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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Sprachroinigung

denkens, um sich von der Haltlosigkeit zu überzeugen, auf denen diese Fürsprache
für die Fremdwörter beruht.

Wenn auch die Ansprüche, die an die Lebensfähigkeit eines deutschen Wortes
zu stelle" sind, durch die Übersetzung nicht immer befriedigt werden können, so
verfügt doch unsere Sprache bei ihrer unbegrenzten Gestaltungskraft noch über
andere Mittel zu ihrer Bereicherung. Eine unerschöpfliche Quelle für ihren
Wortbedarf und zugleich ein großer Vorzug vor den übrigen lebenden Sprachen
ist ihre Fähigkeit zur Neubildung von Wörtern. Davon zeugen Würzelwörter
wie Reiz, Gefühl; Ableitungen wie Urlauber, Umschalter, Wähler; Zusammen¬
setzungen mit einem Verhältniswort wie Anschlag. Nachdruck, Umsicht oder mit
einer Endung wie Emporkömmling, Prüfung. Zögling, Gesamtheit, Mehrheit,
Rechtschaffenheit, Volkstum, Deutschtum, Königtum, -- lauter Wörter aus dem
siebzehnten bis neunzehnten Jahrhundert, ganz zu schweigen von den zahllosen
Schöpfungen der Sprache während ihrer ganzen Lebensgeschichte.

Größeren Wert als auf die Neubildungen legen manche auf die Wieder¬
einführung alter Wörter, weil es, um mit Lessing zu reden, bei den neuen
Wörtern ungewiß ist, ob ihr Stempel ihnen den rechten Lauf so bald geben
möchte. So hat die Verwendung der Wörter Hort und Heim bei Zusammen¬
setzungen wie Kinderhort, Töchterhort, Soldatenheim, Altersheim und vielen
anderen zu glücklichen Wortbildungen geführt.

Eine reiche Fundgrube für den Wortvorrat bilden auch die Fachsprachen.
Wie die Wörter aufstöbern, Wind bekommen, wittern, Flagge, Ebbe, Flotte,
Bucht, Reck, Holm, Barren beweisen, haben die Jäger, Seeleute und Hand¬
werker zu dem Wortschatz Beiträge geliefert, und auch die Studenten, Bergleute,
Soldaten und andere Berufszweige sind dabei nicht zurückgeblieben, wie sich leicht
an zahlreichen Entlehnungen aus ihrer Sprache dartun ließe.

Endlich sind auch die lange zurückgesetzten Mundarten wieder zu Ehren
gekommen, da die Sprachwissenschaft ihren unerschöpflichen Vorrat an sinnvollen
und anschaulichen Ausdrücken als Bezugsquelle für den heutigen Wortbedarf
nachgewiesen hat. Daß sie sogar gute, hochdeutsche Formen verdrängt und
Schlucht für Schluft, Talg für Unschlitt, Nichte für Nistet durchgesetzt haben,
ist ein Beweis von ihrem starken Einfluß auf die Sprachgestaltung.

Es konnten nur einige Proben angeführt werden, aber sie zeigen wohl zur
Genüge, daß unsere Sprache einen großen Reichtum an brauchbaren Mitteln
für ihre Weiterentwicklung hat. Für die unaufhörliche Erneuerung ihres Be¬
standes hat sie in dem Bedeutungswandel einen starken Bundesgenossen. Wie
dieser wirksam war, daß das heidnische Wort Ostern einen christlichen Inhalt
erhielt, das mittelalterliche Wort Frauenzimmer an Stelle des Wohnortes die
Frau bezeichnete und Kamerad nicht mehr den Stubengenossen bedeutet, sondern
einen weit umfassenderen Begriff bekam, so gibt er auch heute noch den Wörtern
auf ihrer Wanderschaft einen den Verhältnissen sich anpassenden Sinn. Ihren
Grund hat diese sprachliche Erscheinung darin, daß zwischen Begriff und Wort


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denkens, um sich von der Haltlosigkeit zu überzeugen, auf denen diese Fürsprache
für die Fremdwörter beruht.

