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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem der Ukraina

aber ernsthafte Anzeichen dafür, daß die Sympathien für die kleinrussische, die
sogenannte ukrainische Bewegung stark im Zunehmen begriffen seien, und daß
somit auch der Gedanke an die Herstellung einer wenn auch nicht politischen,
so doch einer kulturellen Selbständigkeit der Ukraina durch Nußland selbst in
den Bereich des Möglichen tritt, derartiges läßt sich -- soweit ich sehe -- aus
keinen? der in jüngster Zeit erschienenen Zeitschriftenaufsätze und aus keiner
Broschüre herauslesen. In Südrußland selbst erstarken dagegen, wie verbürgte
Nachrichten besagen, tatsächlich Organisationen unter der Oberfläche, die den
Aufstand gegen den Zentralismus der Petrograder Bureaukratie und die Be¬
freiung vom moskowitischen Panslawismus predigen, und -- in Moskau und
Petersburg mehren sich bei den Sozialisten die Stimmen, die diesem Ukraino-
philentum Beifall klatschen!

Der Streitpunkt, von dem aus die moskowitisch-ukrainischen Gegensätze
zu verstehen sind, liegt darin, daß die Ukrainer behaupten, ein selbständiges Volk
mit eigener Sprache zu sein, während die Moskowiter in ihnen nur eine geringere
Abart des Russentums anerkennen wollen, weshalb die Ukrainer Kleinrussen genannt
werden, während ihre Sprache als kleinrussischer Dialekt bezeichnet wird. Sich selbst
stellen die Moskowiter als das überlegene Herrenvolk hin, das sich eben deshalb und
um der nationalen Einheit willen berechtigt fühlt, gegen die ukrainische Sprache
einen Ausrottungskampf zu führen. Der Ukrainer M. Shutschenko kennzeichnet die
Lage für 1911 wie folgt: "Die national-kulturelle Bewegung der Ukraina ist von der
Regierung als separatistisch und daher als staatsgeführlich bezeichnet und durch
eine Reihe von Zirkularen und Verordnungen tatsächlich außerhalb des Gesetzes
gestellt worden. Infolgedessen wurde die Auflösung aller bescheidenen Errungen¬
schaften auf dem Gebiete der Kultur und Bildung seit 1905 bis 1906 fort¬
gesetzt. Die Abneigung des verstorbenen Stolypin gegen das Ukrainertum, die
in seiner Unterredung mit den Vertretern der Kiewer Nationalisten am verhängnis¬
vollen 1. September ihren Ausdruck fand, ist bekannt. In Anbetracht dieses
genügt es zu erwähnen, daß das Nowoje Wremja forderte, alle Ukrainer vor
Gericht zu stellen, da diese nicht mehr und nicht weniger als einen bewaffneten
Aufstand und eine Losreißung der Ukraina von Rußland vorbereiteten. . . ."

Im übrigen ist die Frage recht kompliziert durch den Gang ihrer Entwicklung.
Die Tatsache, daß die Literatur schon auf die Frage: "Was ist die Ukraina?"
nicht weniger als drei Antworten gibt, zeigt, wie schwierig und ungeklärt das
ukrainische Problem ist.

Die Ukrainophilen verstehen unter Ukraina das gesamte von den Klein¬
russen ethnographisch bedeckte Gebiet vom Nordhänge des Kaukasus an, um das
Schwarze Meer herum bis zu den Sümpfen des Pripet im Norden und über
die Karpathen hinüber im Westen (Gruschewski). Die Polen verstehen unter
Ukraina eigentlich nur die russischen Gouvernements Wolhnnien, Podolien,
Kijew, Tschernigow und Poltawa (Llonmlc ZsoZi-afiLM^, Band 12). Die
Russen, die Moskowiter, wollen von einer territorialen Bestimmung des


Das Problem der Ukraina

aber ernsthafte Anzeichen dafür, daß die Sympathien für die kleinrussische, die
sogenannte ukrainische Bewegung stark im Zunehmen begriffen seien, und daß
somit auch der Gedanke an die Herstellung einer wenn auch nicht politischen,
so doch einer kulturellen Selbständigkeit der Ukraina durch Nußland selbst in
den Bereich des Möglichen tritt, derartiges läßt sich — soweit ich sehe — aus
keinen? der in jüngster Zeit erschienenen Zeitschriftenaufsätze und aus keiner
Broschüre herauslesen. In Südrußland selbst erstarken dagegen, wie verbürgte
Nachrichten besagen, tatsächlich Organisationen unter der Oberfläche, die den
Aufstand gegen den Zentralismus der Petrograder Bureaukratie und die Be¬
freiung vom moskowitischen Panslawismus predigen, und — in Moskau und
Petersburg mehren sich bei den Sozialisten die Stimmen, die diesem Ukraino-
philentum Beifall klatschen!

