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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Russen und wir

Im ganzen betrachtet, hatte der Krieg für die russische Regierung unter
günstigen Auspizien begonnen: die sozialistische Opposition, die in jedem Krieg,
in den Rußland verwickelt wird, in erster Linie die Gelegenheit zur Schwächung
der Regierung begrüßt, war gefesselt; ihre Wortführer waren aus Petersburg
ausgewiesen; der ins Ausland von gewisser Seite als Aufstand hinausposaunte
Streik in Petersburg war eine Demonstration des Ministers des Innern, dazu
bestimmt, den Zaren einzuschüchtern und ihm die Mobilmachungsorder ab¬
zugewinnen, und dann auch, um den Vorwand für die Verhaftung zahlreicher
Sozialisten und Demokraten sowie die Schließung mehrerer unbequemer Blätter,
darunter auch Rjetsch, zu erhalten. Den Blättern der bürgerlichen Linken
wurde das Erscheinen erst wieder erlaubt, nachdem die Partei der Volsfreiheit
(Kadetten) am 3. August folgenden Aufruf erlassen hatte:

"In der schweren Stunde, da der Feind vor den Toren steht, da unsere
Brüder ihm entgegengetreten sind und das eigene Blut bereit ist, für die
Errettung der Heimat vergossen zu werden, da alle Zurückgebliebenen durch die
Gewalt der Umstände zu gewaltigen seelischen und materiellen Opfern berufen
sind, bringen die Führer der Partei der Volksfreiheit die feste Überzeugung
zum Ausdruck, daß ihre politischen Freunde und Gleichgesinnten, wo sie sich
auch befinden mögen und in welcher Lage der Krieg sie antreffen möge, bis
zum Ende ihre Pflicht als russische Bürger in dem bevorstehenden Kampf tun
werden. Wie auch ihr Verhältnis zur inneren Politik des Vaterlandes sein
möge, unsere erste Pflicht ist, unser Land ganz und ungeteilt und in der
Stellung unter den Weltmächten zu erhalten, die uns von unserem Feinde
streitig gemacht wird."

"Stellen wir den inneren Streit beiseite, laßt uns auch nicht den geringsten
Grund zu Spekulationen auf die uns trennenden Meinungsverschiedenheiten
geben und denken wir fest daran, daß es gegenwärtig unsere erste und einzige
Pflicht ist, die Kämpfer zu unterstützen durch Glauben an die Güte unserer
Sache, durch ruhige Zuversicht und durch die Hoffnung auf den Erfolg unserer
Waffen. Möge unserer Armee die moralische Unterstützung durch das ganze
Land die Kraftentfaltung geben, zu der sie befähigt ist, und mögen unsere
Verteidiger sich nicht in Sorge zurückwenden, sondern tapfer voranschreiten
dem Sieg und einer besseren Zukunft entgegen."

Mit diesen Ausführungen ist nicht gesagt, daß man im russischen Volk
und besonders bei den konstitutionellen Demokraten den Krieg gegen Deutsch¬
land gern kommen sah. In den breiten Massen besteht überhaupt kein Haß,
-- wohl Mißtrauen, wie er sich gegen Ausländer in den konservativen Schichten
aller Völker findet, aber kein Haß! Doch mit den Massen, soweit sie nicht
organisierte Genossen in den Städten sind, brauchen wir uns bei einer Analyse
der politischen Gesinnung im russischen Volke kaum zu befassen; die breite
Schicht des Volkes hat erst vor wenigen Jahren einige Bedeutung für die
innere Politik durch die Verleihung des Wahlrechts erhalten, -- für die aus-


Die Russen und wir

Im ganzen betrachtet, hatte der Krieg für die russische Regierung unter
günstigen Auspizien begonnen: die sozialistische Opposition, die in jedem Krieg,
in den Rußland verwickelt wird, in erster Linie die Gelegenheit zur Schwächung
der Regierung begrüßt, war gefesselt; ihre Wortführer waren aus Petersburg
ausgewiesen; der ins Ausland von gewisser Seite als Aufstand hinausposaunte
Streik in Petersburg war eine Demonstration des Ministers des Innern, dazu
bestimmt, den Zaren einzuschüchtern und ihm die Mobilmachungsorder ab¬
zugewinnen, und dann auch, um den Vorwand für die Verhaftung zahlreicher
Sozialisten und Demokraten sowie die Schließung mehrerer unbequemer Blätter,
darunter auch Rjetsch, zu erhalten. Den Blättern der bürgerlichen Linken
wurde das Erscheinen erst wieder erlaubt, nachdem die Partei der Volsfreiheit
(Kadetten) am 3. August folgenden Aufruf erlassen hatte:

„In der schweren Stunde, da der Feind vor den Toren steht, da unsere
Brüder ihm entgegengetreten sind und das eigene Blut bereit ist, für die
Errettung der Heimat vergossen zu werden, da alle Zurückgebliebenen durch die
Gewalt der Umstände zu gewaltigen seelischen und materiellen Opfern berufen
sind, bringen die Führer der Partei der Volksfreiheit die feste Überzeugung
zum Ausdruck, daß ihre politischen Freunde und Gleichgesinnten, wo sie sich
auch befinden mögen und in welcher Lage der Krieg sie antreffen möge, bis
zum Ende ihre Pflicht als russische Bürger in dem bevorstehenden Kampf tun
werden. Wie auch ihr Verhältnis zur inneren Politik des Vaterlandes sein
möge, unsere erste Pflicht ist, unser Land ganz und ungeteilt und in der
Stellung unter den Weltmächten zu erhalten, die uns von unserem Feinde
streitig gemacht wird."

