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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem der Ukraina

litauische Regierung gab das Land den Magnaten unter allerhand wirtschaft¬
lichen Privilegien. Die Magnaten beriefen Wanderarbeiter zur Landbestellung,
erbauten Städte und Flecken nach polnischer Art ähnlich wie in der Provinz
Posen mit Magdeburger Recht; sie schufen jüdische Niederlassungen, zogen
deutsche Handwerker heran, waren mit einem Wort um die möglichst intensive
Ausbeutung ihrer Latifundien in privatwirtschaftlichen Interesse besorgt. Das
gab zwar dem Binnenhandel neuen mächtigen Impuls, Jahrmärkte blühten auf.
aber weder von einem rechten Aufblühen des Landes und einer Entwicklung
des Handels zum Meere hin konnte die Rede sein, noch von der Erstarrung
staaterhaltender Organismen, da die breite Masse nicht zur Vermehrung und
Verbesserung der Gütererzeugung erzogen wurde. Das Hauptabsatzgebiet
blieb der Nordosten, Kijew verlor seine Bedeutung als Stapelplatz für
den Norden nicht, -- Charkow konnte als solcher für den Osten auf¬
blühen.

Aber einen wichtigen gesellschaftbildenden Faktor hat die Polenherrschaft
den Ukrainern, wenn auch ungewollt, doch gebracht: die Organisation der
Kosakenheere. Im Kampfe gegen die Tartaren, türkische Normaden, nordrussische
Räuber sowie gegen den polnischen Großgrundbesitz, der die einheimische
Bevölkerung durch die Juden exploitierte. war das Kosakentum entstanden, --
jene einzigartige militärische Organisation der Landbevölkerung, die sich im
Zeitraum von zwei bis drei Jahrhunderten einen Adel mit großem Landbesitz
und eine primitive, volkstümliche Bureaukratie geschaffen hatte, die durch und
durch demokratisch, wohl tüchtige Truppenführer und Gebietsverwalter (Hetman),
aber keine Monarchie hervorzubringen vermochte.

Die Schwäche des polnisch - litauischen Staates, die die sozialen Kämpfe,
wie sie in den Haidamakenaufständen ihren Ausdruck fanden, nicht vertragen
konnte, liefert dann den letzten wesentlichen Grund dafür, daß die Ukraina nicht
nicht mehr zur Selbständigkeit gekommen ist: die ukrainische Bevölkerung konnte
ihren sozialen Aufbau nicht beenden; zu früh trat an die Stelle der Herrschaft
der polnischen Magnaten die der zielbewußter Petersburger Bureaukratie. Sie
hat, nachdem sie die Kosakenaufstände genutzt hatte, den polnischen Staat zu
zerstören, nicht ganz hundertundfunfzig Jahre dazu gebraucht, um die Kosaken
ihrer Bedeutung als eines sozialen Rückgrats der Ukraina zu berauben, indem
sie sie in eine reguläre Truppe verwandelte. Die Kosaken, die gegenwärtig
mit unsere braven Truppen kämpfen, sind jetzt nicht anderes wie Kavalleristen,
aus allen Teilen des europäischen und asiatischen Rußlands zusamniengewürfelt,
deren Regimenter die alten Kosakentraditionen mit Einschluß des verwegenen
Haarschopfs, der schief sitzenden Mütze, der Nagaika und den Bezeichnungen
Hetman und Essaul übernommen haben. Im sozialen Aufbau der Kleinrussen
sind die alten Hetman und Essauly ersetzt durch die meist aus dem Petersburger
Beamtenadel hervorgegangene Adelsmarschälle, und die Svstemverwaltung, zu
der sich die Söhne der Ukraina drängen.


Das Problem der Ukraina

litauische Regierung gab das Land den Magnaten unter allerhand wirtschaft¬
lichen Privilegien. Die Magnaten beriefen Wanderarbeiter zur Landbestellung,
erbauten Städte und Flecken nach polnischer Art ähnlich wie in der Provinz
Posen mit Magdeburger Recht; sie schufen jüdische Niederlassungen, zogen
deutsche Handwerker heran, waren mit einem Wort um die möglichst intensive
Ausbeutung ihrer Latifundien in privatwirtschaftlichen Interesse besorgt. Das
gab zwar dem Binnenhandel neuen mächtigen Impuls, Jahrmärkte blühten auf.
aber weder von einem rechten Aufblühen des Landes und einer Entwicklung
des Handels zum Meere hin konnte die Rede sein, noch von der Erstarrung
staaterhaltender Organismen, da die breite Masse nicht zur Vermehrung und
Verbesserung der Gütererzeugung erzogen wurde. Das Hauptabsatzgebiet
blieb der Nordosten, Kijew verlor seine Bedeutung als Stapelplatz für
den Norden nicht, — Charkow konnte als solcher für den Osten auf¬
blühen.

Aber einen wichtigen gesellschaftbildenden Faktor hat die Polenherrschaft
den Ukrainern, wenn auch ungewollt, doch gebracht: die Organisation der
Kosakenheere. Im Kampfe gegen die Tartaren, türkische Normaden, nordrussische
Räuber sowie gegen den polnischen Großgrundbesitz, der die einheimische
Bevölkerung durch die Juden exploitierte. war das Kosakentum entstanden, —
jene einzigartige militärische Organisation der Landbevölkerung, die sich im
Zeitraum von zwei bis drei Jahrhunderten einen Adel mit großem Landbesitz
und eine primitive, volkstümliche Bureaukratie geschaffen hatte, die durch und
durch demokratisch, wohl tüchtige Truppenführer und Gebietsverwalter (Hetman),
aber keine Monarchie hervorzubringen vermochte.

