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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa

Völker wollte niemand das Prinzip anwenden -- seine angeblichen Vorkämpfer
dehnten ihre Kolonialmacht immer weiter aus. Seine eigene Macht wollte
Napoleon erweitern, wenn er vorgab, für Italiens nationale Selbständigkeit
zu kämpfen; er wollte nur an Stelle der österreichischen die französische Herrschaft
über Italien setzen. Wenn ihm, durch Covours Geschick, die Leitung entglitt
und das nationale Italien unabhängig sich hinstellte, so war das eine
historische Ironie.

Solange wir selbst die nationale Einigung erstrebten -- oder zu erstreben
glaubten --, war der Glaube an das Nationalitätsprinzip uns eine starke
Förderung. In Wahrheit erstrebten wir ja keineswegs Durchsetzung des
Nntionalitätsprinzips -- nur wenige Doktrinäre wollten die Polen aus dem
neuen Deutschland ausschließen um des Prinzips willen, wollten Nordschleswig
oder Grenzgebiete des Reichslandes nicht einverleiben --, sondern den starken
Staat. Was in uns mächtig war, war im Grunde gar nicht der Nationalitäts¬
gedanke, sondern der Staatsgedanke. Einen selbständigen, starken Staat wollten
wir aufbauen, der freilich in seiner Art deutsch war,'dem aber nicht nur Deutsche
und nicht alle Deutschen angehören sollten.

Fragte man -- und fragt man -- eifrige Verfechter des Nationalitäts¬
gedankens nach den entscheidenden Merkmalen, an denen man erkennt, wo die
Grenze des Nationalitätsstaates zu ziehen sei, so wird immer wieder die
Sprache genannt. Nun umfaßt ganz gewiß gemeinsame Sprache als festes
Band ein Volk. Durch die Sprache fühlen wir uns den Deutschschweizern und
Deutschösterreichern aufs engste verbunden. Sie schafft eine neue Bindung
in der durch sie entstehenden gemeinsamen Geisteskultur. Und doch: wir
empfinden es deutlich genug, wie uns von den Deutschen außerhalb der
Reichsgrenzen so mancherlei scheidet. Die Deutschschweizer sind eben Schweizer
und nicht Deutsche. Die Sprache allein macht keine Volksgemeinschaft aus.
Engländer und Amerikaner reden und schreiben dieselbe Sprache -- sie fühlen
sich aber durchaus als einander fremde Nationen, sie haben auch verschiedene
Geisteskultur. Gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte, gemeinsame Wirt¬
schaftsinteressen usw., gemeinsame Abstammung helfen nur eine Nation schaffen;
entscheidend ist immer erst der Wille zum Staate, der Wille, eine Nation
bilden zu wollen.

Uns Deutschen ist der nationale Gedanke förderlich gewesen, zum
Staatsgedanken und besser noch, zum Staate zu kommen. Aber derselbe nationale
Gedanke wirkte anderswo zersetzend. Die national fest einheitlichen Staaten
waren deshalb so große Rufer im Streite für das Nationalitätsprinzip, weil
ihre Gegner und Mitbewerber nicht national einheitlich waren. Das Nationa¬
litätsprinzip, als Glaubens- und Willensinhalt, mußte also die europäischen
Mächte außerhalb Frankreichs und Englands, besonders die Ostmächte, schwächen.
Der Nationalismus zertrümmerte die Türkei -- nebenbei aber erwarb Frank¬
reich Tunis, England Cnpern und Ägypten. Der Nationalismus entriß


Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa

Völker wollte niemand das Prinzip anwenden — seine angeblichen Vorkämpfer
dehnten ihre Kolonialmacht immer weiter aus. Seine eigene Macht wollte
Napoleon erweitern, wenn er vorgab, für Italiens nationale Selbständigkeit
zu kämpfen; er wollte nur an Stelle der österreichischen die französische Herrschaft
über Italien setzen. Wenn ihm, durch Covours Geschick, die Leitung entglitt
und das nationale Italien unabhängig sich hinstellte, so war das eine
historische Ironie.

Solange wir selbst die nationale Einigung erstrebten — oder zu erstreben
glaubten —, war der Glaube an das Nationalitätsprinzip uns eine starke
Förderung. In Wahrheit erstrebten wir ja keineswegs Durchsetzung des
Nntionalitätsprinzips — nur wenige Doktrinäre wollten die Polen aus dem
neuen Deutschland ausschließen um des Prinzips willen, wollten Nordschleswig
oder Grenzgebiete des Reichslandes nicht einverleiben —, sondern den starken
Staat. Was in uns mächtig war, war im Grunde gar nicht der Nationalitäts¬
gedanke, sondern der Staatsgedanke. Einen selbständigen, starken Staat wollten
wir aufbauen, der freilich in seiner Art deutsch war,'dem aber nicht nur Deutsche
und nicht alle Deutschen angehören sollten.

