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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Russen und wir

bisher als die größte Gefahr für das russische Volk bezeichnet haben. Die Par¬
teien sind in ihr eigenes Lügengewebe verstrickt und müssen sich der reaktionären
Regierung auf Gnade und Ungnade ergeben, -- es sei denn, daß diese von
uns vernichtet wird.

Wie fein es den Petersburger Regierungskünstlern gelungen ist, die Oppo¬
sition einzuwickeln, -- allerdings mit Hilfe englischer und französischer Freunde
-- beweist die Tatsache, daß der alte Anarchist Fürst Krapotkin, der in London
lebt, und der in Paris in der Verbannung lebende Führer der russischen
Sozialdemokratie Plechanow auch glauben, sich gegen die Bestimmungen des
Handelsvertrages erheben zu müssen.

Die Russen sind mit der ganzen Handelsvertragsagitation schmählich be¬
trogen wordenI Betrogen, weil der Minister des Innern Maklakow mit seinem
Latein gegenüber der wachsenden Unzufriedenheit am Ende war. Allein die
Tatsache, daß die russische Gesamtwirtschaft in den Jahren seit Bestehen des
Handelsvertrages sichtbar vorangegangen ist -- jeder Russe weist mit be¬
rechtigtem Stolz darauf hin --. sollte die Parteiführer etwas kritischer gegen¬
über den Angaben der Negierung gestimmt haben. Ein Berufener hat sich schon
im Juni in Heft 26 der Grenzboten der Mühe unterzogen, den russischen
Statistikern nachzuweisen, was an der Abhängigkeit Rußlands von Deutschland
wahr ist. Der Autor begnügt sich in seiner Arbeit nicht damit die russischen
Zahlen richtigzustellen, -- er untersucht auch die deutschen Angaben und führt
sie auf das Tatsächliche zurück. Er kommt zu folgendem Ergebnis: im Jahre
1912 betrug die deutsche Einfuhr in Nußland nur 374 213 545 Rubel gleich
808 301 257 Mark, während die amtliche russische Statistik von 532 346 000
Rubel oder 1 149 867 000 Mark fabelt; umgekehrt würden nach Deutschland
russische Waren im Werte von 551 669 311 Rubel gleich 1 191 605 712 Mark
eingeführt und nicht nur im Werte von 453 828 000 Rubel oder 980 268 000
Mark. Die russsiche Ausfuhr nach Deutschland ist somit um
17? 455 766 Rubel oder 383 304 454 Mark höher als die deutsche
Einfuhr in Rußland. Wenn die Verteilung der hieraus erzielten
Gewinne im Innern nicht den Wünschen der Allgemeinheit in Nußland
Rechnung trägt, wenn vielmehr nur einige wenige sich daran zu be¬
reichern vermögen, während die Masse darbt, dann liegt das doch nicht
an uns, die wir uns in die inneren Verhältnisse Rußlands nicht hinein¬
stecken dürfen, sondern an der russischen Regierung mit Einschluß der Volks¬
vertretung.

Es gehört wirklich Kühnheit dazu, unter diesen Verhältnissen von einer
Unterjochung Rußlands unter die deutsche Wirtschaft zu sprechen. Die russische
Regierung sieht scheinbar mit der größten Geringschätzung auf die politischen
Führer des Volkes, denen sie solche dreisten Entstellungen vorzusetzen wagt.
Würde die russische Gesellschaft mehr echtes Selbstbewußtsein in sich tragen, so
hätte sie die Intrige ihres schlimmsten Feindes, eben der russischen Regierung,

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Die Russen und wir

bisher als die größte Gefahr für das russische Volk bezeichnet haben. Die Par¬
teien sind in ihr eigenes Lügengewebe verstrickt und müssen sich der reaktionären
Regierung auf Gnade und Ungnade ergeben, — es sei denn, daß diese von
uns vernichtet wird.

Wie fein es den Petersburger Regierungskünstlern gelungen ist, die Oppo¬
sition einzuwickeln, — allerdings mit Hilfe englischer und französischer Freunde
— beweist die Tatsache, daß der alte Anarchist Fürst Krapotkin, der in London
lebt, und der in Paris in der Verbannung lebende Führer der russischen
Sozialdemokratie Plechanow auch glauben, sich gegen die Bestimmungen des
Handelsvertrages erheben zu müssen.

