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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem der Ukraina

Auch in wirtschaftlicher Beziehung hat sich seit der Polenherrschaft, seit den
Haidamaken - Aufständen und seit der Angliederung der Ukraina an Rußland
manches in der Welt geändert. Mit der Entwicklung der Hausgewerbe zur Industrie,
mit dem Bau von Eisenbahnen und dem Übergang der Naturalwirtschaft zur
Geldwirtschaft bei gleichzeitiger Verdrängung türkischer Stämme aus Südrußland,
wo doch die nahegelegene Küste des Schwarzen Meeres eine besondere Anziehungs¬
kraft auf die an den südlich strömenden Flüssen wohnenden Produzenten ausüben
mußte, bekamen nur die genannten Stapelplätze im Norden um so größere
Bedeutung: das Steppengebiet blieb aber auch nach der Besiedlung durch Deutsche
trotz seiner wirtschaftspolitischen Bedeutung für Rußland ohne Einfluß auf die
nationale Regeneration der Ukraina. Die Stromschnellen des Dujepr
hinderten scheinbar alle Entwicklung zu Tal, aber nicht zu Berg! Das Gebiet
hat eine durchaus neue Anregung erst durch den Anschluß Rußlands an den
Westen Europas, durch die Entwicklung aller Zweige der Technik bekommen: die
Tieflage des Grundwassers ist heute, nachdem Tausende von deutschen Kolonisten
das Land erschlossen haben, kein ausschlaggebender Grund mehr gegen eine
Besiedelung des südlichen Steppengebiets durch indigene Bauern, die Steilheit der
Küste kein unüberwindliches Hindernis für Hafenbauten; die Juduftriealisierung
Westeuropas mit ihrem ungeheuren Bedarf an Brodgetreide hat es den Bewohnern
der südlichen Ukraina ermöglicht, diese zu einer der bedeutendsten Kornkammern
der Erde zu machen, wodurch sie wiederum befähigt wird, einen sehr bedeutenden
Teil der Jndustrieerzeugnisse aus dem Donezbecken und von Kriwojrog
selbst zu verbrauchen; sie würde sogar imstande sein, in dieser Hinsicht vom
Absatzmarkt des moskowitischen Rußland unabhängig zu werden und Moskowien
die Preise zu diktieren, weil dieses sonst keine nennenswert erschlossene Erz-
und Kohlengruben besitzt. Freigestellt müßte der Ukraina nur werden, die
natürlichen und künstlichen Ausfuhrwege zum Schwarzen Meer zu verbessern
und auszubauen. Das aber verhindert die russische Regierung systematisch: sie
will, daß der Handel der Ukraina in Abhängigkeit von Moskau bleibe und daß
seine Richtung die nordöstliche Tendenz beibehalte. Darum ist die heutige
Ukraina der alten gleich: wie zu allen Zeiten geht die Tendenz des Handels
nach Norden resp. Nordosten. Die Transportziffern der Eisenbahnen und
die Berichte der Banken weisen in dieselbe Richtung. Die westöstlich
gerichtete Linie Kijew - Charkow weist über Moskau nach Nishni - Nowgorod
und weiter nach Sibirien. Moskau ist das Handelszentrum von Nußland
geworden, sein Zentralstapelplatz und Umschlagsmarkt für Asien und Europa.
Ein russisches Hamburg gibt es nicht, obwohl Odessa durch die Reichtümer
seines Hinterlandes und die Nähe von Eisen und Kohle einer der größten Ausfuhr¬
häfen der Welt sein könnte. Odessa hat, steht man vom Getreideexport ab, als Durch¬
gangsplatz, der wegen Abwesenheit einer nennenswerten Verarbeitungsindustrie
keinen direkten Einfluß auf die umliegenden Gebiete ausübt, vor allen Dingen
als Anlegeplatz für den Kabotagehandel auf dem Schwarzen Meer Bedeutung.