Fragte man — und fragt man — eifrige Verfechter des Nationalitäts¬
gedankens nach den entscheidenden Merkmalen, an denen man erkennt, wo die
Grenze des Nationalitätsstaates zu ziehen sei, so wird immer wieder die
Sprache genannt. Nun umfaßt ganz gewiß gemeinsame Sprache als festes
Band ein Volk. Durch die Sprache fühlen wir uns den Deutschschweizern und
Deutschösterreichern aufs engste verbunden. Sie schafft eine neue Bindung
in der durch sie entstehenden gemeinsamen Geisteskultur. Und doch: wir
empfinden es deutlich genug, wie uns von den Deutschen außerhalb der
Reichsgrenzen so mancherlei scheidet. Die Deutschschweizer sind eben Schweizer
und nicht Deutsche. Die Sprache allein macht keine Volksgemeinschaft aus.
Engländer und Amerikaner reden und schreiben dieselbe Sprache — sie fühlen
sich aber durchaus als einander fremde Nationen, sie haben auch verschiedene
Geisteskultur. Gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte, gemeinsame Wirt¬
schaftsinteressen usw., gemeinsame Abstammung helfen nur eine Nation schaffen;
entscheidend ist immer erst der Wille zum Staate, der Wille, eine Nation
bilden zu wollen.

Uns Deutschen ist der nationale Gedanke förderlich gewesen, zum
Staatsgedanken und besser noch, zum Staate zu kommen. Aber derselbe nationale
Gedanke wirkte anderswo zersetzend. Die national fest einheitlichen Staaten
waren deshalb so große Rufer im Streite für das Nationalitätsprinzip, weil
ihre Gegner und Mitbewerber nicht national einheitlich waren. Das Nationa¬
litätsprinzip, als Glaubens- und Willensinhalt, mußte also die europäischen
Mächte außerhalb Frankreichs und Englands, besonders die Ostmächte, schwächen.
Der Nationalismus zertrümmerte die Türkei — nebenbei aber erwarb Frank¬
reich Tunis, England Cnpern und Ägypten. Der Nationalismus entriß


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[0174] Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa Völker wollte niemand das Prinzip anwenden — seine angeblichen Vorkämpfer dehnten ihre Kolonialmacht immer weiter aus. Seine eigene Macht wollte Napoleon erweitern, wenn er vorgab, für Italiens nationale Selbständigkeit zu kämpfen; er wollte nur an Stelle der österreichischen die französische Herrschaft über Italien setzen. Wenn ihm, durch Covours Geschick, die Leitung entglitt und das nationale Italien unabhängig sich hinstellte, so war das eine historische Ironie. Solange wir selbst die nationale Einigung erstrebten — oder zu erstreben glaubten —, war der Glaube an das Nationalitätsprinzip uns eine starke Förderung. In Wahrheit erstrebten wir ja keineswegs Durchsetzung des Nntionalitätsprinzips — nur wenige Doktrinäre wollten die Polen aus dem neuen Deutschland ausschließen um des Prinzips willen, wollten Nordschleswig oder Grenzgebiete des Reichslandes nicht einverleiben —, sondern den starken Staat. Was in uns mächtig war, war im Grunde gar nicht der Nationalitäts¬ gedanke, sondern der Staatsgedanke. Einen selbständigen, starken Staat wollten wir aufbauen, der freilich in seiner Art deutsch war,'dem aber nicht nur Deutsche und nicht alle Deutschen angehören sollten. Fragte man — und fragt man — eifrige Verfechter des Nationalitäts¬ gedankens nach den entscheidenden Merkmalen, an denen man erkennt, wo die Grenze des Nationalitätsstaates zu ziehen sei, so wird immer wieder die Sprache genannt. Nun umfaßt ganz gewiß gemeinsame Sprache als festes Band ein Volk. Durch die Sprache fühlen wir uns den Deutschschweizern und Deutschösterreichern aufs engste verbunden. Sie schafft eine neue Bindung in der durch sie entstehenden gemeinsamen Geisteskultur. Und doch: wir empfinden es deutlich genug, wie uns von den Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen so mancherlei scheidet. Die Deutschschweizer sind eben Schweizer und nicht Deutsche. Die Sprache allein macht keine Volksgemeinschaft aus. Engländer und Amerikaner reden und schreiben dieselbe Sprache — sie fühlen sich aber durchaus als einander fremde Nationen, sie haben auch verschiedene Geisteskultur. Gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte, gemeinsame Wirt¬ schaftsinteressen usw., gemeinsame Abstammung helfen nur eine Nation schaffen; entscheidend ist immer erst der Wille zum Staate, der Wille, eine Nation bilden zu wollen. Uns Deutschen ist der nationale Gedanke förderlich gewesen, zum Staatsgedanken und besser noch, zum Staate zu kommen. Aber derselbe nationale Gedanke wirkte anderswo zersetzend. Die national fest einheitlichen Staaten waren deshalb so große Rufer im Streite für das Nationalitätsprinzip, weil ihre Gegner und Mitbewerber nicht national einheitlich waren. Das Nationa¬ litätsprinzip, als Glaubens- und Willensinhalt, mußte also die europäischen Mächte außerhalb Frankreichs und Englands, besonders die Ostmächte, schwächen. Der Nationalismus zertrümmerte die Türkei — nebenbei aber erwarb Frank¬ reich Tunis, England Cnpern und Ägypten. Der Nationalismus entriß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/174>, abgerufen am 02.07.2024.