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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Bemerkungen zur osteuropäischen Frage

Außenpolitik zu verzichten und sich der Pflege des Wohls der großrussischen
Zentralprovinzen zuzuwenden. So urteilen viele russische Geheimräte in
Se. Petersburg. In Livland und Polen hört man oft die russischen Beamten
darüber klagen, daß sie zum Zwecke der Eroberung und Verrussung in der
Verbannung leben müßten. Verlöre Rußland die Westprovinzen, dann könnten
sie endlich nach Hause kommen, d. h. nach Großrußland zurückkommen.

Bald nach der Gründung des Deutschen Reiches besuchte der Bürgermeister
Holländer von Riga den Grafen Peter Schuwalow in Petersburg, der nachher
Rußland auf dem Berliner Kongreß vertrat. Sie sprachen von der Neugründung
des Deutschen Reiches und ihren unvermeidlichen Folgen für Rußland. Schuwalow
nahm das Lineal, legte es auf die Landkarte und zog eine Linie vom südöstlichen
Polen bis zum Ladogasee. Alles, was westlich von dieser Linie liege, gehöre
von Natur zu Deutschland. Das Deutsche Reich könne nicht die Herrschaft
Rußlands in Polen dulden, auch könne es nicht die Herrschaft über die Ostsee
mit Rußland teilen.

Petersburg sei von Natur aus zu einer preußische" Provinzialhauptstadt
bestimmt, da es auf finnischen Boden im germanischen Kulturgebiet liegt. Als
"edler Russe haßte Schuwalow Petersburg. Moskau sei die natürliche Haupt¬
stadt Rußlands. Verschiebe sich der Schwerpunkt weiter nach Osten, so könnte
etwa Saratow die Hauptstadt werden, Petersburg sei dazu als gar nicht auf
russischem Boden liegend völlig ungeeignet. Den Verlust dieses Westgebietes,
das Deutschland nötig brauche, könne Rußland ruhig ertragen. Es habe jahr¬
hundertelang ohne diese Gebiete gelebt und brauche sie für seine nationale
Existenz nicht. Also sprach Graf Peter Schuwalow.

Als sich in den achtziger Jahren der Zweifrontenkrieg ankündigte, fragte
der Hofprediger Adolf Stöcker den Feldmarschall Moltke, ob die Herzogtümer
Livland, Estland und Kurland als preußische Provinzen gegen Rußland zu
halten seien. Graf Moltke bejahte diese Frage mit allem Nachdruck. Der
Peipussee und der von diesem See bis zur Dina sich erstreckende Sumpfdistrikt
sei eine starke natürliche Schutzwehr nach Osten. Lege man in Narwa und
Dünaburg starke natürliche Festungen an, und errichte man einige Sperrforts,
so sei das ganze Land ohne sonderliche Mühe gegen Nußland zu halten.

Weite Kreise der führenden Schichten Rußlands sehen Westrußland als
Deutschlands natürliches Kolonialgebiet an. An die Saturiertheit von Rußlands
westlichem Nachbar glaubt kein einsichtiger Moskowiter. Alle Versicherungen,
daß Deutschland in Europa kein Land erobern wolle, erwecken bei klugen Russen
nur den Verdacht, Deutschland wolle sie in arglistiger Weise betrügen. Sehr
charakteristisch sind in dieser Hinsicht die Aussprüche des Kurators Weljaminow
von Kiew. Weljaminow war russischer Magnat aus altem Bojarengeschlecht,
ein einsichtiger, weitblickender Mann, befreundet mit dem Grafen Tolstoi, dem
damaligen russischen Minister. Weljaminow meinte in den neunziger Jahren,
daß ihm die deutsche Kolonialpolitik ziemlich verfehlt vorkomme. Natürlich sei


Bemerkungen zur osteuropäischen Frage

Außenpolitik zu verzichten und sich der Pflege des Wohls der großrussischen
Zentralprovinzen zuzuwenden. So urteilen viele russische Geheimräte in
Se. Petersburg. In Livland und Polen hört man oft die russischen Beamten
darüber klagen, daß sie zum Zwecke der Eroberung und Verrussung in der
Verbannung leben müßten. Verlöre Rußland die Westprovinzen, dann könnten
sie endlich nach Hause kommen, d. h. nach Großrußland zurückkommen.

Bald nach der Gründung des Deutschen Reiches besuchte der Bürgermeister
Holländer von Riga den Grafen Peter Schuwalow in Petersburg, der nachher
Rußland auf dem Berliner Kongreß vertrat. Sie sprachen von der Neugründung
des Deutschen Reiches und ihren unvermeidlichen Folgen für Rußland. Schuwalow
nahm das Lineal, legte es auf die Landkarte und zog eine Linie vom südöstlichen
Polen bis zum Ladogasee. Alles, was westlich von dieser Linie liege, gehöre
von Natur zu Deutschland. Das Deutsche Reich könne nicht die Herrschaft
Rußlands in Polen dulden, auch könne es nicht die Herrschaft über die Ostsee
mit Rußland teilen.

Petersburg sei von Natur aus zu einer preußische« Provinzialhauptstadt
bestimmt, da es auf finnischen Boden im germanischen Kulturgebiet liegt. Als
«edler Russe haßte Schuwalow Petersburg. Moskau sei die natürliche Haupt¬
stadt Rußlands. Verschiebe sich der Schwerpunkt weiter nach Osten, so könnte
etwa Saratow die Hauptstadt werden, Petersburg sei dazu als gar nicht auf
russischem Boden liegend völlig ungeeignet. Den Verlust dieses Westgebietes,
das Deutschland nötig brauche, könne Rußland ruhig ertragen. Es habe jahr¬
hundertelang ohne diese Gebiete gelebt und brauche sie für seine nationale
Existenz nicht. Also sprach Graf Peter Schuwalow.