Die Schwäche des polnisch - litauischen Staates, die die sozialen Kämpfe,
wie sie in den Haidamakenaufständen ihren Ausdruck fanden, nicht vertragen
konnte, liefert dann den letzten wesentlichen Grund dafür, daß die Ukraina nicht
nicht mehr zur Selbständigkeit gekommen ist: die ukrainische Bevölkerung konnte
ihren sozialen Aufbau nicht beenden; zu früh trat an die Stelle der Herrschaft
der polnischen Magnaten die der zielbewußter Petersburger Bureaukratie. Sie
hat, nachdem sie die Kosakenaufstände genutzt hatte, den polnischen Staat zu
zerstören, nicht ganz hundertundfunfzig Jahre dazu gebraucht, um die Kosaken
ihrer Bedeutung als eines sozialen Rückgrats der Ukraina zu berauben, indem
sie sie in eine reguläre Truppe verwandelte. Die Kosaken, die gegenwärtig
mit unsere braven Truppen kämpfen, sind jetzt nicht anderes wie Kavalleristen,
aus allen Teilen des europäischen und asiatischen Rußlands zusamniengewürfelt,
deren Regimenter die alten Kosakentraditionen mit Einschluß des verwegenen
Haarschopfs, der schief sitzenden Mütze, der Nagaika und den Bezeichnungen
Hetman und Essaul übernommen haben. Im sozialen Aufbau der Kleinrussen
sind die alten Hetman und Essauly ersetzt durch die meist aus dem Petersburger
Beamtenadel hervorgegangene Adelsmarschälle, und die Svstemverwaltung, zu
der sich die Söhne der Ukraina drängen.


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[0183] Das Problem der Ukraina litauische Regierung gab das Land den Magnaten unter allerhand wirtschaft¬ lichen Privilegien. Die Magnaten beriefen Wanderarbeiter zur Landbestellung, erbauten Städte und Flecken nach polnischer Art ähnlich wie in der Provinz Posen mit Magdeburger Recht; sie schufen jüdische Niederlassungen, zogen deutsche Handwerker heran, waren mit einem Wort um die möglichst intensive Ausbeutung ihrer Latifundien in privatwirtschaftlichen Interesse besorgt. Das gab zwar dem Binnenhandel neuen mächtigen Impuls, Jahrmärkte blühten auf. aber weder von einem rechten Aufblühen des Landes und einer Entwicklung des Handels zum Meere hin konnte die Rede sein, noch von der Erstarrung staaterhaltender Organismen, da die breite Masse nicht zur Vermehrung und Verbesserung der Gütererzeugung erzogen wurde. Das Hauptabsatzgebiet blieb der Nordosten, Kijew verlor seine Bedeutung als Stapelplatz für den Norden nicht, — Charkow konnte als solcher für den Osten auf¬ blühen. Aber einen wichtigen gesellschaftbildenden Faktor hat die Polenherrschaft den Ukrainern, wenn auch ungewollt, doch gebracht: die Organisation der Kosakenheere. Im Kampfe gegen die Tartaren, türkische Normaden, nordrussische Räuber sowie gegen den polnischen Großgrundbesitz, der die einheimische Bevölkerung durch die Juden exploitierte. war das Kosakentum entstanden, — jene einzigartige militärische Organisation der Landbevölkerung, die sich im Zeitraum von zwei bis drei Jahrhunderten einen Adel mit großem Landbesitz und eine primitive, volkstümliche Bureaukratie geschaffen hatte, die durch und durch demokratisch, wohl tüchtige Truppenführer und Gebietsverwalter (Hetman), aber keine Monarchie hervorzubringen vermochte. Die Schwäche des polnisch - litauischen Staates, die die sozialen Kämpfe, wie sie in den Haidamakenaufständen ihren Ausdruck fanden, nicht vertragen konnte, liefert dann den letzten wesentlichen Grund dafür, daß die Ukraina nicht nicht mehr zur Selbständigkeit gekommen ist: die ukrainische Bevölkerung konnte ihren sozialen Aufbau nicht beenden; zu früh trat an die Stelle der Herrschaft der polnischen Magnaten die der zielbewußter Petersburger Bureaukratie. Sie hat, nachdem sie die Kosakenaufstände genutzt hatte, den polnischen Staat zu zerstören, nicht ganz hundertundfunfzig Jahre dazu gebraucht, um die Kosaken ihrer Bedeutung als eines sozialen Rückgrats der Ukraina zu berauben, indem sie sie in eine reguläre Truppe verwandelte. Die Kosaken, die gegenwärtig mit unsere braven Truppen kämpfen, sind jetzt nicht anderes wie Kavalleristen, aus allen Teilen des europäischen und asiatischen Rußlands zusamniengewürfelt, deren Regimenter die alten Kosakentraditionen mit Einschluß des verwegenen Haarschopfs, der schief sitzenden Mütze, der Nagaika und den Bezeichnungen Hetman und Essaul übernommen haben. Im sozialen Aufbau der Kleinrussen sind die alten Hetman und Essauly ersetzt durch die meist aus dem Petersburger Beamtenadel hervorgegangene Adelsmarschälle, und die Svstemverwaltung, zu der sich die Söhne der Ukraina drängen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/183>, abgerufen am 02.07.2024.