Der Streitpunkt, von dem aus die moskowitisch-ukrainischen Gegensätze
zu verstehen sind, liegt darin, daß die Ukrainer behaupten, ein selbständiges Volk
mit eigener Sprache zu sein, während die Moskowiter in ihnen nur eine geringere
Abart des Russentums anerkennen wollen, weshalb die Ukrainer Kleinrussen genannt
werden, während ihre Sprache als kleinrussischer Dialekt bezeichnet wird. Sich selbst
stellen die Moskowiter als das überlegene Herrenvolk hin, das sich eben deshalb und
um der nationalen Einheit willen berechtigt fühlt, gegen die ukrainische Sprache
einen Ausrottungskampf zu führen. Der Ukrainer M. Shutschenko kennzeichnet die
Lage für 1911 wie folgt: „Die national-kulturelle Bewegung der Ukraina ist von der
Regierung als separatistisch und daher als staatsgeführlich bezeichnet und durch
eine Reihe von Zirkularen und Verordnungen tatsächlich außerhalb des Gesetzes
gestellt worden. Infolgedessen wurde die Auflösung aller bescheidenen Errungen¬
schaften auf dem Gebiete der Kultur und Bildung seit 1905 bis 1906 fort¬
gesetzt. Die Abneigung des verstorbenen Stolypin gegen das Ukrainertum, die
in seiner Unterredung mit den Vertretern der Kiewer Nationalisten am verhängnis¬
vollen 1. September ihren Ausdruck fand, ist bekannt. In Anbetracht dieses
genügt es zu erwähnen, daß das Nowoje Wremja forderte, alle Ukrainer vor
Gericht zu stellen, da diese nicht mehr und nicht weniger als einen bewaffneten
Aufstand und eine Losreißung der Ukraina von Rußland vorbereiteten. . . ."

Im übrigen ist die Frage recht kompliziert durch den Gang ihrer Entwicklung.
Die Tatsache, daß die Literatur schon auf die Frage: „Was ist die Ukraina?"
nicht weniger als drei Antworten gibt, zeigt, wie schwierig und ungeklärt das
ukrainische Problem ist.

Die Ukrainophilen verstehen unter Ukraina das gesamte von den Klein¬
russen ethnographisch bedeckte Gebiet vom Nordhänge des Kaukasus an, um das
Schwarze Meer herum bis zu den Sümpfen des Pripet im Norden und über
die Karpathen hinüber im Westen (Gruschewski). Die Polen verstehen unter
Ukraina eigentlich nur die russischen Gouvernements Wolhnnien, Podolien,
Kijew, Tschernigow und Poltawa (Llonmlc ZsoZi-afiLM^, Band 12). Die
Russen, die Moskowiter, wollen von einer territorialen Bestimmung des


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[0179] Das Problem der Ukraina aber ernsthafte Anzeichen dafür, daß die Sympathien für die kleinrussische, die sogenannte ukrainische Bewegung stark im Zunehmen begriffen seien, und daß somit auch der Gedanke an die Herstellung einer wenn auch nicht politischen, so doch einer kulturellen Selbständigkeit der Ukraina durch Nußland selbst in den Bereich des Möglichen tritt, derartiges läßt sich — soweit ich sehe — aus keinen? der in jüngster Zeit erschienenen Zeitschriftenaufsätze und aus keiner Broschüre herauslesen. In Südrußland selbst erstarken dagegen, wie verbürgte Nachrichten besagen, tatsächlich Organisationen unter der Oberfläche, die den Aufstand gegen den Zentralismus der Petrograder Bureaukratie und die Be¬ freiung vom moskowitischen Panslawismus predigen, und — in Moskau und Petersburg mehren sich bei den Sozialisten die Stimmen, die diesem Ukraino- philentum Beifall klatschen! Der Streitpunkt, von dem aus die moskowitisch-ukrainischen Gegensätze zu verstehen sind, liegt darin, daß die Ukrainer behaupten, ein selbständiges Volk mit eigener Sprache zu sein, während die Moskowiter in ihnen nur eine geringere Abart des Russentums anerkennen wollen, weshalb die Ukrainer Kleinrussen genannt werden, während ihre Sprache als kleinrussischer Dialekt bezeichnet wird. Sich selbst stellen die Moskowiter als das überlegene Herrenvolk hin, das sich eben deshalb und um der nationalen Einheit willen berechtigt fühlt, gegen die ukrainische Sprache einen Ausrottungskampf zu führen. Der Ukrainer M. Shutschenko kennzeichnet die Lage für 1911 wie folgt: „Die national-kulturelle Bewegung der Ukraina ist von der Regierung als separatistisch und daher als staatsgeführlich bezeichnet und durch eine Reihe von Zirkularen und Verordnungen tatsächlich außerhalb des Gesetzes gestellt worden. Infolgedessen wurde die Auflösung aller bescheidenen Errungen¬ schaften auf dem Gebiete der Kultur und Bildung seit 1905 bis 1906 fort¬ gesetzt. Die Abneigung des verstorbenen Stolypin gegen das Ukrainertum, die in seiner Unterredung mit den Vertretern der Kiewer Nationalisten am verhängnis¬ vollen 1. September ihren Ausdruck fand, ist bekannt. In Anbetracht dieses genügt es zu erwähnen, daß das Nowoje Wremja forderte, alle Ukrainer vor Gericht zu stellen, da diese nicht mehr und nicht weniger als einen bewaffneten Aufstand und eine Losreißung der Ukraina von Rußland vorbereiteten. . . ." Im übrigen ist die Frage recht kompliziert durch den Gang ihrer Entwicklung. Die Tatsache, daß die Literatur schon auf die Frage: „Was ist die Ukraina?" nicht weniger als drei Antworten gibt, zeigt, wie schwierig und ungeklärt das ukrainische Problem ist. Die Ukrainophilen verstehen unter Ukraina das gesamte von den Klein¬ russen ethnographisch bedeckte Gebiet vom Nordhänge des Kaukasus an, um das Schwarze Meer herum bis zu den Sümpfen des Pripet im Norden und über die Karpathen hinüber im Westen (Gruschewski). Die Polen verstehen unter Ukraina eigentlich nur die russischen Gouvernements Wolhnnien, Podolien, Kijew, Tschernigow und Poltawa (Llonmlc ZsoZi-afiLM^, Band 12). Die Russen, die Moskowiter, wollen von einer territorialen Bestimmung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/179>, abgerufen am 02.07.2024.