Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Problem der Ukraina

Im Widerspruch zu diesen scheinbar günstigen natürlichen Vorbedingungen
zur Bildung eines unabhängigen Wirtschaftsgebietes, also auch zur Staaten¬
bildung, steht die Tatsache, daß die Ukraina als Ganzes niemals selbständig
gewesen ist. Nur in ihrem nordwestlichen Teil haben die Vorfahren der heutigen
Kleinrussen vor tausend Jahren ein Staatswesen mit Kijew und Tschernigow als
Mittelpunkt gründen können.

Ebenso im Widerspruch mit den natürlichen Vorbedingungen steht die
Beobachtung, daß, nachdem einmal der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt
der sarmatischen Ebene von Kijew nach Moskau verlegt werden konnte, dieser
Schwerpunkt bis aus die heutige Zeit nicht wieder nach Südwesten rückte, sondern
im Norden blieb.

Die Gründe für beide Tatsachen seien beleuchtet.

Zunächst die Bodengestaltung: die südrusstsche Steppe ist ein Hochplateau
mit steil zum Meere abfallenden Rändern. Die Flüsse, die zum Schwarzen
Meer streben, mußten sich durch dies Plateau durchnagen und haben diese
Täter gegraben. Sie geben das Niveau des Grundwasserstandes an, der sonnt
für die Ebene selbst so tief liegt, daß das Gebiet ohne künstliche Bewässerungsanlagen
zur Besiedelung ungeeignet ist. Die aus dem damaligen "Russj", Rotrußland,
heutigem Wolhynien und Podolien, gegen Süden vordringenden Kolonisatoren
waren daher auf die schmalen tiefen Flußtäler angewiesen. Die hochgelegene
Steppe war von Nomadenstämmen bevölkert, die jene Siedelungen ständig be¬
drohten. Gegen Norden und Osten war das Land dagegen offen und ebenso
fruchtbar wie im Süden. So ist es zu erklären, daß die Slawen, die von
den Vorkarpathen durch die Ebene nach Nordosten vordrangen, Kijew und
Tschernigow zu ihren politischen Stützpunkten machten. Von einem Handel nach
Süden wird in den Chroniken nur im Zusammenhang mit vom Süden
kommenden Händlern gesprochen. Der Handel im Norden der heutigen Ukraina
hob sich in dem Maße, wie auch die Besiedelung des Nordwestens der russischen
Ebene Fortschritte machte. Dorthin waren andere slawische Stämme nördlich
des Poleßje, des Waldgebiets, dnrch das heutige Litauen vorgedrungen. Dort
war aber das Russentum auch mit den aus dem Norden über Nowgorod her
eingedrungenen Warägern zusammengetroffen und hatte von ihm eine stärkere
staatliche Organisation entlehnt, der der schwache Kijewer Staat sich nicht als
gewachsen erwies.

Das scheint mir der zweite wichtige Grund für die heutige Unselbständigkeit
der Ukraina zu sein. In derselben Richtung wirkte dann das Erstarken des
litauischen Staates, der sich bald gegen Kijew hin auszudehnen begann, bis er
1569 in der Vereinigung mit Polen durch die Union von Ludim seine größte
Ausdehnung gewann. Die westlichen Ukrainer kamen unter die Herrschaft der
polnischen Magnaten, die östlichen hatten sich stets russischen Eindringens zu erwehren.

Das Erscheinen der Polen in der Ukraina hatte nun für die weitere
Entwicklung der westlichen Ukraina tief einschneidende Folgen. Die polnisch'


Das Problem der Ukraina

Im Widerspruch zu diesen scheinbar günstigen natürlichen Vorbedingungen
zur Bildung eines unabhängigen Wirtschaftsgebietes, also auch zur Staaten¬
bildung, steht die Tatsache, daß die Ukraina als Ganzes niemals selbständig
gewesen ist. Nur in ihrem nordwestlichen Teil haben die Vorfahren der heutigen
Kleinrussen vor tausend Jahren ein Staatswesen mit Kijew und Tschernigow als
Mittelpunkt gründen können.

Ebenso im Widerspruch mit den natürlichen Vorbedingungen steht die
Beobachtung, daß, nachdem einmal der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt
der sarmatischen Ebene von Kijew nach Moskau verlegt werden konnte, dieser
Schwerpunkt bis aus die heutige Zeit nicht wieder nach Südwesten rückte, sondern
im Norden blieb.

Die Gründe für beide Tatsachen seien beleuchtet.