„Stellen wir den inneren Streit beiseite, laßt uns auch nicht den geringsten
Grund zu Spekulationen auf die uns trennenden Meinungsverschiedenheiten
geben und denken wir fest daran, daß es gegenwärtig unsere erste und einzige
Pflicht ist, die Kämpfer zu unterstützen durch Glauben an die Güte unserer
Sache, durch ruhige Zuversicht und durch die Hoffnung auf den Erfolg unserer
Waffen. Möge unserer Armee die moralische Unterstützung durch das ganze
Land die Kraftentfaltung geben, zu der sie befähigt ist, und mögen unsere
Verteidiger sich nicht in Sorge zurückwenden, sondern tapfer voranschreiten
dem Sieg und einer besseren Zukunft entgegen."

Mit diesen Ausführungen ist nicht gesagt, daß man im russischen Volk
und besonders bei den konstitutionellen Demokraten den Krieg gegen Deutsch¬
land gern kommen sah. In den breiten Massen besteht überhaupt kein Haß,
— wohl Mißtrauen, wie er sich gegen Ausländer in den konservativen Schichten
aller Völker findet, aber kein Haß! Doch mit den Massen, soweit sie nicht
organisierte Genossen in den Städten sind, brauchen wir uns bei einer Analyse
der politischen Gesinnung im russischen Volke kaum zu befassen; die breite
Schicht des Volkes hat erst vor wenigen Jahren einige Bedeutung für die
innere Politik durch die Verleihung des Wahlrechts erhalten, — für die aus-


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[0014] Die Russen und wir Im ganzen betrachtet, hatte der Krieg für die russische Regierung unter günstigen Auspizien begonnen: die sozialistische Opposition, die in jedem Krieg, in den Rußland verwickelt wird, in erster Linie die Gelegenheit zur Schwächung der Regierung begrüßt, war gefesselt; ihre Wortführer waren aus Petersburg ausgewiesen; der ins Ausland von gewisser Seite als Aufstand hinausposaunte Streik in Petersburg war eine Demonstration des Ministers des Innern, dazu bestimmt, den Zaren einzuschüchtern und ihm die Mobilmachungsorder ab¬ zugewinnen, und dann auch, um den Vorwand für die Verhaftung zahlreicher Sozialisten und Demokraten sowie die Schließung mehrerer unbequemer Blätter, darunter auch Rjetsch, zu erhalten. Den Blättern der bürgerlichen Linken wurde das Erscheinen erst wieder erlaubt, nachdem die Partei der Volsfreiheit (Kadetten) am 3. August folgenden Aufruf erlassen hatte: „In der schweren Stunde, da der Feind vor den Toren steht, da unsere Brüder ihm entgegengetreten sind und das eigene Blut bereit ist, für die Errettung der Heimat vergossen zu werden, da alle Zurückgebliebenen durch die Gewalt der Umstände zu gewaltigen seelischen und materiellen Opfern berufen sind, bringen die Führer der Partei der Volksfreiheit die feste Überzeugung zum Ausdruck, daß ihre politischen Freunde und Gleichgesinnten, wo sie sich auch befinden mögen und in welcher Lage der Krieg sie antreffen möge, bis zum Ende ihre Pflicht als russische Bürger in dem bevorstehenden Kampf tun werden. Wie auch ihr Verhältnis zur inneren Politik des Vaterlandes sein möge, unsere erste Pflicht ist, unser Land ganz und ungeteilt und in der Stellung unter den Weltmächten zu erhalten, die uns von unserem Feinde streitig gemacht wird." „Stellen wir den inneren Streit beiseite, laßt uns auch nicht den geringsten Grund zu Spekulationen auf die uns trennenden Meinungsverschiedenheiten geben und denken wir fest daran, daß es gegenwärtig unsere erste und einzige Pflicht ist, die Kämpfer zu unterstützen durch Glauben an die Güte unserer Sache, durch ruhige Zuversicht und durch die Hoffnung auf den Erfolg unserer Waffen. Möge unserer Armee die moralische Unterstützung durch das ganze Land die Kraftentfaltung geben, zu der sie befähigt ist, und mögen unsere Verteidiger sich nicht in Sorge zurückwenden, sondern tapfer voranschreiten dem Sieg und einer besseren Zukunft entgegen." Mit diesen Ausführungen ist nicht gesagt, daß man im russischen Volk und besonders bei den konstitutionellen Demokraten den Krieg gegen Deutsch¬ land gern kommen sah. In den breiten Massen besteht überhaupt kein Haß, — wohl Mißtrauen, wie er sich gegen Ausländer in den konservativen Schichten aller Völker findet, aber kein Haß! Doch mit den Massen, soweit sie nicht organisierte Genossen in den Städten sind, brauchen wir uns bei einer Analyse der politischen Gesinnung im russischen Volke kaum zu befassen; die breite Schicht des Volkes hat erst vor wenigen Jahren einige Bedeutung für die innere Politik durch die Verleihung des Wahlrechts erhalten, — für die aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/14>, abgerufen am 30.06.2024.