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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Nationalitätsgedanko und das neue Mitteleuropa

Österreich die Herrschaft in Italien und in Deutschland, Frankreich stand bereit,
seine Erbschaft anzutreten. Der Nationalismus drohte auch weiter Österreich
in sich zu zersetzen. Rußland suchte, scheinbar mit Glück, den Nationalismus
durch den Panslawismus unschädlich zu machen, das eine Schlagwort durch das
andere, ihm zuträglichere, zu übertrumpfen. Eine weitere Herrschaft des Glaubens
an den nationalen Staat kann in Mitteleuropa nur zersetzend, nicht mehr kräf¬
tigend wirken -- zum Vorteile besonders Englands. Wir Deutsche aber müssen
uns fragen: kann der Gedanke des nationalen Staates uns nützen oder schaden,
nachdem einmal das Deutsche Reich geschaffen war? Glauben wir auch fernerhin
daran, Staatsgrenze und Sprachgrenze müßten sich decken, so ist nicht abzusehen,
welche Machterweiterung sür uns möglich sein sollte. Wollten wir das "Natio¬
nalitätsprinzip" durchführen, so müßten wir die deutschredenden Teile der
Schweiz und Österreichs an uns reißen -- dafür aber die nicht deutsch redenden
Teile des jetzigen Reichsgebietes loszuwerden suchen. An beides aber denkt wohl
niemand außerhalb eines sehr beschränkten doktrinären Kreises. Eine Macht¬
erweiterung aber brauchen wir, das zeigt die Geschichte dieses Krieges. Wir
müssen uns sichern gegen ähnliche Angriffe. Da außerhalb der Reichsgrenzen
Deutschredende nur in befreundeten Ländern wohnen, müssen wir den notwen¬
digen Machtzuwachs außerhalb des deutschen Sprachgebietes suchen.

Nun gibt es in Europa längst Staaten, die von anderen "Ideen"
zusammengehalten werden als von nationalen Gedanken. Es gibt Nationen,
die mehrere Völker umfassen. Die Schweiz und Österreich-Ungarn werden
zusammengehalten trotz trennender Sprachgrenzen, durch gemeinsame Geschichte,
gemeinsame^ Wirtschaftsinteressen, geographische Verhältnisse. Rußland -- soweit
nicht reine Militärmacht widerstrebende Elemente niederhält wie in Polen, Finn¬
land, mohammedanischen Gebieten -- verbindet die nationale Kirche, freilich
auch wirtschaftsgeographische Abhängigkeiten. In diesen Staaten siegt der
Staatsgedanke über den Volksgedanken. Eine Staatsnation wird eben nicht
durch die Sprache gestaltet, sondern durch eine ganze Reihe von "Ideen". Auch
wir müssen uns daran gewöhnen, Sprachvolk und Staatsnation auseinander
zu halten. Wir müssen es lernen, daß der polnisch redende Preuße doch deutscher
Staatsbürger sein kann und sein will. Wir müssen auch in uns den Staats¬
gedanken über den Volksgedanken siegen lassen, wir müssen den in uns lebendigen
Nationalismus nicht radikal werden lassen.

Ein alter Grundsatz soliden Kaufmannstums ist es, daß bei jedem
Handel Käufer und Verkäufer gleich zufriedengestellt werden müssen. Beide
müssen in jedem Vertrage ihre Interessen möglichst gut gewahrt finden; nur
auf dieser Grundlage sind dauernde Handelsbeziehungen zu erwarten. So ist
es auch in der Politik. Nur ein Vertrag, ein politisches Verhältnis, in dem
beide -- oder alle -- Beteiligten aus ihre Kosten kommen, verspricht Dauer.
Nicht Herren und Knechte, sondern Geschäftsfreunde sollte es im politischen Leben
geben. Gemeinsame Interessen allein verbinden. Ob diese "Interessen" ideeller


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Nationalitätsgedanko und das neue Mitteleuropa

Österreich die Herrschaft in Italien und in Deutschland, Frankreich stand bereit,
seine Erbschaft anzutreten. Der Nationalismus drohte auch weiter Österreich
in sich zu zersetzen. Rußland suchte, scheinbar mit Glück, den Nationalismus
durch den Panslawismus unschädlich zu machen, das eine Schlagwort durch das
andere, ihm zuträglichere, zu übertrumpfen. Eine weitere Herrschaft des Glaubens
an den nationalen Staat kann in Mitteleuropa nur zersetzend, nicht mehr kräf¬
tigend wirken — zum Vorteile besonders Englands. Wir Deutsche aber müssen
uns fragen: kann der Gedanke des nationalen Staates uns nützen oder schaden,
nachdem einmal das Deutsche Reich geschaffen war? Glauben wir auch fernerhin
daran, Staatsgrenze und Sprachgrenze müßten sich decken, so ist nicht abzusehen,
welche Machterweiterung sür uns möglich sein sollte. Wollten wir das „Natio¬
nalitätsprinzip" durchführen, so müßten wir die deutschredenden Teile der
Schweiz und Österreichs an uns reißen — dafür aber die nicht deutsch redenden
Teile des jetzigen Reichsgebietes loszuwerden suchen. An beides aber denkt wohl
niemand außerhalb eines sehr beschränkten doktrinären Kreises. Eine Macht¬
erweiterung aber brauchen wir, das zeigt die Geschichte dieses Krieges. Wir
müssen uns sichern gegen ähnliche Angriffe. Da außerhalb der Reichsgrenzen
Deutschredende nur in befreundeten Ländern wohnen, müssen wir den notwen¬
digen Machtzuwachs außerhalb des deutschen Sprachgebietes suchen.