Zunächst die Bodengestaltung: die südrusstsche Steppe ist ein Hochplateau
mit steil zum Meere abfallenden Rändern. Die Flüsse, die zum Schwarzen
Meer streben, mußten sich durch dies Plateau durchnagen und haben diese
Täter gegraben. Sie geben das Niveau des Grundwasserstandes an, der sonnt
für die Ebene selbst so tief liegt, daß das Gebiet ohne künstliche Bewässerungsanlagen
zur Besiedelung ungeeignet ist. Die aus dem damaligen „Russj", Rotrußland,
heutigem Wolhynien und Podolien, gegen Süden vordringenden Kolonisatoren
waren daher auf die schmalen tiefen Flußtäler angewiesen. Die hochgelegene
Steppe war von Nomadenstämmen bevölkert, die jene Siedelungen ständig be¬
drohten. Gegen Norden und Osten war das Land dagegen offen und ebenso
fruchtbar wie im Süden. So ist es zu erklären, daß die Slawen, die von
den Vorkarpathen durch die Ebene nach Nordosten vordrangen, Kijew und
Tschernigow zu ihren politischen Stützpunkten machten. Von einem Handel nach
Süden wird in den Chroniken nur im Zusammenhang mit vom Süden
kommenden Händlern gesprochen. Der Handel im Norden der heutigen Ukraina
hob sich in dem Maße, wie auch die Besiedelung des Nordwestens der russischen
Ebene Fortschritte machte. Dorthin waren andere slawische Stämme nördlich
des Poleßje, des Waldgebiets, dnrch das heutige Litauen vorgedrungen. Dort
war aber das Russentum auch mit den aus dem Norden über Nowgorod her
eingedrungenen Warägern zusammengetroffen und hatte von ihm eine stärkere
staatliche Organisation entlehnt, der der schwache Kijewer Staat sich nicht als
gewachsen erwies.

Das scheint mir der zweite wichtige Grund für die heutige Unselbständigkeit
der Ukraina zu sein. In derselben Richtung wirkte dann das Erstarken des
litauischen Staates, der sich bald gegen Kijew hin auszudehnen begann, bis er
1569 in der Vereinigung mit Polen durch die Union von Ludim seine größte
Ausdehnung gewann. Die westlichen Ukrainer kamen unter die Herrschaft der
polnischen Magnaten, die östlichen hatten sich stets russischen Eindringens zu erwehren.

Das Erscheinen der Polen in der Ukraina hatte nun für die weitere
Entwicklung der westlichen Ukraina tief einschneidende Folgen. Die polnisch'