Als sich in den achtziger Jahren der Zweifrontenkrieg ankündigte, fragte
der Hofprediger Adolf Stöcker den Feldmarschall Moltke, ob die Herzogtümer
Livland, Estland und Kurland als preußische Provinzen gegen Rußland zu
halten seien. Graf Moltke bejahte diese Frage mit allem Nachdruck. Der
Peipussee und der von diesem See bis zur Dina sich erstreckende Sumpfdistrikt
sei eine starke natürliche Schutzwehr nach Osten. Lege man in Narwa und
Dünaburg starke natürliche Festungen an, und errichte man einige Sperrforts,
so sei das ganze Land ohne sonderliche Mühe gegen Nußland zu halten.

Weite Kreise der führenden Schichten Rußlands sehen Westrußland als
Deutschlands natürliches Kolonialgebiet an. An die Saturiertheit von Rußlands
westlichem Nachbar glaubt kein einsichtiger Moskowiter. Alle Versicherungen,
daß Deutschland in Europa kein Land erobern wolle, erwecken bei klugen Russen
nur den Verdacht, Deutschland wolle sie in arglistiger Weise betrügen. Sehr
charakteristisch sind in dieser Hinsicht die Aussprüche des Kurators Weljaminow
von Kiew. Weljaminow war russischer Magnat aus altem Bojarengeschlecht,
ein einsichtiger, weitblickender Mann, befreundet mit dem Grafen Tolstoi, dem
damaligen russischen Minister. Weljaminow meinte in den neunziger Jahren,
daß ihm die deutsche Kolonialpolitik ziemlich verfehlt vorkomme. Natürlich sei


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[0238] Bemerkungen zur osteuropäischen Frage Außenpolitik zu verzichten und sich der Pflege des Wohls der großrussischen Zentralprovinzen zuzuwenden. So urteilen viele russische Geheimräte in Se. Petersburg. In Livland und Polen hört man oft die russischen Beamten darüber klagen, daß sie zum Zwecke der Eroberung und Verrussung in der Verbannung leben müßten. Verlöre Rußland die Westprovinzen, dann könnten sie endlich nach Hause kommen, d. h. nach Großrußland zurückkommen. Bald nach der Gründung des Deutschen Reiches besuchte der Bürgermeister Holländer von Riga den Grafen Peter Schuwalow in Petersburg, der nachher Rußland auf dem Berliner Kongreß vertrat. Sie sprachen von der Neugründung des Deutschen Reiches und ihren unvermeidlichen Folgen für Rußland. Schuwalow nahm das Lineal, legte es auf die Landkarte und zog eine Linie vom südöstlichen Polen bis zum Ladogasee. Alles, was westlich von dieser Linie liege, gehöre von Natur zu Deutschland. Das Deutsche Reich könne nicht die Herrschaft Rußlands in Polen dulden, auch könne es nicht die Herrschaft über die Ostsee mit Rußland teilen. Petersburg sei von Natur aus zu einer preußische« Provinzialhauptstadt bestimmt, da es auf finnischen Boden im germanischen Kulturgebiet liegt. Als «edler Russe haßte Schuwalow Petersburg. Moskau sei die natürliche Haupt¬ stadt Rußlands. Verschiebe sich der Schwerpunkt weiter nach Osten, so könnte etwa Saratow die Hauptstadt werden, Petersburg sei dazu als gar nicht auf russischem Boden liegend völlig ungeeignet. Den Verlust dieses Westgebietes, das Deutschland nötig brauche, könne Rußland ruhig ertragen. Es habe jahr¬ hundertelang ohne diese Gebiete gelebt und brauche sie für seine nationale Existenz nicht. Also sprach Graf Peter Schuwalow. Als sich in den achtziger Jahren der Zweifrontenkrieg ankündigte, fragte der Hofprediger Adolf Stöcker den Feldmarschall Moltke, ob die Herzogtümer Livland, Estland und Kurland als preußische Provinzen gegen Rußland zu halten seien. Graf Moltke bejahte diese Frage mit allem Nachdruck. Der Peipussee und der von diesem See bis zur Dina sich erstreckende Sumpfdistrikt sei eine starke natürliche Schutzwehr nach Osten. Lege man in Narwa und Dünaburg starke natürliche Festungen an, und errichte man einige Sperrforts, so sei das ganze Land ohne sonderliche Mühe gegen Nußland zu halten. Weite Kreise der führenden Schichten Rußlands sehen Westrußland als Deutschlands natürliches Kolonialgebiet an. An die Saturiertheit von Rußlands westlichem Nachbar glaubt kein einsichtiger Moskowiter. Alle Versicherungen, daß Deutschland in Europa kein Land erobern wolle, erwecken bei klugen Russen nur den Verdacht, Deutschland wolle sie in arglistiger Weise betrügen. Sehr charakteristisch sind in dieser Hinsicht die Aussprüche des Kurators Weljaminow von Kiew. Weljaminow war russischer Magnat aus altem Bojarengeschlecht, ein einsichtiger, weitblickender Mann, befreundet mit dem Grafen Tolstoi, dem damaligen russischen Minister. Weljaminow meinte in den neunziger Jahren, daß ihm die deutsche Kolonialpolitik ziemlich verfehlt vorkomme. Natürlich sei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/238>, abgerufen am 02.07.2024.