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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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schöne Literatur im Ariege
Franz Leppniann von

MWoch nie hat es eine so mit Zukunft getränkte Gegenwart gegeben,
noch nie eine, die zum Aufbau eines Ideals, eines Traumbildes
eines goldenen Zeitalters so dringlich aufforderte. Es ist so ver¬
lockend, sich auszumalen, wie alles werden wird, so unterhaltend,
die Besitzgrenzen der Staaten neu zurechtzuschneiden, und be¬
sonders wir, die wir nicht so mitmachen dürfen, wie wir gern möchten, legen
unsere ganze Hoffnung, unseren ganzen Stolz und unsere ganze brennende Liebe
in dieses Spiel.

So sehr wir aber auch für das wichtige Gebiet des deutschen Schrifttums
stofflich Neues und eine Neuordnung aller Werte von dem Kriege erhoffen, es
bedarf einer gehörigen Selbstüberwindung und gewaltsamen Ablenkung, um heute
literarische Neuerscheinungen zu mustern und sich in der Stunde eines gewaltigen
Völkerschicksals in die privaten Erlebnisse und Schmerzen zu versenken, die in
der Brust der Verfasser die Bücher zeugten. Man kann es nicht anders als
mit Beziehung zur Gegenwart, das heißt mit der Frage tun: wäre das Er¬
scheinen dieses Buches auch noch nach dem Kriege möglich? Und ganz natürlich
behaupten heute diejenigen Bücher den Vorrang in unserer Teilnahme, in denen
Dinge des Staates berührt werden.

Da tritt denn beispielsweise Bruno Wille mit einem autobiographischen
Bande auf den Plan: "Das Gefängnis zum Preußischen Adler. Eine
selbsterlebte Schildbürgerei" (Eugen Diederichs. Jena). Man kennt den Ver¬
fasser als sinnierenden Weltbetrachter, Naturbeseeler und Gottsucher, dem die ge¬
ordnete Staatskirche mit ihren geschriebenen Offenbarungsurkunden zu eng ist, und
als wichtiges Mitglied jener Friedrichshagener Schriftstellerkolonie, Freund der
Bölsche, Brüder Hart und anderer, von denen in den achtziger und neunziger
Jahren eine Umwälzung der Literatur ausging. So herrscht in demi Buche
dem Staate gegenüber dieselbe Stimmung, wie in Gerhart Hauptmanns "Biber¬
pelz", das heißt die Stimmung der Überheblichkeit der geistig Gerichteten, die




schöne Literatur im Ariege
Franz Leppniann von

MWoch nie hat es eine so mit Zukunft getränkte Gegenwart gegeben,
noch nie eine, die zum Aufbau eines Ideals, eines Traumbildes
eines goldenen Zeitalters so dringlich aufforderte. Es ist so ver¬
lockend, sich auszumalen, wie alles werden wird, so unterhaltend,
die Besitzgrenzen der Staaten neu zurechtzuschneiden, und be¬
sonders wir, die wir nicht so mitmachen dürfen, wie wir gern möchten, legen
unsere ganze Hoffnung, unseren ganzen Stolz und unsere ganze brennende Liebe
in dieses Spiel.

So sehr wir aber auch für das wichtige Gebiet des deutschen Schrifttums
stofflich Neues und eine Neuordnung aller Werte von dem Kriege erhoffen, es
bedarf einer gehörigen Selbstüberwindung und gewaltsamen Ablenkung, um heute
literarische Neuerscheinungen zu mustern und sich in der Stunde eines gewaltigen
Völkerschicksals in die privaten Erlebnisse und Schmerzen zu versenken, die in
der Brust der Verfasser die Bücher zeugten. Man kann es nicht anders als
mit Beziehung zur Gegenwart, das heißt mit der Frage tun: wäre das Er¬
scheinen dieses Buches auch noch nach dem Kriege möglich? Und ganz natürlich
behaupten heute diejenigen Bücher den Vorrang in unserer Teilnahme, in denen
Dinge des Staates berührt werden.

Da tritt denn beispielsweise Bruno Wille mit einem autobiographischen
Bande auf den Plan: „Das Gefängnis zum Preußischen Adler. Eine
selbsterlebte Schildbürgerei" (Eugen Diederichs. Jena). Man kennt den Ver¬
fasser als sinnierenden Weltbetrachter, Naturbeseeler und Gottsucher, dem die ge¬
ordnete Staatskirche mit ihren geschriebenen Offenbarungsurkunden zu eng ist, und
als wichtiges Mitglied jener Friedrichshagener Schriftstellerkolonie, Freund der
Bölsche, Brüder Hart und anderer, von denen in den achtziger und neunziger
Jahren eine Umwälzung der Literatur ausging. So herrscht in demi Buche
dem Staate gegenüber dieselbe Stimmung, wie in Gerhart Hauptmanns „Biber¬
pelz", das heißt die Stimmung der Überheblichkeit der geistig Gerichteten, die


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[0198] [Abbildung] schöne Literatur im Ariege Franz Leppniann von MWoch nie hat es eine so mit Zukunft getränkte Gegenwart gegeben, noch nie eine, die zum Aufbau eines Ideals, eines Traumbildes eines goldenen Zeitalters so dringlich aufforderte. Es ist so ver¬ lockend, sich auszumalen, wie alles werden wird, so unterhaltend, die Besitzgrenzen der Staaten neu zurechtzuschneiden, und be¬ sonders wir, die wir nicht so mitmachen dürfen, wie wir gern möchten, legen unsere ganze Hoffnung, unseren ganzen Stolz und unsere ganze brennende Liebe in dieses Spiel. So sehr wir aber auch für das wichtige Gebiet des deutschen Schrifttums stofflich Neues und eine Neuordnung aller Werte von dem Kriege erhoffen, es bedarf einer gehörigen Selbstüberwindung und gewaltsamen Ablenkung, um heute literarische Neuerscheinungen zu mustern und sich in der Stunde eines gewaltigen Völkerschicksals in die privaten Erlebnisse und Schmerzen zu versenken, die in der Brust der Verfasser die Bücher zeugten. Man kann es nicht anders als mit Beziehung zur Gegenwart, das heißt mit der Frage tun: wäre das Er¬ scheinen dieses Buches auch noch nach dem Kriege möglich? Und ganz natürlich behaupten heute diejenigen Bücher den Vorrang in unserer Teilnahme, in denen Dinge des Staates berührt werden. Da tritt denn beispielsweise Bruno Wille mit einem autobiographischen Bande auf den Plan: „Das Gefängnis zum Preußischen Adler. Eine selbsterlebte Schildbürgerei" (Eugen Diederichs. Jena). Man kennt den Ver¬ fasser als sinnierenden Weltbetrachter, Naturbeseeler und Gottsucher, dem die ge¬ ordnete Staatskirche mit ihren geschriebenen Offenbarungsurkunden zu eng ist, und als wichtiges Mitglied jener Friedrichshagener Schriftstellerkolonie, Freund der Bölsche, Brüder Hart und anderer, von denen in den achtziger und neunziger Jahren eine Umwälzung der Literatur ausging. So herrscht in demi Buche dem Staate gegenüber dieselbe Stimmung, wie in Gerhart Hauptmanns „Biber¬ pelz", das heißt die Stimmung der Überheblichkeit der geistig Gerichteten, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/198>, abgerufen am 02.07.2024.