada über die
einheimische Selbstregierung einen nahen Verwandten des Königs gesetzt: zum
unverhohlener Erstaunen eines großen Teiles der Landesgeborenen.

Wo man aber eine solche geteilte Regierungsform einzurichten sich nicht
genötigt sah, da herrscht der Brite -- trotz allen offiziösen Geredes von "Magna
Charta" und "Habeas Corpus" daheim -- mit allen Mitteln absolutester
Staatsgewalt autonom; und wehe dem eingeborenen Volke, das an den Gesetzen
dieser Militärdiktatur zu rütteln wagte I Schon das Zahlenverhältnis des
kolonialenRegierungsapparates zu der Zahl der Beherrschten spricht da eine deutliche
Sprache: die mehr als dreihundert Millionen Eingeborenen des indischen Reiches
z. B. werden von den bloß etwa zwölfhundert Menschen geleitet, die zum so¬
genannten "Indian Civil Service" gehören; und mancher zwanzig bis fünf¬
undzwanzig Jahre alte Beamte regierte in Wahrheit Präsidentschaften und


Handel und Freiheit in den englischen Kolonien

den einzelnen Kolonien gegeben oder belassen wird, recht verschieden bemessen,
hängt es doch allein und völlig von der wirtschaftlichen Position der Kolonie
und ihrer Wertstellung sür das Mutterland ab. Eine eigene Bewertung aus
inneren Prinzipien oder gar eine moralpolilische Begründung für die Verleihung
von Rechten an die Reichsglieder in Übersee gibt es für den Engländer nicht.
Australien zum Beispiel, das um 1788 als Verbrecherkolonie begründet worden
war, wurde mehr als zwei Generationen hindurch als solche behandelt trotz der
dringenden Proteste der allmählich eingewanderten freien Ansiedler, bis endlich
der Freihandel der vierziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts die Abnahme
des Ackerbaues in England und damit das Bedürfnis nach Erschließung und
politischer Ankettung der überseeischen Getreidemärkte bewirkte. Ungefähr gleichzeitig
wurde aus ähnlichen Erwägungen Kanada die langgehegte, übrigens schon durch mehr¬
fache Aufstände verdeutlichte Bitte um größere Selbstverwaltung erfüllt. Die
Andamanengruppe ist noch heute gegen den Willen der — allerdings spärlichen —
freien Ansiedler, trotz ihrer außerordentlichen Entwicklungsfähigkeit ein bloßes
Deportationsgebiet, vornehmlich deshalb, weilman ein der unruhigen vorderindischen
Besitzung möglichst nahes Gebiet als Ablagerstätte für gefährliche Elemente braucht.
Die Kapkolonie und Natal bekamen ihre „Repräsentanten" erst in den fünfziger
Jahren, als die Gold- und Diamantenfunde eine Sicherung des eigenen Ein¬
flusses gegen etwaige fremde Eingriffe erheischte; und der Zusammenschluß der
australischen Bundesstaaten zu einem „Commonwealth" war nur die halb wider¬
willig großgezogene Frucht der Not, neben dem Äquivalent sür die im Buren¬
kriege geleistete Hilfe. Hier wie auch in Südafrika und Kanada hat man sich
bemüht, re perkecta wenigstens durch mehr oder minder geschickte Fesselung
ehrgeiziger Kolonisten einen letzten politischen Riegel vor die große Neigung
aller mündig gewordenen Kolonien — die endgültige Loslösung voni Mutter¬
lande nach dem Muster der Vereinigten Staaten — zu legen. So hat man
z. B. in Südafrika einen charakterlosen politischen Renegaten zum ersten Minister
gemacht und obendrein noch die staatsrechtliche Exekutive des gesamten Unions¬
gebietes dem König von England überwiesen; so hat man in Kanada über die
einheimische Selbstregierung einen nahen Verwandten des Königs gesetzt: zum
unverhohlener Erstaunen eines großen Teiles der Landesgeborenen.

Wo man aber eine solche geteilte Regierungsform einzurichten sich nicht
genötigt sah, da herrscht der Brite — trotz allen offiziösen Geredes von „Magna
Charta" und „Habeas Corpus" daheim — mit allen Mitteln absolutester
Staatsgewalt autonom; und wehe dem eingeborenen Volke, das an den Gesetzen
dieser Militärdiktatur zu rütteln wagte I Schon das Zahlenverhältnis des
kolonialenRegierungsapparates zu der Zahl der Beherrschten spricht da eine deutliche
Sprache: die mehr als dreihundert Millionen Eingeborenen des indischen Reiches
z. B. werden von den bloß etwa zwölfhundert Menschen geleitet, die zum so¬
genannten „Indian Civil Service" gehören; und mancher zwanzig bis fünf¬
undzwanzig Jahre alte Beamte regierte in Wahrheit Präsidentschaften und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/246>, abgerufen am 02.07.2024.