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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa

>le politische Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts wurde
stark bestimmt durch den Nationalitätsgedanken. Wie eine
I elementare Kraft setzt sich der Gedanke nationaler Einheit durch
seit der inneren Erschütterung des politischen Seins Gesamteuropas
durch Napoleon den Ersten. Die Einigung Deutschlands und
Italiens, geleitet von den Machtbedürfnissen je eines Teilstaates, wurde getrieben
von dem Einheitswillen des ganzen Volkes oder doch seiner überwiegenden
Mehrheit. Das "Nationalitätsprinzip" wurde eine historische "Idee", das heißt
ein WillenLziel, eine Forderung, die eine starke Wirkung in der Geschichte aus¬
übte, natürlich nicht, wenn es auch vielen so erschien, weil dies Prinzip ein
wirkliches "historisches Gesetz" war oder ist, sondern weil eben viele Menschen
Mit fast religiöser Inbrunst daran glaubten, ihm ihr ganzes Können und Wollen,
ja das Leben weihten. Die Einheit Deutschlands ist zwar das Werk zumeist
bestimmter Menschen, aber doch gestützt und getragen von dieser "Idee".
Höchste Güter, edelste Leidenschaften, reinster Opfermut wurden lebendig für den
Begriff: nationale Einheit.

Sehr bald aber begriffen die alten,- bestehenden staatlichen Mächte, daß sie
"und die erhobene Idee des nationalen Staates in ihren Dienst stellen konnten,
in den Dienst ihrer Machtinteressen. Gerade die beiden Staaten, die seit langem
national geeint waren, proklamierten das Nationalitätsprinzip -- obgleich sie
beide in ihrem Machtbereich Teile fremder Staaten umfaßten: England die
Iren, Frankreich die Deutschen im heutigen Reichslande. Gerade Napoleon der
Dritte dachte nicht daran, so eifrig er sonst für das Nationalitätsprinzip ein¬
zutreten schien, irgendeinen Anstoß daran zu nehmen, das nichtfranzösische
Elsaß zu behalten, das nichtfranzösische Belgien oder die Pfalz, zu erstreben,
das nichtfranzösische Nizza mit Frankreich zu vereinen. Für die nichteuropäischew


Grenzboten IV 1914 11


Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa

>le politische Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts wurde
stark bestimmt durch den Nationalitätsgedanken. Wie eine
I elementare Kraft setzt sich der Gedanke nationaler Einheit durch
seit der inneren Erschütterung des politischen Seins Gesamteuropas
durch Napoleon den Ersten. Die Einigung Deutschlands und
Italiens, geleitet von den Machtbedürfnissen je eines Teilstaates, wurde getrieben
von dem Einheitswillen des ganzen Volkes oder doch seiner überwiegenden
Mehrheit. Das „Nationalitätsprinzip" wurde eine historische „Idee", das heißt
ein WillenLziel, eine Forderung, die eine starke Wirkung in der Geschichte aus¬
übte, natürlich nicht, wenn es auch vielen so erschien, weil dies Prinzip ein
wirkliches „historisches Gesetz" war oder ist, sondern weil eben viele Menschen
Mit fast religiöser Inbrunst daran glaubten, ihm ihr ganzes Können und Wollen,
ja das Leben weihten. Die Einheit Deutschlands ist zwar das Werk zumeist
bestimmter Menschen, aber doch gestützt und getragen von dieser „Idee".
Höchste Güter, edelste Leidenschaften, reinster Opfermut wurden lebendig für den
Begriff: nationale Einheit.

Sehr bald aber begriffen die alten,- bestehenden staatlichen Mächte, daß sie
«und die erhobene Idee des nationalen Staates in ihren Dienst stellen konnten,
in den Dienst ihrer Machtinteressen. Gerade die beiden Staaten, die seit langem
national geeint waren, proklamierten das Nationalitätsprinzip — obgleich sie
beide in ihrem Machtbereich Teile fremder Staaten umfaßten: England die
Iren, Frankreich die Deutschen im heutigen Reichslande. Gerade Napoleon der
Dritte dachte nicht daran, so eifrig er sonst für das Nationalitätsprinzip ein¬
zutreten schien, irgendeinen Anstoß daran zu nehmen, das nichtfranzösische
Elsaß zu behalten, das nichtfranzösische Belgien oder die Pfalz, zu erstreben,
das nichtfranzösische Nizza mit Frankreich zu vereinen. Für die nichteuropäischew


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[0173] [Abbildung] Nationalitätsgedanke und das neue Mitteleuropa >le politische Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts wurde stark bestimmt durch den Nationalitätsgedanken. Wie eine I elementare Kraft setzt sich der Gedanke nationaler Einheit durch seit der inneren Erschütterung des politischen Seins Gesamteuropas durch Napoleon den Ersten. Die Einigung Deutschlands und Italiens, geleitet von den Machtbedürfnissen je eines Teilstaates, wurde getrieben von dem Einheitswillen des ganzen Volkes oder doch seiner überwiegenden Mehrheit. Das „Nationalitätsprinzip" wurde eine historische „Idee", das heißt ein WillenLziel, eine Forderung, die eine starke Wirkung in der Geschichte aus¬ übte, natürlich nicht, wenn es auch vielen so erschien, weil dies Prinzip ein wirkliches „historisches Gesetz" war oder ist, sondern weil eben viele Menschen Mit fast religiöser Inbrunst daran glaubten, ihm ihr ganzes Können und Wollen, ja das Leben weihten. Die Einheit Deutschlands ist zwar das Werk zumeist bestimmter Menschen, aber doch gestützt und getragen von dieser „Idee". Höchste Güter, edelste Leidenschaften, reinster Opfermut wurden lebendig für den Begriff: nationale Einheit. Sehr bald aber begriffen die alten,- bestehenden staatlichen Mächte, daß sie «und die erhobene Idee des nationalen Staates in ihren Dienst stellen konnten, in den Dienst ihrer Machtinteressen. Gerade die beiden Staaten, die seit langem national geeint waren, proklamierten das Nationalitätsprinzip — obgleich sie beide in ihrem Machtbereich Teile fremder Staaten umfaßten: England die Iren, Frankreich die Deutschen im heutigen Reichslande. Gerade Napoleon der Dritte dachte nicht daran, so eifrig er sonst für das Nationalitätsprinzip ein¬ zutreten schien, irgendeinen Anstoß daran zu nehmen, das nichtfranzösische Elsaß zu behalten, das nichtfranzösische Belgien oder die Pfalz, zu erstreben, das nichtfranzösische Nizza mit Frankreich zu vereinen. Für die nichteuropäischew Grenzboten IV 1914 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/173>, abgerufen am 02.07.2024.