Nun gibt es in Europa längst Staaten, die von anderen „Ideen"
zusammengehalten werden als von nationalen Gedanken. Es gibt Nationen,
die mehrere Völker umfassen. Die Schweiz und Österreich-Ungarn werden
zusammengehalten trotz trennender Sprachgrenzen, durch gemeinsame Geschichte,
gemeinsame^ Wirtschaftsinteressen, geographische Verhältnisse. Rußland — soweit
nicht reine Militärmacht widerstrebende Elemente niederhält wie in Polen, Finn¬
land, mohammedanischen Gebieten — verbindet die nationale Kirche, freilich
auch wirtschaftsgeographische Abhängigkeiten. In diesen Staaten siegt der
Staatsgedanke über den Volksgedanken. Eine Staatsnation wird eben nicht
durch die Sprache gestaltet, sondern durch eine ganze Reihe von „Ideen". Auch
wir müssen uns daran gewöhnen, Sprachvolk und Staatsnation auseinander
zu halten. Wir müssen es lernen, daß der polnisch redende Preuße doch deutscher
Staatsbürger sein kann und sein will. Wir müssen auch in uns den Staats¬
gedanken über den Volksgedanken siegen lassen, wir müssen den in uns lebendigen
Nationalismus nicht radikal werden lassen.

Ein alter Grundsatz soliden Kaufmannstums ist es, daß bei jedem
Handel Käufer und Verkäufer gleich zufriedengestellt werden müssen. Beide
müssen in jedem Vertrage ihre Interessen möglichst gut gewahrt finden; nur
auf dieser Grundlage sind dauernde Handelsbeziehungen zu erwarten. So ist
es auch in der Politik. Nur ein Vertrag, ein politisches Verhältnis, in dem
beide — oder alle — Beteiligten aus ihre Kosten kommen, verspricht Dauer.
Nicht Herren und Knechte, sondern Geschäftsfreunde sollte es im politischen Leben
geben. Gemeinsame Interessen allein verbinden. Ob diese „Interessen" ideeller


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[0175] Nationalitätsgedanko und das neue Mitteleuropa Österreich die Herrschaft in Italien und in Deutschland, Frankreich stand bereit, seine Erbschaft anzutreten. Der Nationalismus drohte auch weiter Österreich in sich zu zersetzen. Rußland suchte, scheinbar mit Glück, den Nationalismus durch den Panslawismus unschädlich zu machen, das eine Schlagwort durch das andere, ihm zuträglichere, zu übertrumpfen. Eine weitere Herrschaft des Glaubens an den nationalen Staat kann in Mitteleuropa nur zersetzend, nicht mehr kräf¬ tigend wirken — zum Vorteile besonders Englands. Wir Deutsche aber müssen uns fragen: kann der Gedanke des nationalen Staates uns nützen oder schaden, nachdem einmal das Deutsche Reich geschaffen war? Glauben wir auch fernerhin daran, Staatsgrenze und Sprachgrenze müßten sich decken, so ist nicht abzusehen, welche Machterweiterung sür uns möglich sein sollte. Wollten wir das „Natio¬ nalitätsprinzip" durchführen, so müßten wir die deutschredenden Teile der Schweiz und Österreichs an uns reißen — dafür aber die nicht deutsch redenden Teile des jetzigen Reichsgebietes loszuwerden suchen. An beides aber denkt wohl niemand außerhalb eines sehr beschränkten doktrinären Kreises. Eine Macht¬ erweiterung aber brauchen wir, das zeigt die Geschichte dieses Krieges. Wir müssen uns sichern gegen ähnliche Angriffe. Da außerhalb der Reichsgrenzen Deutschredende nur in befreundeten Ländern wohnen, müssen wir den notwen¬ digen Machtzuwachs außerhalb des deutschen Sprachgebietes suchen. Nun gibt es in Europa längst Staaten, die von anderen „Ideen" zusammengehalten werden als von nationalen Gedanken. Es gibt Nationen, die mehrere Völker umfassen. Die Schweiz und Österreich-Ungarn werden zusammengehalten trotz trennender Sprachgrenzen, durch gemeinsame Geschichte, gemeinsame^ Wirtschaftsinteressen, geographische Verhältnisse. Rußland — soweit nicht reine Militärmacht widerstrebende Elemente niederhält wie in Polen, Finn¬ land, mohammedanischen Gebieten — verbindet die nationale Kirche, freilich auch wirtschaftsgeographische Abhängigkeiten. In diesen Staaten siegt der Staatsgedanke über den Volksgedanken. Eine Staatsnation wird eben nicht durch die Sprache gestaltet, sondern durch eine ganze Reihe von „Ideen". Auch wir müssen uns daran gewöhnen, Sprachvolk und Staatsnation auseinander zu halten. Wir müssen es lernen, daß der polnisch redende Preuße doch deutscher Staatsbürger sein kann und sein will. Wir müssen auch in uns den Staats¬ gedanken über den Volksgedanken siegen lassen, wir müssen den in uns lebendigen Nationalismus nicht radikal werden lassen. Ein alter Grundsatz soliden Kaufmannstums ist es, daß bei jedem Handel Käufer und Verkäufer gleich zufriedengestellt werden müssen. Beide müssen in jedem Vertrage ihre Interessen möglichst gut gewahrt finden; nur auf dieser Grundlage sind dauernde Handelsbeziehungen zu erwarten. So ist es auch in der Politik. Nur ein Vertrag, ein politisches Verhältnis, in dem beide — oder alle — Beteiligten aus ihre Kosten kommen, verspricht Dauer. Nicht Herren und Knechte, sondern Geschäftsfreunde sollte es im politischen Leben geben. Gemeinsame Interessen allein verbinden. Ob diese „Interessen" ideeller 11*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/175>, abgerufen am 02.07.2024.