Das Problem der Ukraina

Auch in wirtschaftlicher Beziehung hat sich seit der Polenherrschaft, seit den
Haidamaken - Aufständen und seit der Angliederung der Ukraina an Rußland
manches in der Welt geändert. Mit der Entwicklung der Hausgewerbe zur Industrie,
mit dem Bau von Eisenbahnen und dem Übergang der Naturalwirtschaft zur
Geldwirtschaft bei gleichzeitiger Verdrängung türkischer Stämme aus Südrußland,
wo doch die nahegelegene Küste des Schwarzen Meeres eine besondere Anziehungs¬
kraft auf die an den südlich strömenden Flüssen wohnenden Produzenten ausüben
mußte, bekamen nur die genannten Stapelplätze im Norden um so größere
Bedeutung: das Steppengebiet blieb aber auch nach der Besiedlung durch Deutsche
trotz seiner wirtschaftspolitischen Bedeutung für Rußland ohne Einfluß auf die
nationale Regeneration der Ukraina. Die Stromschnellen des Dujepr
hinderten scheinbar alle Entwicklung zu Tal, aber nicht zu Berg! Das Gebiet
hat eine durchaus neue Anregung erst durch den Anschluß Rußlands an den
Westen Europas, durch die Entwicklung aller Zweige der Technik bekommen: die
Tieflage des Grundwassers ist heute, nachdem Tausende von deutschen Kolonisten
das Land erschlossen haben, kein ausschlaggebender Grund mehr gegen eine
Besiedelung des südlichen Steppengebiets durch indigene Bauern, die Steilheit der
Küste kein unüberwindliches Hindernis für Hafenbauten; die Juduftriealisierung
Westeuropas mit ihrem ungeheuren Bedarf an Brodgetreide hat es den Bewohnern
der südlichen Ukraina ermöglicht, diese zu einer der bedeutendsten Kornkammern
der Erde zu machen, wodurch sie wiederum befähigt wird, einen sehr bedeutenden
Teil der Jndustrieerzeugnisse aus dem Donezbecken und von Kriwojrog
selbst zu verbrauchen; sie würde sogar imstande sein, in dieser Hinsicht vom
Absatzmarkt des moskowitischen Rußland unabhängig zu werden und Moskowien
die Preise zu diktieren, weil dieses sonst keine nennenswert erschlossene Erz-
und Kohlengruben besitzt. Freigestellt müßte der Ukraina nur werden, die
natürlichen und künstlichen Ausfuhrwege zum Schwarzen Meer zu verbessern
und auszubauen. Das aber verhindert die russische Regierung systematisch: sie
will, daß der Handel der Ukraina in Abhängigkeit von Moskau bleibe und daß
seine Richtung die nordöstliche Tendenz beibehalte. Darum ist die heutige
Ukraina der alten gleich: wie zu allen Zeiten geht die Tendenz des Handels
nach Norden resp. Nordosten. Die Transportziffern der Eisenbahnen und
die Berichte der Banken weisen in dieselbe Richtung. Die westöstlich
gerichtete Linie Kijew - Charkow weist über Moskau nach Nishni - Nowgorod
und weiter nach Sibirien. Moskau ist das Handelszentrum von Nußland
geworden, sein Zentralstapelplatz und Umschlagsmarkt für Asien und Europa.
Ein russisches Hamburg gibt es nicht, obwohl Odessa durch die Reichtümer
seines Hinterlandes und die Nähe von Eisen und Kohle einer der größten Ausfuhr¬
häfen der Welt sein könnte. Odessa hat, steht man vom Getreideexport ab, als Durch¬
gangsplatz, der wegen Abwesenheit einer nennenswerten Verarbeitungsindustrie
keinen direkten Einfluß auf die umliegenden Gebiete ausübt, vor allen Dingen
als Anlegeplatz für den Kabotagehandel auf dem Schwarzen Meer Bedeutung.


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[0184] Das Problem der Ukraina Auch in wirtschaftlicher Beziehung hat sich seit der Polenherrschaft, seit den Haidamaken - Aufständen und seit der Angliederung der Ukraina an Rußland manches in der Welt geändert. Mit der Entwicklung der Hausgewerbe zur Industrie, mit dem Bau von Eisenbahnen und dem Übergang der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft bei gleichzeitiger Verdrängung türkischer Stämme aus Südrußland, wo doch die nahegelegene Küste des Schwarzen Meeres eine besondere Anziehungs¬ kraft auf die an den südlich strömenden Flüssen wohnenden Produzenten ausüben mußte, bekamen nur die genannten Stapelplätze im Norden um so größere Bedeutung: das Steppengebiet blieb aber auch nach der Besiedlung durch Deutsche trotz seiner wirtschaftspolitischen Bedeutung für Rußland ohne Einfluß auf die nationale Regeneration der Ukraina. Die Stromschnellen des Dujepr hinderten scheinbar alle Entwicklung zu Tal, aber nicht zu Berg! Das Gebiet hat eine durchaus neue Anregung erst durch den Anschluß Rußlands an den Westen Europas, durch die Entwicklung aller Zweige der Technik bekommen: die Tieflage des Grundwassers ist heute, nachdem Tausende von deutschen Kolonisten das Land erschlossen haben, kein ausschlaggebender Grund mehr gegen eine Besiedelung des südlichen Steppengebiets durch indigene Bauern, die Steilheit der Küste kein unüberwindliches Hindernis für Hafenbauten; die Juduftriealisierung Westeuropas mit ihrem ungeheuren Bedarf an Brodgetreide hat es den Bewohnern der südlichen Ukraina ermöglicht, diese zu einer der bedeutendsten Kornkammern der Erde zu machen, wodurch sie wiederum befähigt wird, einen sehr bedeutenden Teil der Jndustrieerzeugnisse aus dem Donezbecken und von Kriwojrog selbst zu verbrauchen; sie würde sogar imstande sein, in dieser Hinsicht vom Absatzmarkt des moskowitischen Rußland unabhängig zu werden und Moskowien die Preise zu diktieren, weil dieses sonst keine nennenswert erschlossene Erz- und Kohlengruben besitzt. Freigestellt müßte der Ukraina nur werden, die natürlichen und künstlichen Ausfuhrwege zum Schwarzen Meer zu verbessern und auszubauen. Das aber verhindert die russische Regierung systematisch: sie will, daß der Handel der Ukraina in Abhängigkeit von Moskau bleibe und daß seine Richtung die nordöstliche Tendenz beibehalte. Darum ist die heutige Ukraina der alten gleich: wie zu allen Zeiten geht die Tendenz des Handels nach Norden resp. Nordosten. Die Transportziffern der Eisenbahnen und die Berichte der Banken weisen in dieselbe Richtung. Die westöstlich gerichtete Linie Kijew - Charkow weist über Moskau nach Nishni - Nowgorod und weiter nach Sibirien. Moskau ist das Handelszentrum von Nußland geworden, sein Zentralstapelplatz und Umschlagsmarkt für Asien und Europa. Ein russisches Hamburg gibt es nicht, obwohl Odessa durch die Reichtümer seines Hinterlandes und die Nähe von Eisen und Kohle einer der größten Ausfuhr¬ häfen der Welt sein könnte. Odessa hat, steht man vom Getreideexport ab, als Durch¬ gangsplatz, der wegen Abwesenheit einer nennenswerten Verarbeitungsindustrie keinen direkten Einfluß auf die umliegenden Gebiete ausübt, vor allen Dingen als Anlegeplatz für den Kabotagehandel auf dem Schwarzen Meer Bedeutung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/184>, abgerufen am 02.07.2024.