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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem dor Ukraina

Begriffs überhaupt nichts wissen, ihnen ist Ukraina die Bezeichnung für eine
bestimmte kleinrussische Dialektpoesie und sie glauben sie damit jeden politischen
Inhalts zu entkleiden (Russisches encyklopädisches Wörterbuch. Band 63). Die
Moskowiter können sich für ihre Auffassung auf die Geschichte des Vereins
"Staraja Gromada" stützen, der, 1859 in Kijew als politischer Studentenverein ins
Leben getreten ist und bis 1910 etwa (zuletzt fünfundzwanzig Jahre hindurch) als
literarische Gesellschaft ohne jede politische Bedeutung bestanden hat. Noch in
der ersten Hälfte der achtzehnhundertundachtziger Jahre stand die "Staraja
Gromada" ganz unter dem Einfluß des bekannten russischen Autonomisten
M. P. Dragomanow; bald nach seinem Ausscheiden 1887 blieb ihr einziges
Ziel die Pflege des literarischen Nachlasses des Dichters Schewtschenko.

Wollte irgend eine politische Macht die Wünsche derjenigen Kreise voll
befriedigen die in Deutschland als Ukrainophilen schlechthin bekannt Stro, so
müßte sie den Ukrainern etwa ein Fünftel des europäischen Rußland, zwei
Drittel Galiziens und ein Fünftel Ungarns staatlich sicherstellen.

Vorausgesetzt nun, daß die Ukrainer dies ganze Gebiet wirklich auch ethno¬
graphisch bedeckt haben, tritt die wichtige Frage in ihre Rechte, ob eine Ukraina
in dem gekennzeichneten Umfange auch ein politisch lebensfähiges Gebilde abgäbe,
ein Staatswesen, das nicht beim ersten Versuch wieder dem feindlichen Nachbarn
oder Usurpator unterläge. Ein Staat ist im Zeitalter der Weltwirtschaft
nur lebensfähig, wenn sein Territorium, enthielte es auch die größten Reich¬
tümer, bei einer gewissen wirtschafts- und verkehrsgeographischen Geschlossenheit
eine ungehinderte Verbindung zu den Straßen des Weltverkehrs und zu seinen
Absatzmärkten besitzt, wenn seine Bevölkerung genügend große Wirtschaftsenergien
zu entwickeln vermag, um die Schätze des Landes zu heben und gegen ent¬
sprechende Einfuhrwerte vorteilhaft einzutauschen, einen genügend großen Eigen¬
verbrauch hat. und wenn schließlich die soziale Struktur des Volkes ein plan¬
mäßiges Zusammenwirken aller Volkskräfte nach innen und außen möglich
macht. -- Der Bildung einer mehr oder minder selbständigen Ukraina steht
der moskowitisch - petrograder Staatsgedanke entgegen. Seit tausend Jahren,
als Kijew noch den Schwerpunkt Rußlands bildete, haben sich alle Verhältnisse
nach und nach zugunsten Moskaus verschoben. Und als im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert die Ukraina durch den inneren Zerfall des polnisch-
littauischen Reiches gleich diesem zwischen Moskau und die aufstrebenden Staaten
Mitteleuropas gestellt ward, wurde sie vom Westen abgelöst und an das neue Ru߬
land Peters des Großen gedrängt, das alle Gewähr für die nationale Selbständigkeit
zu bieten schien. Für den heutigen russischen Staat würde die Rückentwicklung
von einem stark zentralisierten Nationalstaat zu einem Nationalitätenstaate eine
nicht zu unterschätzende Gefahr bedeuten. Nicht so für ein liberales und fried¬
liebendes Russenlum. Diesem bedeutete es die Schöpfung einer neuen nationalen
Kraftquelle, mit deren Hilfe die Oftslawen eine bisher ungeahnte Rolle unter
den Weltvölkern spielen könnten. Und hiermit sowie durch ihre wirtschafts-