Wenn auch die Ansprüche, die an die Lebensfähigkeit eines deutschen Wortes
zu stelle« sind, durch die Übersetzung nicht immer befriedigt werden können, so
verfügt doch unsere Sprache bei ihrer unbegrenzten Gestaltungskraft noch über
andere Mittel zu ihrer Bereicherung. Eine unerschöpfliche Quelle für ihren
Wortbedarf und zugleich ein großer Vorzug vor den übrigen lebenden Sprachen
ist ihre Fähigkeit zur Neubildung von Wörtern. Davon zeugen Würzelwörter
wie Reiz, Gefühl; Ableitungen wie Urlauber, Umschalter, Wähler; Zusammen¬
setzungen mit einem Verhältniswort wie Anschlag. Nachdruck, Umsicht oder mit
einer Endung wie Emporkömmling, Prüfung. Zögling, Gesamtheit, Mehrheit,
Rechtschaffenheit, Volkstum, Deutschtum, Königtum, — lauter Wörter aus dem
siebzehnten bis neunzehnten Jahrhundert, ganz zu schweigen von den zahllosen
Schöpfungen der Sprache während ihrer ganzen Lebensgeschichte.

Größeren Wert als auf die Neubildungen legen manche auf die Wieder¬
einführung alter Wörter, weil es, um mit Lessing zu reden, bei den neuen
Wörtern ungewiß ist, ob ihr Stempel ihnen den rechten Lauf so bald geben
möchte. So hat die Verwendung der Wörter Hort und Heim bei Zusammen¬
setzungen wie Kinderhort, Töchterhort, Soldatenheim, Altersheim und vielen
anderen zu glücklichen Wortbildungen geführt.

Eine reiche Fundgrube für den Wortvorrat bilden auch die Fachsprachen.
Wie die Wörter aufstöbern, Wind bekommen, wittern, Flagge, Ebbe, Flotte,
Bucht, Reck, Holm, Barren beweisen, haben die Jäger, Seeleute und Hand¬
werker zu dem Wortschatz Beiträge geliefert, und auch die Studenten, Bergleute,
Soldaten und andere Berufszweige sind dabei nicht zurückgeblieben, wie sich leicht
an zahlreichen Entlehnungen aus ihrer Sprache dartun ließe.

Endlich sind auch die lange zurückgesetzten Mundarten wieder zu Ehren
gekommen, da die Sprachwissenschaft ihren unerschöpflichen Vorrat an sinnvollen
und anschaulichen Ausdrücken als Bezugsquelle für den heutigen Wortbedarf
nachgewiesen hat. Daß sie sogar gute, hochdeutsche Formen verdrängt und
Schlucht für Schluft, Talg für Unschlitt, Nichte für Nistet durchgesetzt haben,
ist ein Beweis von ihrem starken Einfluß auf die Sprachgestaltung.

Es konnten nur einige Proben angeführt werden, aber sie zeigen wohl zur
Genüge, daß unsere Sprache einen großen Reichtum an brauchbaren Mitteln
für ihre Weiterentwicklung hat. Für die unaufhörliche Erneuerung ihres Be¬
standes hat sie in dem Bedeutungswandel einen starken Bundesgenossen. Wie
dieser wirksam war, daß das heidnische Wort Ostern einen christlichen Inhalt
erhielt, das mittelalterliche Wort Frauenzimmer an Stelle des Wohnortes die
Frau bezeichnete und Kamerad nicht mehr den Stubengenossen bedeutet, sondern
einen weit umfassenderen Begriff bekam, so gibt er auch heute noch den Wörtern
auf ihrer Wanderschaft einen den Verhältnissen sich anpassenden Sinn. Ihren
Grund hat diese sprachliche Erscheinung darin, daß zwischen Begriff und Wort


