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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das belgische Problem
cLin Ruck- und Vorausblick
v Alfred Rnhemann on

MS
MAscum man durch fast zwei Jahrzehnte den Pulsschlag einer Nation
mitempfunden und miterlebt hat, ohne die eigene Individualität
und die eigene Nationalität aufzugeben oder zu vergessen, so kommt
einem in einer Zeit wie der gegenwärtigen die Erkenntnis so
manchen Umstandes ausländischen Lebens, der vorher unberücksichtigt
geblieben war. Das politische Gewissen wird wacher, die Gleichgültigkeit gegen¬
über den alltäglichen Ereignissen schwindet, und wie dem Soldaten das Gewehr,
so wird die Kritik zur zielbewußter Waffe, die nur einer guten Sache dienen
darf: der aufklärenden Wahrheit.

Diese Wahrheit verpflichtet mich, Belgien nicht in Grund und Boden zu
verdammen, nur weil es sich von einer falschen Politik hat leiten lassen, weil
eine Horde Verblendeter geglaubt hat, dem Lande am besten zu dienen, indem
sie noch weiter ging, als es die eigene Regierung, der eigene König je beabsichtigt
und gewollt hat. Wohl aber muß ich dieses Land beklagen, das von jeher alle
seine Vorteile verkannt hat, weil es sich seit seiner Neugestaltung im Jahre 1830
von derselben falschen Politik hat verführen lassen, deren für Belgien betrübendes
Endergebnis jetzt zur Katastrophe geführt hat. Seit im Jahre 1832 die Belgier
die Franzosen zu Hilfe holen mußten, um die Holländer aus der Zitadelle von
Antwerpen zu verjagen, die sie zwei Jahre hindurch diesen bisherigen Landes¬
genossen aus eigener Kraft nicht zu entreißen vermocht hatten, glaubte das
Gefühl ihrer Dankbarkeit, gepaart mit dem ihrer ohnmächtigen Schwäche,
sie dem starken Nachbar auf ewig zu verpflichten. Seitdem hingen Belgiens
Augen nur noch an Paris. Von dort kam Leopold dem Ersten, dem erwählten
ersten belgischen Könige aus dem Koburger Hause die Gattin in Gestalt einer
Tochter Louis Philipps, von dort der Anstoß zur Bekämpfung des Vlamentums,
das trotzdem, unter Verkennung der engen Verwandtschaft mit dem niederlän¬
dischen Element, in den wenigen blutigen Zusammenstößen mit den Holländern
fast allein den Sieg errungen und damit zum Eckpfeiler des neuen Reiches,
eines vlämischen, wie es wohl gehofft hatte, geworden war. Wäre es




Das belgische Problem
cLin Ruck- und Vorausblick
v Alfred Rnhemann on

MS
MAscum man durch fast zwei Jahrzehnte den Pulsschlag einer Nation
mitempfunden und miterlebt hat, ohne die eigene Individualität
und die eigene Nationalität aufzugeben oder zu vergessen, so kommt
einem in einer Zeit wie der gegenwärtigen die Erkenntnis so
manchen Umstandes ausländischen Lebens, der vorher unberücksichtigt
geblieben war. Das politische Gewissen wird wacher, die Gleichgültigkeit gegen¬
über den alltäglichen Ereignissen schwindet, und wie dem Soldaten das Gewehr,
so wird die Kritik zur zielbewußter Waffe, die nur einer guten Sache dienen
darf: der aufklärenden Wahrheit.