Die Russen sind mit der ganzen Handelsvertragsagitation schmählich be¬
trogen wordenI Betrogen, weil der Minister des Innern Maklakow mit seinem
Latein gegenüber der wachsenden Unzufriedenheit am Ende war. Allein die
Tatsache, daß die russische Gesamtwirtschaft in den Jahren seit Bestehen des
Handelsvertrages sichtbar vorangegangen ist — jeder Russe weist mit be¬
rechtigtem Stolz darauf hin —. sollte die Parteiführer etwas kritischer gegen¬
über den Angaben der Negierung gestimmt haben. Ein Berufener hat sich schon
im Juni in Heft 26 der Grenzboten der Mühe unterzogen, den russischen
Statistikern nachzuweisen, was an der Abhängigkeit Rußlands von Deutschland
wahr ist. Der Autor begnügt sich in seiner Arbeit nicht damit die russischen
Zahlen richtigzustellen, — er untersucht auch die deutschen Angaben und führt
sie auf das Tatsächliche zurück. Er kommt zu folgendem Ergebnis: im Jahre
1912 betrug die deutsche Einfuhr in Nußland nur 374 213 545 Rubel gleich
808 301 257 Mark, während die amtliche russische Statistik von 532 346 000
Rubel oder 1 149 867 000 Mark fabelt; umgekehrt würden nach Deutschland
russische Waren im Werte von 551 669 311 Rubel gleich 1 191 605 712 Mark
eingeführt und nicht nur im Werte von 453 828 000 Rubel oder 980 268 000
Mark. Die russsiche Ausfuhr nach Deutschland ist somit um
17? 455 766 Rubel oder 383 304 454 Mark höher als die deutsche
Einfuhr in Rußland. Wenn die Verteilung der hieraus erzielten
Gewinne im Innern nicht den Wünschen der Allgemeinheit in Nußland
Rechnung trägt, wenn vielmehr nur einige wenige sich daran zu be¬
reichern vermögen, während die Masse darbt, dann liegt das doch nicht
an uns, die wir uns in die inneren Verhältnisse Rußlands nicht hinein¬
stecken dürfen, sondern an der russischen Regierung mit Einschluß der Volks¬
vertretung.

Es gehört wirklich Kühnheit dazu, unter diesen Verhältnissen von einer
Unterjochung Rußlands unter die deutsche Wirtschaft zu sprechen. Die russische
Regierung sieht scheinbar mit der größten Geringschätzung auf die politischen
Führer des Volkes, denen sie solche dreisten Entstellungen vorzusetzen wagt.
Würde die russische Gesellschaft mehr echtes Selbstbewußtsein in sich tragen, so
hätte sie die Intrige ihres schlimmsten Feindes, eben der russischen Regierung,

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[0016] Die Russen und wir bisher als die größte Gefahr für das russische Volk bezeichnet haben. Die Par¬ teien sind in ihr eigenes Lügengewebe verstrickt und müssen sich der reaktionären Regierung auf Gnade und Ungnade ergeben, — es sei denn, daß diese von uns vernichtet wird. Wie fein es den Petersburger Regierungskünstlern gelungen ist, die Oppo¬ sition einzuwickeln, — allerdings mit Hilfe englischer und französischer Freunde — beweist die Tatsache, daß der alte Anarchist Fürst Krapotkin, der in London lebt, und der in Paris in der Verbannung lebende Führer der russischen Sozialdemokratie Plechanow auch glauben, sich gegen die Bestimmungen des Handelsvertrages erheben zu müssen. Die Russen sind mit der ganzen Handelsvertragsagitation schmählich be¬ trogen wordenI Betrogen, weil der Minister des Innern Maklakow mit seinem Latein gegenüber der wachsenden Unzufriedenheit am Ende war. Allein die Tatsache, daß die russische Gesamtwirtschaft in den Jahren seit Bestehen des Handelsvertrages sichtbar vorangegangen ist — jeder Russe weist mit be¬ rechtigtem Stolz darauf hin —. sollte die Parteiführer etwas kritischer gegen¬ über den Angaben der Negierung gestimmt haben. Ein Berufener hat sich schon im Juni in Heft 26 der Grenzboten der Mühe unterzogen, den russischen Statistikern nachzuweisen, was an der Abhängigkeit Rußlands von Deutschland wahr ist. Der Autor begnügt sich in seiner Arbeit nicht damit die russischen Zahlen richtigzustellen, — er untersucht auch die deutschen Angaben und führt sie auf das Tatsächliche zurück. Er kommt zu folgendem Ergebnis: im Jahre 1912 betrug die deutsche Einfuhr in Nußland nur 374 213 545 Rubel gleich 808 301 257 Mark, während die amtliche russische Statistik von 532 346 000 Rubel oder 1 149 867 000 Mark fabelt; umgekehrt würden nach Deutschland russische Waren im Werte von 551 669 311 Rubel gleich 1 191 605 712 Mark eingeführt und nicht nur im Werte von 453 828 000 Rubel oder 980 268 000 Mark. Die russsiche Ausfuhr nach Deutschland ist somit um 17? 455 766 Rubel oder 383 304 454 Mark höher als die deutsche Einfuhr in Rußland. Wenn die Verteilung der hieraus erzielten Gewinne im Innern nicht den Wünschen der Allgemeinheit in Nußland Rechnung trägt, wenn vielmehr nur einige wenige sich daran zu be¬ reichern vermögen, während die Masse darbt, dann liegt das doch nicht an uns, die wir uns in die inneren Verhältnisse Rußlands nicht hinein¬ stecken dürfen, sondern an der russischen Regierung mit Einschluß der Volks¬ vertretung. Es gehört wirklich Kühnheit dazu, unter diesen Verhältnissen von einer Unterjochung Rußlands unter die deutsche Wirtschaft zu sprechen. Die russische Regierung sieht scheinbar mit der größten Geringschätzung auf die politischen Führer des Volkes, denen sie solche dreisten Entstellungen vorzusetzen wagt. Würde die russische Gesellschaft mehr echtes Selbstbewußtsein in sich tragen, so hätte sie die Intrige ihres schlimmsten Feindes, eben der russischen Regierung, /

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/16>, abgerufen am 30.06.2024.