Das Problem dor Ukraina

Begriffs überhaupt nichts wissen, ihnen ist Ukraina die Bezeichnung für eine
bestimmte kleinrussische Dialektpoesie und sie glauben sie damit jeden politischen
Inhalts zu entkleiden (Russisches encyklopädisches Wörterbuch. Band 63). Die
Moskowiter können sich für ihre Auffassung auf die Geschichte des Vereins
„Staraja Gromada" stützen, der, 1859 in Kijew als politischer Studentenverein ins
Leben getreten ist und bis 1910 etwa (zuletzt fünfundzwanzig Jahre hindurch) als
literarische Gesellschaft ohne jede politische Bedeutung bestanden hat. Noch in
der ersten Hälfte der achtzehnhundertundachtziger Jahre stand die „Staraja
Gromada" ganz unter dem Einfluß des bekannten russischen Autonomisten
M. P. Dragomanow; bald nach seinem Ausscheiden 1887 blieb ihr einziges
Ziel die Pflege des literarischen Nachlasses des Dichters Schewtschenko.

Wollte irgend eine politische Macht die Wünsche derjenigen Kreise voll
befriedigen die in Deutschland als Ukrainophilen schlechthin bekannt Stro, so
müßte sie den Ukrainern etwa ein Fünftel des europäischen Rußland, zwei
Drittel Galiziens und ein Fünftel Ungarns staatlich sicherstellen.

Vorausgesetzt nun, daß die Ukrainer dies ganze Gebiet wirklich auch ethno¬
graphisch bedeckt haben, tritt die wichtige Frage in ihre Rechte, ob eine Ukraina
in dem gekennzeichneten Umfange auch ein politisch lebensfähiges Gebilde abgäbe,
ein Staatswesen, das nicht beim ersten Versuch wieder dem feindlichen Nachbarn
oder Usurpator unterläge. Ein Staat ist im Zeitalter der Weltwirtschaft
nur lebensfähig, wenn sein Territorium, enthielte es auch die größten Reich¬
tümer, bei einer gewissen wirtschafts- und verkehrsgeographischen Geschlossenheit
eine ungehinderte Verbindung zu den Straßen des Weltverkehrs und zu seinen
Absatzmärkten besitzt, wenn seine Bevölkerung genügend große Wirtschaftsenergien
zu entwickeln vermag, um die Schätze des Landes zu heben und gegen ent¬
sprechende Einfuhrwerte vorteilhaft einzutauschen, einen genügend großen Eigen¬
verbrauch hat. und wenn schließlich die soziale Struktur des Volkes ein plan¬
mäßiges Zusammenwirken aller Volkskräfte nach innen und außen möglich
macht. — Der Bildung einer mehr oder minder selbständigen Ukraina steht
der moskowitisch - petrograder Staatsgedanke entgegen. Seit tausend Jahren,
als Kijew noch den Schwerpunkt Rußlands bildete, haben sich alle Verhältnisse
nach und nach zugunsten Moskaus verschoben. Und als im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert die Ukraina durch den inneren Zerfall des polnisch-
littauischen Reiches gleich diesem zwischen Moskau und die aufstrebenden Staaten
Mitteleuropas gestellt ward, wurde sie vom Westen abgelöst und an das neue Ru߬
land Peters des Großen gedrängt, das alle Gewähr für die nationale Selbständigkeit
zu bieten schien. Für den heutigen russischen Staat würde die Rückentwicklung
von einem stark zentralisierten Nationalstaat zu einem Nationalitätenstaate eine
nicht zu unterschätzende Gefahr bedeuten. Nicht so für ein liberales und fried¬
liebendes Russenlum. Diesem bedeutete es die Schöpfung einer neuen nationalen
Kraftquelle, mit deren Hilfe die Oftslawen eine bisher ungeahnte Rolle unter
den Weltvölkern spielen könnten. Und hiermit sowie durch ihre wirtschafts-