Diese Wahrheit verpflichtet mich, Belgien nicht in Grund und Boden zu
verdammen, nur weil es sich von einer falschen Politik hat leiten lassen, weil
eine Horde Verblendeter geglaubt hat, dem Lande am besten zu dienen, indem
sie noch weiter ging, als es die eigene Regierung, der eigene König je beabsichtigt
und gewollt hat. Wohl aber muß ich dieses Land beklagen, das von jeher alle
seine Vorteile verkannt hat, weil es sich seit seiner Neugestaltung im Jahre 1830
von derselben falschen Politik hat verführen lassen, deren für Belgien betrübendes
Endergebnis jetzt zur Katastrophe geführt hat. Seit im Jahre 1832 die Belgier
die Franzosen zu Hilfe holen mußten, um die Holländer aus der Zitadelle von
Antwerpen zu verjagen, die sie zwei Jahre hindurch diesen bisherigen Landes¬
genossen aus eigener Kraft nicht zu entreißen vermocht hatten, glaubte das
Gefühl ihrer Dankbarkeit, gepaart mit dem ihrer ohnmächtigen Schwäche,
sie dem starken Nachbar auf ewig zu verpflichten. Seitdem hingen Belgiens
Augen nur noch an Paris. Von dort kam Leopold dem Ersten, dem erwählten
ersten belgischen Könige aus dem Koburger Hause die Gattin in Gestalt einer
Tochter Louis Philipps, von dort der Anstoß zur Bekämpfung des Vlamentums,
das trotzdem, unter Verkennung der engen Verwandtschaft mit dem niederlän¬
dischen Element, in den wenigen blutigen Zusammenstößen mit den Holländern
fast allein den Sieg errungen und damit zum Eckpfeiler des neuen Reiches,
eines vlämischen, wie es wohl gehofft hatte, geworden war. Wäre es


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[0019] [Abbildung] Das belgische Problem cLin Ruck- und Vorausblick v Alfred Rnhemann on MS MAscum man durch fast zwei Jahrzehnte den Pulsschlag einer Nation mitempfunden und miterlebt hat, ohne die eigene Individualität und die eigene Nationalität aufzugeben oder zu vergessen, so kommt einem in einer Zeit wie der gegenwärtigen die Erkenntnis so manchen Umstandes ausländischen Lebens, der vorher unberücksichtigt geblieben war. Das politische Gewissen wird wacher, die Gleichgültigkeit gegen¬ über den alltäglichen Ereignissen schwindet, und wie dem Soldaten das Gewehr, so wird die Kritik zur zielbewußter Waffe, die nur einer guten Sache dienen darf: der aufklärenden Wahrheit. Diese Wahrheit verpflichtet mich, Belgien nicht in Grund und Boden zu verdammen, nur weil es sich von einer falschen Politik hat leiten lassen, weil eine Horde Verblendeter geglaubt hat, dem Lande am besten zu dienen, indem sie noch weiter ging, als es die eigene Regierung, der eigene König je beabsichtigt und gewollt hat. Wohl aber muß ich dieses Land beklagen, das von jeher alle seine Vorteile verkannt hat, weil es sich seit seiner Neugestaltung im Jahre 1830 von derselben falschen Politik hat verführen lassen, deren für Belgien betrübendes Endergebnis jetzt zur Katastrophe geführt hat. Seit im Jahre 1832 die Belgier die Franzosen zu Hilfe holen mußten, um die Holländer aus der Zitadelle von Antwerpen zu verjagen, die sie zwei Jahre hindurch diesen bisherigen Landes¬ genossen aus eigener Kraft nicht zu entreißen vermocht hatten, glaubte das Gefühl ihrer Dankbarkeit, gepaart mit dem ihrer ohnmächtigen Schwäche, sie dem starken Nachbar auf ewig zu verpflichten. Seitdem hingen Belgiens Augen nur noch an Paris. Von dort kam Leopold dem Ersten, dem erwählten ersten belgischen Könige aus dem Koburger Hause die Gattin in Gestalt einer Tochter Louis Philipps, von dort der Anstoß zur Bekämpfung des Vlamentums, das trotzdem, unter Verkennung der engen Verwandtschaft mit dem niederlän¬ dischen Element, in den wenigen blutigen Zusammenstößen mit den Holländern fast allein den Sieg errungen und damit zum Eckpfeiler des neuen Reiches, eines vlämischen, wie es wohl gehofft hatte, geworden war. Wäre es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/19>, abgerufen am 30.06.2024.