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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Russen und wir

wärtige ist sie ohne Belang; sie wird in ihrer Unbildung hinter jeder Regierung
stehen, die sie dazu zwingen kann, -- sie wird den Revolutionären anhängen,
sobald diese sich irgendwo als mächtig erweisen.

Wen wir aber nicht übergehen dürfen, das ist die dünne Schicht der Ge¬
bildeten, die sich zusammensetzt aus den Offizieren, den Staatsbeamten, den
Beamten der städtischen und ländlichen Selbstverwaltung und den Vertretern
der sonstigen freien Berufe. In diesen Kreisen mehr als in jedem anderen
Lande bilden sich die Stimmungen, die für die Beurteilung der internationalen
Sympathien des russischen Volkes wichtig sind. Durch sie gewinnt die Presse
ihre Bedeutung; möge sie wie während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts
auf die schöne und pseudowissenschaftliche Literatur angewiesen sein, möge sie,
wie seit 1905 in den wirtschaftlichen Abhandlungen ihren Ausdruck finden. Seit
langem geben die genannten Kreise den Ton für die Stimmung an: vor hundert
Jahren unter Alexander dem Ersten waren es mehr die aus den Befreiungs¬
kriegen heimgekehrten Offiziere, politisch hervorgetreten und bekannt geworden
als "Dekabristen"; unter Alexander dem Zweiten wurden die Offiziere abgelöst
von den liberalen Beamten, die französische Neigungen hatten und im Fürsten
Vismarck den bösen Dämon des Zaren sahen, der diesen von liberalen Reformen
zurückhielt. Von 1881 bis 1904 gab es überhaupt keine öffentliche Meinung;
doch entwickelte sich jene unterirdische Schicht, die die rote Internationale in der
Idee aufzog, daß Rußland zu keinem politischen und kulturellen Fortschritt
kommen werde, ehe nicht Preußen niedergezwungen ist. Diese Auffassung wurde
während der Revolution von den Polen genährt, die ihre doppelzüngige Politik
gegen die russischen Demokraten dadurch zu bemänteln suchten, daß sie Deutsch,
land verdächtigten, es lauere nur darauf, in die innerrussischen Verhältnisse
eingreifen zu können. So ist es verständlich, daß zahlreiche Russen uns dafür
verantwortlich machen, wenn es der russischen Negierung gelang, so schnell Herr
der Revolution zu werden. Als Grund für die angebliche Haltung der deutschen
Regierung wird uns der Wunsch untergeschoben, das russische Volk versumpfen
und politisch unfähig werden zu lassen. -- Auf welches geringe Maß muß die
Selbstachtung und das Selbstvertrauen eines Volkes zurückgegangen sein, wenn
solche Gedanken Boden fassen können I Doch wie dem auch sei, die Begründung
hat es ermöglicht, dem vor einiger Zeit entbrannten Kampf gegen den Tarif
von 1906 eine ungeahnte Schärfe zu geben und ihn selbst populär zu
machen. Während sich über die Mission Liman-Sanders die Offiziere auf¬
regten, wurden durch die Agitation gegen den Handelsvertrag die Gewerbe¬
treibenden gewonnen und wir können heute von einer Klique aus Staatsbeamten
und Gewerbetreibenden sprechen, die sich die Zerknirschung des Offizierskorps
der 1905 von den Japanern geschlagenen Armee und die Habsucht der Massen
nutzbar macht. -- Natürlich können unter diesen Vorbedingungen im Innern
die Parteien der Opposition und ihre Führer keine Parole ausgeben gegen eins
Regierung, die zur Befreiung aufruft vom Joch eines Feindes, den sie selbst


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Die Russen und wir

wärtige ist sie ohne Belang; sie wird in ihrer Unbildung hinter jeder Regierung
stehen, die sie dazu zwingen kann, — sie wird den Revolutionären anhängen,
sobald diese sich irgendwo als mächtig erweisen.

Wen wir aber nicht übergehen dürfen, das ist die dünne Schicht der Ge¬
bildeten, die sich zusammensetzt aus den Offizieren, den Staatsbeamten, den
Beamten der städtischen und ländlichen Selbstverwaltung und den Vertretern
der sonstigen freien Berufe. In diesen Kreisen mehr als in jedem anderen
Lande bilden sich die Stimmungen, die für die Beurteilung der internationalen
Sympathien des russischen Volkes wichtig sind. Durch sie gewinnt die Presse
ihre Bedeutung; möge sie wie während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts
auf die schöne und pseudowissenschaftliche Literatur angewiesen sein, möge sie,
wie seit 1905 in den wirtschaftlichen Abhandlungen ihren Ausdruck finden. Seit
langem geben die genannten Kreise den Ton für die Stimmung an: vor hundert
Jahren unter Alexander dem Ersten waren es mehr die aus den Befreiungs¬
kriegen heimgekehrten Offiziere, politisch hervorgetreten und bekannt geworden
als „Dekabristen"; unter Alexander dem Zweiten wurden die Offiziere abgelöst
von den liberalen Beamten, die französische Neigungen hatten und im Fürsten
Vismarck den bösen Dämon des Zaren sahen, der diesen von liberalen Reformen
zurückhielt. Von 1881 bis 1904 gab es überhaupt keine öffentliche Meinung;
doch entwickelte sich jene unterirdische Schicht, die die rote Internationale in der
Idee aufzog, daß Rußland zu keinem politischen und kulturellen Fortschritt
kommen werde, ehe nicht Preußen niedergezwungen ist. Diese Auffassung wurde
während der Revolution von den Polen genährt, die ihre doppelzüngige Politik
gegen die russischen Demokraten dadurch zu bemänteln suchten, daß sie Deutsch,
land verdächtigten, es lauere nur darauf, in die innerrussischen Verhältnisse
eingreifen zu können. So ist es verständlich, daß zahlreiche Russen uns dafür
verantwortlich machen, wenn es der russischen Negierung gelang, so schnell Herr
der Revolution zu werden. Als Grund für die angebliche Haltung der deutschen
Regierung wird uns der Wunsch untergeschoben, das russische Volk versumpfen
und politisch unfähig werden zu lassen. — Auf welches geringe Maß muß die
Selbstachtung und das Selbstvertrauen eines Volkes zurückgegangen sein, wenn
solche Gedanken Boden fassen können I Doch wie dem auch sei, die Begründung
hat es ermöglicht, dem vor einiger Zeit entbrannten Kampf gegen den Tarif
von 1906 eine ungeahnte Schärfe zu geben und ihn selbst populär zu
machen. Während sich über die Mission Liman-Sanders die Offiziere auf¬
regten, wurden durch die Agitation gegen den Handelsvertrag die Gewerbe¬
treibenden gewonnen und wir können heute von einer Klique aus Staatsbeamten
und Gewerbetreibenden sprechen, die sich die Zerknirschung des Offizierskorps
der 1905 von den Japanern geschlagenen Armee und die Habsucht der Massen
nutzbar macht. — Natürlich können unter diesen Vorbedingungen im Innern
die Parteien der Opposition und ihre Führer keine Parole ausgeben gegen eins
Regierung, die zur Befreiung aufruft vom Joch eines Feindes, den sie selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/15>, abgerufen am 30.06.2024.