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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem der Ukraina
George Lleinow von

"Die Überzeugung, daß eine Besserung des Schicksals der Ukraina
in den Grenzen Rußlands unmöglich ist, mußte unter den Ukrainern
immer mehr Boden fassen. Die Lostrennung der Ukraina von
Rußland, welche einen siegreichen Aufstand der Ukrainer gegen die
bewaffnete Macht Rußlands oder eine Zertrümmerung der russischen
Despotie durch die Nachbarstaaten zur Voraussetzung haben müßte,
konnte natürlich in das Programm einer in Rußland wirkenden ukrainischen
Partei nicht aufgenommen werden, um so mehr, da das Postulat noch
vor kurzem ziemlich utopistisch erschien. Nichtsdestoweniger wurde in
der ukrainischen Öffentlichkeit der Ruf .Los von Rußland!' immer lauter."


Ukrainische Nachrichten Ur. 7 vom 27. Oktober 1914.

e deutlicher es den gebildeten Teilen der russischen Gesellschaft
zum Bewußtsein kommt, daß sie wieder einmal von der Peters¬
burger Regierung hinters Licht geführt worden sind -- vor dem
Kriege durch die bewußt falschen Angaben über die deutsche
Politik und ihre Absichten, während des Krieges durch falsche
Siegesmeldungen und bewußt falsche Nachrichten über den Stand der Kriegs¬
operationen --, je mehr mit einem Wort die russischen Volksmänner von neuem
erkennen, daß die Zentralregierung im Grnnde genommen irr böseste Feind
der in Nußland vereinigten Völker ist, um so mehr beginnen Erwägungen auf¬
zutauchen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob das Zarenreich mit seiner
gewaltigen Fläche, der großen darauf wohnenden Zahl von Nationalitäten
und feinen großen wirtschaftlichen und sozialen Widersprüchen überhaupt
zentralistisch regiert werden kann, und ob nicht ein auf Dezentralisation nach
Nationalitäten beruhendes Föderativsystem dem bisherigen Zustande vorzuziehen
sei und größere Gewähr für die politische und kulturelle Zukunft der Russen
biete. Laut, sogar in den Ausrufen der Armeeführer, wird von einer Autonomie
der Polen gesprochen, für deren Schaffung England durch Herrn Ashquith die
Garantie übernommen haben soll! Auch Finnland und dem Kaukasusgebiet
kommen die russischen Vertreter des Föderativsystems freundlich entgegen. Nicht
fo den Ukrainern. Zwar findet man, wie während der Regierungszeit Alexanders
des Zweiten und während der Revolution 1906/6, in der demokratischen Presse
hin und wieder Artikel zugunsten der kulturellen Bestrebungen der Kleinrussen,




Das Problem der Ukraina
George Lleinow von

„Die Überzeugung, daß eine Besserung des Schicksals der Ukraina
in den Grenzen Rußlands unmöglich ist, mußte unter den Ukrainern
immer mehr Boden fassen. Die Lostrennung der Ukraina von
Rußland, welche einen siegreichen Aufstand der Ukrainer gegen die
bewaffnete Macht Rußlands oder eine Zertrümmerung der russischen
Despotie durch die Nachbarstaaten zur Voraussetzung haben müßte,
konnte natürlich in das Programm einer in Rußland wirkenden ukrainischen
Partei nicht aufgenommen werden, um so mehr, da das Postulat noch
vor kurzem ziemlich utopistisch erschien. Nichtsdestoweniger wurde in
der ukrainischen Öffentlichkeit der Ruf .Los von Rußland!' immer lauter."