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[0196] Sprachroinigung denkens, um sich von der Haltlosigkeit zu überzeugen, auf denen diese Fürsprache für die Fremdwörter beruht. Wenn auch die Ansprüche, die an die Lebensfähigkeit eines deutschen Wortes zu stelle« sind, durch die Übersetzung nicht immer befriedigt werden können, so verfügt doch unsere Sprache bei ihrer unbegrenzten Gestaltungskraft noch über andere Mittel zu ihrer Bereicherung. Eine unerschöpfliche Quelle für ihren Wortbedarf und zugleich ein großer Vorzug vor den übrigen lebenden Sprachen ist ihre Fähigkeit zur Neubildung von Wörtern. Davon zeugen Würzelwörter wie Reiz, Gefühl; Ableitungen wie Urlauber, Umschalter, Wähler; Zusammen¬ setzungen mit einem Verhältniswort wie Anschlag. Nachdruck, Umsicht oder mit einer Endung wie Emporkömmling, Prüfung. Zögling, Gesamtheit, Mehrheit, Rechtschaffenheit, Volkstum, Deutschtum, Königtum, — lauter Wörter aus dem siebzehnten bis neunzehnten Jahrhundert, ganz zu schweigen von den zahllosen Schöpfungen der Sprache während ihrer ganzen Lebensgeschichte. Größeren Wert als auf die Neubildungen legen manche auf die Wieder¬ einführung alter Wörter, weil es, um mit Lessing zu reden, bei den neuen Wörtern ungewiß ist, ob ihr Stempel ihnen den rechten Lauf so bald geben möchte. So hat die Verwendung der Wörter Hort und Heim bei Zusammen¬ setzungen wie Kinderhort, Töchterhort, Soldatenheim, Altersheim und vielen anderen zu glücklichen Wortbildungen geführt. Eine reiche Fundgrube für den Wortvorrat bilden auch die Fachsprachen. Wie die Wörter aufstöbern, Wind bekommen, wittern, Flagge, Ebbe, Flotte, Bucht, Reck, Holm, Barren beweisen, haben die Jäger, Seeleute und Hand¬ werker zu dem Wortschatz Beiträge geliefert, und auch die Studenten, Bergleute, Soldaten und andere Berufszweige sind dabei nicht zurückgeblieben, wie sich leicht an zahlreichen Entlehnungen aus ihrer Sprache dartun ließe. Endlich sind auch die lange zurückgesetzten Mundarten wieder zu Ehren gekommen, da die Sprachwissenschaft ihren unerschöpflichen Vorrat an sinnvollen und anschaulichen Ausdrücken als Bezugsquelle für den heutigen Wortbedarf nachgewiesen hat. Daß sie sogar gute, hochdeutsche Formen verdrängt und Schlucht für Schluft, Talg für Unschlitt, Nichte für Nistet durchgesetzt haben, ist ein Beweis von ihrem starken Einfluß auf die Sprachgestaltung. Es konnten nur einige Proben angeführt werden, aber sie zeigen wohl zur Genüge, daß unsere Sprache einen großen Reichtum an brauchbaren Mitteln für ihre Weiterentwicklung hat. Für die unaufhörliche Erneuerung ihres Be¬ standes hat sie in dem Bedeutungswandel einen starken Bundesgenossen. Wie dieser wirksam war, daß das heidnische Wort Ostern einen christlichen Inhalt erhielt, das mittelalterliche Wort Frauenzimmer an Stelle des Wohnortes die Frau bezeichnete und Kamerad nicht mehr den Stubengenossen bedeutet, sondern einen weit umfassenderen Begriff bekam, so gibt er auch heute noch den Wörtern auf ihrer Wanderschaft einen den Verhältnissen sich anpassenden Sinn. Ihren Grund hat diese sprachliche Erscheinung darin, daß zwischen Begriff und Wort

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/196>, abgerufen am 02.07.2024.