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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa

Prinzip kann in Mitteleuropa nicht zu Verhältnissen führen, die friedliche Dauer
haben können. Dazu sind die Völker viel zu sehr ineinander geschachtelt. Wir
müssen uns nach Ideen umsehen, die ebenso stark sind wie der nationale Gedanke,
und die doch nicht zersplitternd, sondern einigend wirken.

Möglich, daß eine solche Idee schon das Wirtschaftsleben bietet. Möglich,
daß Wirtschaftsgemeinschaft wie einst in Deutschland Stammes- und Einzel¬
staatsgrenzen, so in Europa Sprach- und Einzelstaatsgrenzen zu überbrücken
imstande ist. Das würde eine mitteleuropäische Wirtschafts-, vielleicht Zoll¬
gemeinschaft ergeben. Vielleicht aber gibt es auch andere Bedürfnisse, andere überall
in Mitteleuropa vorhandene Willensziele, die einigend wirken. Da wäre etwa
der gemeinsame Gegensatz aller germanischen und slawischen Völker und Staaten
gegen das Russentum zu nennen. Oder auch das mitteleuropäische Gemeininteresse
an freier Bewegung zur See, frei von britischer Willkürherrschaft, unter der
gerade die jetzt neutralen Staaten so bitter leiden. Oder auch, ein ebenso
materielles wie ideelles Ding,', das Friedensbedürfnis ganz Mitteleuropas.

Jedenfalls aber: machen wir uns Bahn für einen Staatsgedanken, der
sich erhebt über den Nationalismus. Der Nationalismus wirkt in Zukunft
zersplitternd, nicht einigend; und nur ein einiges Mitteleuropa, in dem doch
alle seine Glieder frei sind, ohne Vorherrschaft eines einzelnen, wird auf die
Dauer sich halten können gegen Russentum und gegen Engländertum.




Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa

Prinzip kann in Mitteleuropa nicht zu Verhältnissen führen, die friedliche Dauer
haben können. Dazu sind die Völker viel zu sehr ineinander geschachtelt. Wir
müssen uns nach Ideen umsehen, die ebenso stark sind wie der nationale Gedanke,
und die doch nicht zersplitternd, sondern einigend wirken.

Möglich, daß eine solche Idee schon das Wirtschaftsleben bietet. Möglich,
daß Wirtschaftsgemeinschaft wie einst in Deutschland Stammes- und Einzel¬
staatsgrenzen, so in Europa Sprach- und Einzelstaatsgrenzen zu überbrücken
imstande ist. Das würde eine mitteleuropäische Wirtschafts-, vielleicht Zoll¬
gemeinschaft ergeben. Vielleicht aber gibt es auch andere Bedürfnisse, andere überall
in Mitteleuropa vorhandene Willensziele, die einigend wirken. Da wäre etwa
der gemeinsame Gegensatz aller germanischen und slawischen Völker und Staaten
gegen das Russentum zu nennen. Oder auch das mitteleuropäische Gemeininteresse
an freier Bewegung zur See, frei von britischer Willkürherrschaft, unter der
gerade die jetzt neutralen Staaten so bitter leiden. Oder auch, ein ebenso
materielles wie ideelles Ding,', das Friedensbedürfnis ganz Mitteleuropas.

Jedenfalls aber: machen wir uns Bahn für einen Staatsgedanken, der
sich erhebt über den Nationalismus. Der Nationalismus wirkt in Zukunft
zersplitternd, nicht einigend; und nur ein einiges Mitteleuropa, in dem doch
alle seine Glieder frei sind, ohne Vorherrschaft eines einzelnen, wird auf die
Dauer sich halten können gegen Russentum und gegen Engländertum.




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[0177] Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa Prinzip kann in Mitteleuropa nicht zu Verhältnissen führen, die friedliche Dauer haben können. Dazu sind die Völker viel zu sehr ineinander geschachtelt. Wir müssen uns nach Ideen umsehen, die ebenso stark sind wie der nationale Gedanke, und die doch nicht zersplitternd, sondern einigend wirken. Möglich, daß eine solche Idee schon das Wirtschaftsleben bietet. Möglich, daß Wirtschaftsgemeinschaft wie einst in Deutschland Stammes- und Einzel¬ staatsgrenzen, so in Europa Sprach- und Einzelstaatsgrenzen zu überbrücken imstande ist. Das würde eine mitteleuropäische Wirtschafts-, vielleicht Zoll¬ gemeinschaft ergeben. Vielleicht aber gibt es auch andere Bedürfnisse, andere überall in Mitteleuropa vorhandene Willensziele, die einigend wirken. Da wäre etwa der gemeinsame Gegensatz aller germanischen und slawischen Völker und Staaten gegen das Russentum zu nennen. Oder auch das mitteleuropäische Gemeininteresse an freier Bewegung zur See, frei von britischer Willkürherrschaft, unter der gerade die jetzt neutralen Staaten so bitter leiden. Oder auch, ein ebenso materielles wie ideelles Ding,', das Friedensbedürfnis ganz Mitteleuropas. Jedenfalls aber: machen wir uns Bahn für einen Staatsgedanken, der sich erhebt über den Nationalismus. Der Nationalismus wirkt in Zukunft zersplitternd, nicht einigend; und nur ein einiges Mitteleuropa, in dem doch alle seine Glieder frei sind, ohne Vorherrschaft eines einzelnen, wird auf die Dauer sich halten können gegen Russentum und gegen Engländertum.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/177>, abgerufen am 02.07.2024.