Ukrainische Nachrichten Ur. 7 vom 27. Oktober 1914.

e deutlicher es den gebildeten Teilen der russischen Gesellschaft
zum Bewußtsein kommt, daß sie wieder einmal von der Peters¬
burger Regierung hinters Licht geführt worden sind — vor dem
Kriege durch die bewußt falschen Angaben über die deutsche
Politik und ihre Absichten, während des Krieges durch falsche
Siegesmeldungen und bewußt falsche Nachrichten über den Stand der Kriegs¬
operationen —, je mehr mit einem Wort die russischen Volksmänner von neuem
erkennen, daß die Zentralregierung im Grnnde genommen irr böseste Feind
der in Nußland vereinigten Völker ist, um so mehr beginnen Erwägungen auf¬
zutauchen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob das Zarenreich mit seiner
gewaltigen Fläche, der großen darauf wohnenden Zahl von Nationalitäten
und feinen großen wirtschaftlichen und sozialen Widersprüchen überhaupt
zentralistisch regiert werden kann, und ob nicht ein auf Dezentralisation nach
Nationalitäten beruhendes Föderativsystem dem bisherigen Zustande vorzuziehen
sei und größere Gewähr für die politische und kulturelle Zukunft der Russen
biete. Laut, sogar in den Ausrufen der Armeeführer, wird von einer Autonomie
der Polen gesprochen, für deren Schaffung England durch Herrn Ashquith die
Garantie übernommen haben soll! Auch Finnland und dem Kaukasusgebiet
kommen die russischen Vertreter des Föderativsystems freundlich entgegen. Nicht
fo den Ukrainern. Zwar findet man, wie während der Regierungszeit Alexanders
des Zweiten und während der Revolution 1906/6, in der demokratischen Presse
hin und wieder Artikel zugunsten der kulturellen Bestrebungen der Kleinrussen,


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[0178] [Abbildung] Das Problem der Ukraina George Lleinow von „Die Überzeugung, daß eine Besserung des Schicksals der Ukraina in den Grenzen Rußlands unmöglich ist, mußte unter den Ukrainern immer mehr Boden fassen. Die Lostrennung der Ukraina von Rußland, welche einen siegreichen Aufstand der Ukrainer gegen die bewaffnete Macht Rußlands oder eine Zertrümmerung der russischen Despotie durch die Nachbarstaaten zur Voraussetzung haben müßte, konnte natürlich in das Programm einer in Rußland wirkenden ukrainischen Partei nicht aufgenommen werden, um so mehr, da das Postulat noch vor kurzem ziemlich utopistisch erschien. Nichtsdestoweniger wurde in der ukrainischen Öffentlichkeit der Ruf .Los von Rußland!' immer lauter." Ukrainische Nachrichten Ur. 7 vom 27. Oktober 1914. e deutlicher es den gebildeten Teilen der russischen Gesellschaft zum Bewußtsein kommt, daß sie wieder einmal von der Peters¬ burger Regierung hinters Licht geführt worden sind — vor dem Kriege durch die bewußt falschen Angaben über die deutsche Politik und ihre Absichten, während des Krieges durch falsche Siegesmeldungen und bewußt falsche Nachrichten über den Stand der Kriegs¬ operationen —, je mehr mit einem Wort die russischen Volksmänner von neuem erkennen, daß die Zentralregierung im Grnnde genommen irr böseste Feind der in Nußland vereinigten Völker ist, um so mehr beginnen Erwägungen auf¬ zutauchen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob das Zarenreich mit seiner gewaltigen Fläche, der großen darauf wohnenden Zahl von Nationalitäten und feinen großen wirtschaftlichen und sozialen Widersprüchen überhaupt zentralistisch regiert werden kann, und ob nicht ein auf Dezentralisation nach Nationalitäten beruhendes Föderativsystem dem bisherigen Zustande vorzuziehen sei und größere Gewähr für die politische und kulturelle Zukunft der Russen biete. Laut, sogar in den Ausrufen der Armeeführer, wird von einer Autonomie der Polen gesprochen, für deren Schaffung England durch Herrn Ashquith die Garantie übernommen haben soll! Auch Finnland und dem Kaukasusgebiet kommen die russischen Vertreter des Föderativsystems freundlich entgegen. Nicht fo den Ukrainern. Zwar findet man, wie während der Regierungszeit Alexanders des Zweiten und während der Revolution 1906/6, in der demokratischen Presse hin und wieder Artikel zugunsten der kulturellen Bestrebungen der Kleinrussen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/178>, abgerufen am 02.07.2024.