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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Nationalitätsgcdanke und das neue Mitteleuropa

oder materieller Art sind, tut dabei nichts. -- So kann ein neues Mitteleuropa
auch nur dann dauerhaft geschaffen werden, wenn in ihm alle Beteiligten ihre
Interessen am besten gewahrt sehen.

Nehmen wir ein Beispiel, das zunächst rein theoretisch sein wird. Eine
Verbindung Hollands mit Deutschland ist nur dann dauerhaft und glücklich,
wenn sowohl die Holländer wie die heutigen Reichsdeutschen in ihr ihren Vorteil
am besten gewahrt sähen. Gewinn und Verlust müßten gleich verteilt sein.
Darum wird kein deutscher Politiker daran denken, Holland irgendwie zu einem
Anschluß an das Reich bewegen zu wollen, selbst wenn das Reich nach dem
Frieden die Macht dazu hätte. Nur dann könnte man solchen Anschluß auch
bei uns wünschen, wenn Holland ihn wünschte und in ihm seine Rechnung zu
finden glaubte. Daß es für das Reich vorteilhaft wäre, eine deutsche Rhein¬
mündung, eine deutsche Seeküste gegenüber England zu gewinnen, ist ja klar.
Doch kommt es -- für den weit und tief blickenden Politiker nicht hierauf an,
sondern darauf, ob beide ihren Vorteil finden. Das könnte vielleicht dann der
Fall sein, wenn Holland vom Anschluß an uns einen wesentlichen Machtzuwachs
hätte. Gesetzt, der Krieg würde von uns siegreich zu Ende geführt, so könnte
sich unser Verhältnis zu Holland vielleicht folgendermaßen gestalten:

Holland tritt mit uns in Zoll- und Wehrgemeinschaft, behält aber in allem
übrigem seine volle Selbständigkeit. Es erhält dafür das vlamische Belgien
einschließlich Antwerpen.

Gewinn für uns: deutsche Rheinmündung, größere Flottenbasis, Handels¬
freiheit auch in Hollands Kolonien.

Gewinn für Holland: Vergrößerung um etwa 3^ Millionen .Stamm- und
Sprachverwandte Bürger, Schutz der holländischen Überseeinteressen durch unsere
Seemacht, große Steigerung seines Handels.

Nachteil für Holland: eine geringe Einbuße an Selbständigkeit, größeres
Risiko einer Teilnahme an Welthändeln, Verbindung mit Konfessions fremden,
vielleicht größere Zoll- und Wehrlasten.

Nachteil für uns: Verzicht auf Vlamisch-Belgien, größere Reibungsflächen
(z. B. Hollands amerikanische Besitzungen!).

Ich könnte mir theoretisch denken, daß in dieser Gestaltung Deutschland
wie Holland ganz auf ihre Rechnung kämen. Das Beispiel soll aber rein
theoretisch sein -- wenn nicht aus Holland selbst der Wunsch an uns heran¬
träte, mit uns in ein näheres Verhältnis zu treten. Das Beispiel soll nur
zeigen, wie in der Gestaltung eines Verhältnisses zweier Staaten zu einander
Gewinn und Verlust auf beiden Seiten gleich sein müssen, wenn das Verhältnis
Aussicht auf Dauer haben soll. So wie mit Holland, müßte es aber mit allen
den Staaten und Völkern sein, die in dem neuen Mitteleuropa in dieser oder
jener Form zusammengefaßt werden wollten.

Jedenfalls aber müssen wir den alten Staatsgedanken, der auf dem
Nationalitätsprinzip aufgebaut erschien, neu zu gestalten suchen. Das Nationalitäts-


Nationalitätsgcdanke und das neue Mitteleuropa

oder materieller Art sind, tut dabei nichts. — So kann ein neues Mitteleuropa
auch nur dann dauerhaft geschaffen werden, wenn in ihm alle Beteiligten ihre
Interessen am besten gewahrt sehen.

Nehmen wir ein Beispiel, das zunächst rein theoretisch sein wird. Eine
Verbindung Hollands mit Deutschland ist nur dann dauerhaft und glücklich,
wenn sowohl die Holländer wie die heutigen Reichsdeutschen in ihr ihren Vorteil
am besten gewahrt sähen. Gewinn und Verlust müßten gleich verteilt sein.
Darum wird kein deutscher Politiker daran denken, Holland irgendwie zu einem
Anschluß an das Reich bewegen zu wollen, selbst wenn das Reich nach dem
Frieden die Macht dazu hätte. Nur dann könnte man solchen Anschluß auch
bei uns wünschen, wenn Holland ihn wünschte und in ihm seine Rechnung zu
finden glaubte. Daß es für das Reich vorteilhaft wäre, eine deutsche Rhein¬
mündung, eine deutsche Seeküste gegenüber England zu gewinnen, ist ja klar.
Doch kommt es — für den weit und tief blickenden Politiker nicht hierauf an,
sondern darauf, ob beide ihren Vorteil finden. Das könnte vielleicht dann der
Fall sein, wenn Holland vom Anschluß an uns einen wesentlichen Machtzuwachs
hätte. Gesetzt, der Krieg würde von uns siegreich zu Ende geführt, so könnte
sich unser Verhältnis zu Holland vielleicht folgendermaßen gestalten:

Holland tritt mit uns in Zoll- und Wehrgemeinschaft, behält aber in allem
übrigem seine volle Selbständigkeit. Es erhält dafür das vlamische Belgien
einschließlich Antwerpen.