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329410"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Problem der Ukraina</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_592"> Im Widerspruch zu diesen scheinbar günstigen natürlichen Vorbedingungen<lb/>
zur Bildung eines unabhängigen Wirtschaftsgebietes, also auch zur Staaten¬<lb/>
bildung, steht die Tatsache, daß die Ukraina als Ganzes niemals selbständig<lb/>
gewesen ist. Nur in ihrem nordwestlichen Teil haben die Vorfahren der heutigen<lb/>
Kleinrussen vor tausend Jahren ein Staatswesen mit Kijew und Tschernigow als<lb/>
Mittelpunkt gründen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_593"> Ebenso im Widerspruch mit den natürlichen Vorbedingungen steht die<lb/>
Beobachtung, daß, nachdem einmal der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt<lb/>
der sarmatischen Ebene von Kijew nach Moskau verlegt werden konnte, dieser<lb/>
Schwerpunkt bis aus die heutige Zeit nicht wieder nach Südwesten rückte, sondern<lb/>
im Norden blieb.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_594"> Die Gründe für beide Tatsachen seien beleuchtet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_595"> Zunächst die Bodengestaltung: die südrusstsche Steppe ist ein Hochplateau<lb/>
mit steil zum Meere abfallenden Rändern. Die Flüsse, die zum Schwarzen<lb/>
Meer streben, mußten sich durch dies Plateau durchnagen und haben diese<lb/>
Täter gegraben. Sie geben das Niveau des Grundwasserstandes an, der sonnt<lb/>
für die Ebene selbst so tief liegt, daß das Gebiet ohne künstliche Bewässerungsanlagen<lb/>
zur Besiedelung ungeeignet ist. Die aus dem damaligen &#x201E;Russj", Rotrußland,<lb/>
heutigem Wolhynien und Podolien, gegen Süden vordringenden Kolonisatoren<lb/>
waren daher auf die schmalen tiefen Flußtäler angewiesen. Die hochgelegene<lb/>
Steppe war von Nomadenstämmen bevölkert, die jene Siedelungen ständig be¬<lb/>
drohten. Gegen Norden und Osten war das Land dagegen offen und ebenso<lb/>
fruchtbar wie im Süden. So ist es zu erklären, daß die Slawen, die von<lb/>
den Vorkarpathen durch die Ebene nach Nordosten vordrangen, Kijew und<lb/>
Tschernigow zu ihren politischen Stützpunkten machten. Von einem Handel nach<lb/>
Süden wird in den Chroniken nur im Zusammenhang mit vom Süden<lb/>
kommenden Händlern gesprochen. Der Handel im Norden der heutigen Ukraina<lb/>
hob sich in dem Maße, wie auch die Besiedelung des Nordwestens der russischen<lb/>
Ebene Fortschritte machte. Dorthin waren andere slawische Stämme nördlich<lb/>
des Poleßje, des Waldgebiets, dnrch das heutige Litauen vorgedrungen. Dort<lb/>
war aber das Russentum auch mit den aus dem Norden über Nowgorod her<lb/>
eingedrungenen Warägern zusammengetroffen und hatte von ihm eine stärkere<lb/>
staatliche Organisation entlehnt, der der schwache Kijewer Staat sich nicht als<lb/>
gewachsen erwies.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_596"> Das scheint mir der zweite wichtige Grund für die heutige Unselbständigkeit<lb/>
der Ukraina zu sein. In derselben Richtung wirkte dann das Erstarken des<lb/>
litauischen Staates, der sich bald gegen Kijew hin auszudehnen begann, bis er<lb/>
1569 in der Vereinigung mit Polen durch die Union von Ludim seine größte<lb/>
Ausdehnung gewann. Die westlichen Ukrainer kamen unter die Herrschaft der<lb/>
polnischen Magnaten, die östlichen hatten sich stets russischen Eindringens zu erwehren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_597" next="#ID_598"> Das Erscheinen der Polen in der Ukraina hatte nun für die weitere<lb/>
Entwicklung der westlichen Ukraina tief einschneidende Folgen.  Die polnisch'</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0182] Das Problem der Ukraina Im Widerspruch zu diesen scheinbar günstigen natürlichen Vorbedingungen zur Bildung eines unabhängigen Wirtschaftsgebietes, also auch zur Staaten¬ bildung, steht die Tatsache, daß die Ukraina als Ganzes niemals selbständig gewesen ist. Nur in ihrem nordwestlichen Teil haben die Vorfahren der heutigen Kleinrussen vor tausend Jahren ein Staatswesen mit Kijew und Tschernigow als Mittelpunkt gründen können. Ebenso im Widerspruch mit den natürlichen Vorbedingungen steht die Beobachtung, daß, nachdem einmal der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt der sarmatischen Ebene von Kijew nach Moskau verlegt werden konnte, dieser Schwerpunkt bis aus die heutige Zeit nicht wieder nach Südwesten rückte, sondern im Norden blieb. Die Gründe für beide Tatsachen seien beleuchtet. Zunächst die Bodengestaltung: die südrusstsche Steppe ist ein Hochplateau mit steil zum Meere abfallenden Rändern. Die Flüsse, die zum Schwarzen Meer streben, mußten sich durch dies Plateau durchnagen und haben diese Täter gegraben. Sie geben das Niveau des Grundwasserstandes an, der sonnt für die Ebene selbst so tief liegt, daß das Gebiet ohne künstliche Bewässerungsanlagen zur Besiedelung ungeeignet ist. Die aus dem damaligen „Russj", Rotrußland, heutigem Wolhynien und Podolien, gegen Süden vordringenden Kolonisatoren waren daher auf die schmalen tiefen Flußtäler angewiesen. Die hochgelegene Steppe war von Nomadenstämmen bevölkert, die jene Siedelungen ständig be¬ drohten. Gegen Norden und Osten war das Land dagegen offen und ebenso fruchtbar wie im Süden. So ist es zu erklären, daß die Slawen, die von den Vorkarpathen durch die Ebene nach Nordosten vordrangen, Kijew und Tschernigow zu ihren politischen Stützpunkten machten. Von einem Handel nach Süden wird in den Chroniken nur im Zusammenhang mit vom Süden kommenden Händlern gesprochen. Der Handel im Norden der heutigen Ukraina hob sich in dem Maße, wie auch die Besiedelung des Nordwestens der russischen Ebene Fortschritte machte. Dorthin waren andere slawische Stämme nördlich des Poleßje, des Waldgebiets, dnrch das heutige Litauen vorgedrungen. Dort war aber das Russentum auch mit den aus dem Norden über Nowgorod her eingedrungenen Warägern zusammengetroffen und hatte von ihm eine stärkere staatliche Organisation entlehnt, der der schwache Kijewer Staat sich nicht als gewachsen erwies. Das scheint mir der zweite wichtige Grund für die heutige Unselbständigkeit der Ukraina zu sein. In derselben Richtung wirkte dann das Erstarken des litauischen Staates, der sich bald gegen Kijew hin auszudehnen begann, bis er 1569 in der Vereinigung mit Polen durch die Union von Ludim seine größte Ausdehnung gewann. Die westlichen Ukrainer kamen unter die Herrschaft der polnischen Magnaten, die östlichen hatten sich stets russischen Eindringens zu erwehren. Das Erscheinen der Polen in der Ukraina hatte nun für die weitere Entwicklung der westlichen Ukraina tief einschneidende Folgen. Die polnisch'

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/182
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/182>, abgerufen am 02.07.2024.