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[0180] Das Problem dor Ukraina Begriffs überhaupt nichts wissen, ihnen ist Ukraina die Bezeichnung für eine bestimmte kleinrussische Dialektpoesie und sie glauben sie damit jeden politischen Inhalts zu entkleiden (Russisches encyklopädisches Wörterbuch. Band 63). Die Moskowiter können sich für ihre Auffassung auf die Geschichte des Vereins „Staraja Gromada" stützen, der, 1859 in Kijew als politischer Studentenverein ins Leben getreten ist und bis 1910 etwa (zuletzt fünfundzwanzig Jahre hindurch) als literarische Gesellschaft ohne jede politische Bedeutung bestanden hat. Noch in der ersten Hälfte der achtzehnhundertundachtziger Jahre stand die „Staraja Gromada" ganz unter dem Einfluß des bekannten russischen Autonomisten M. P. Dragomanow; bald nach seinem Ausscheiden 1887 blieb ihr einziges Ziel die Pflege des literarischen Nachlasses des Dichters Schewtschenko. Wollte irgend eine politische Macht die Wünsche derjenigen Kreise voll befriedigen die in Deutschland als Ukrainophilen schlechthin bekannt Stro, so müßte sie den Ukrainern etwa ein Fünftel des europäischen Rußland, zwei Drittel Galiziens und ein Fünftel Ungarns staatlich sicherstellen. Vorausgesetzt nun, daß die Ukrainer dies ganze Gebiet wirklich auch ethno¬ graphisch bedeckt haben, tritt die wichtige Frage in ihre Rechte, ob eine Ukraina in dem gekennzeichneten Umfange auch ein politisch lebensfähiges Gebilde abgäbe, ein Staatswesen, das nicht beim ersten Versuch wieder dem feindlichen Nachbarn oder Usurpator unterläge. Ein Staat ist im Zeitalter der Weltwirtschaft nur lebensfähig, wenn sein Territorium, enthielte es auch die größten Reich¬ tümer, bei einer gewissen wirtschafts- und verkehrsgeographischen Geschlossenheit eine ungehinderte Verbindung zu den Straßen des Weltverkehrs und zu seinen Absatzmärkten besitzt, wenn seine Bevölkerung genügend große Wirtschaftsenergien zu entwickeln vermag, um die Schätze des Landes zu heben und gegen ent¬ sprechende Einfuhrwerte vorteilhaft einzutauschen, einen genügend großen Eigen¬ verbrauch hat. und wenn schließlich die soziale Struktur des Volkes ein plan¬ mäßiges Zusammenwirken aller Volkskräfte nach innen und außen möglich macht. — Der Bildung einer mehr oder minder selbständigen Ukraina steht der moskowitisch - petrograder Staatsgedanke entgegen. Seit tausend Jahren, als Kijew noch den Schwerpunkt Rußlands bildete, haben sich alle Verhältnisse nach und nach zugunsten Moskaus verschoben. Und als im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Ukraina durch den inneren Zerfall des polnisch- littauischen Reiches gleich diesem zwischen Moskau und die aufstrebenden Staaten Mitteleuropas gestellt ward, wurde sie vom Westen abgelöst und an das neue Ru߬ land Peters des Großen gedrängt, das alle Gewähr für die nationale Selbständigkeit zu bieten schien. Für den heutigen russischen Staat würde die Rückentwicklung von einem stark zentralisierten Nationalstaat zu einem Nationalitätenstaate eine nicht zu unterschätzende Gefahr bedeuten. Nicht so für ein liberales und fried¬ liebendes Russenlum. Diesem bedeutete es die Schöpfung einer neuen nationalen Kraftquelle, mit deren Hilfe die Oftslawen eine bisher ungeahnte Rolle unter den Weltvölkern spielen könnten. Und hiermit sowie durch ihre wirtschafts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/180>, abgerufen am 02.07.2024.