Gewinn für uns: deutsche Rheinmündung, größere Flottenbasis, Handels¬
freiheit auch in Hollands Kolonien.

Gewinn für Holland: Vergrößerung um etwa 3^ Millionen .Stamm- und
Sprachverwandte Bürger, Schutz der holländischen Überseeinteressen durch unsere
Seemacht, große Steigerung seines Handels.

Nachteil für Holland: eine geringe Einbuße an Selbständigkeit, größeres
Risiko einer Teilnahme an Welthändeln, Verbindung mit Konfessions fremden,
vielleicht größere Zoll- und Wehrlasten.

Nachteil für uns: Verzicht auf Vlamisch-Belgien, größere Reibungsflächen
(z. B. Hollands amerikanische Besitzungen!).

Ich könnte mir theoretisch denken, daß in dieser Gestaltung Deutschland
wie Holland ganz auf ihre Rechnung kämen. Das Beispiel soll aber rein
theoretisch sein — wenn nicht aus Holland selbst der Wunsch an uns heran¬
träte, mit uns in ein näheres Verhältnis zu treten. Das Beispiel soll nur
zeigen, wie in der Gestaltung eines Verhältnisses zweier Staaten zu einander
Gewinn und Verlust auf beiden Seiten gleich sein müssen, wenn das Verhältnis
Aussicht auf Dauer haben soll. So wie mit Holland, müßte es aber mit allen
den Staaten und Völkern sein, die in dem neuen Mitteleuropa in dieser oder
jener Form zusammengefaßt werden wollten.

Jedenfalls aber müssen wir den alten Staatsgedanken, der auf dem
Nationalitätsprinzip aufgebaut erschien, neu zu gestalten suchen. Das Nationalitäts-


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[0176] Nationalitätsgcdanke und das neue Mitteleuropa oder materieller Art sind, tut dabei nichts. — So kann ein neues Mitteleuropa auch nur dann dauerhaft geschaffen werden, wenn in ihm alle Beteiligten ihre Interessen am besten gewahrt sehen. Nehmen wir ein Beispiel, das zunächst rein theoretisch sein wird. Eine Verbindung Hollands mit Deutschland ist nur dann dauerhaft und glücklich, wenn sowohl die Holländer wie die heutigen Reichsdeutschen in ihr ihren Vorteil am besten gewahrt sähen. Gewinn und Verlust müßten gleich verteilt sein. Darum wird kein deutscher Politiker daran denken, Holland irgendwie zu einem Anschluß an das Reich bewegen zu wollen, selbst wenn das Reich nach dem Frieden die Macht dazu hätte. Nur dann könnte man solchen Anschluß auch bei uns wünschen, wenn Holland ihn wünschte und in ihm seine Rechnung zu finden glaubte. Daß es für das Reich vorteilhaft wäre, eine deutsche Rhein¬ mündung, eine deutsche Seeküste gegenüber England zu gewinnen, ist ja klar. Doch kommt es — für den weit und tief blickenden Politiker nicht hierauf an, sondern darauf, ob beide ihren Vorteil finden. Das könnte vielleicht dann der Fall sein, wenn Holland vom Anschluß an uns einen wesentlichen Machtzuwachs hätte. Gesetzt, der Krieg würde von uns siegreich zu Ende geführt, so könnte sich unser Verhältnis zu Holland vielleicht folgendermaßen gestalten: Holland tritt mit uns in Zoll- und Wehrgemeinschaft, behält aber in allem übrigem seine volle Selbständigkeit. Es erhält dafür das vlamische Belgien einschließlich Antwerpen. Gewinn für uns: deutsche Rheinmündung, größere Flottenbasis, Handels¬ freiheit auch in Hollands Kolonien. Gewinn für Holland: Vergrößerung um etwa 3^ Millionen .Stamm- und Sprachverwandte Bürger, Schutz der holländischen Überseeinteressen durch unsere Seemacht, große Steigerung seines Handels. Nachteil für Holland: eine geringe Einbuße an Selbständigkeit, größeres Risiko einer Teilnahme an Welthändeln, Verbindung mit Konfessions fremden, vielleicht größere Zoll- und Wehrlasten. Nachteil für uns: Verzicht auf Vlamisch-Belgien, größere Reibungsflächen (z. B. Hollands amerikanische Besitzungen!). Ich könnte mir theoretisch denken, daß in dieser Gestaltung Deutschland wie Holland ganz auf ihre Rechnung kämen. Das Beispiel soll aber rein theoretisch sein — wenn nicht aus Holland selbst der Wunsch an uns heran¬ träte, mit uns in ein näheres Verhältnis zu treten. Das Beispiel soll nur zeigen, wie in der Gestaltung eines Verhältnisses zweier Staaten zu einander Gewinn und Verlust auf beiden Seiten gleich sein müssen, wenn das Verhältnis Aussicht auf Dauer haben soll. So wie mit Holland, müßte es aber mit allen den Staaten und Völkern sein, die in dem neuen Mitteleuropa in dieser oder jener Form zusammengefaßt werden wollten. Jedenfalls aber müssen wir den alten Staatsgedanken, der auf dem Nationalitätsprinzip aufgebaut erschien, neu zu gestalten suchen. Das Nationalitäts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/176>, abgerufen am 02.07.2024.