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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Deutsche Dichter in Rußland
v Dr. Aarl Freye on

s sind traurige Bilder, die in den folgenden Zeilen umrissen
werden sollen, und es kann nicht behauptet werden, daß es
unbedingt jedem deutschen Dichter unter dem Schutz des russischen
Reichs so schlecht ergehen muß, wie es den beiden ergangen ist,
die wir in den Mittelpunkt stellen wollen. Gleichwohl -- wenn
zwei deutschrusstsche Poeten von so verschiedenem Talent, ohne jegliche äußere
Berührungspunkte ini Leben, doch genau entsprechende Schicksale haben, so kann
das schwerlich Zufall sein. Es werden gemeinsame Gründe vorliegen, und die
Fülle können bis zu gewisseni Grade als typisch gelten.

In die russischen Ostseeprovinzen führen uns die Anfänge beider Poeten,
und ganz gewiß ist nicht jedem Deutschen sein Leben dort mißraten. Denken
wir an Herder und an seine Lobsprüche über die in Riga verlebte Zeit. In
Riga, "das unter russischem Schatten beinahe Genf ist", hat er die glücklichste,
ungebundenste und reichste Periode seines Lebens verbracht; hier, wo noch ein
Nest von dem alten stolzen Hansegeist lebte, wo bürgerlicher Gemeinsinn und
Patriotismus den einzelnen erhob, sind die Keime zu allem späteren Guten in
ihni gediehen. Ihn bedrückte der auf das Reelle und Nützliche gerichtete Geist
der Rigenser nicht, ihm kam es wenig zum Bewußtsein, daß diese deutsche Stadt
eine Insel war. Gewiß in einem Lande, das überhaupt meist Deutschen gehörte,
das aber doch einer einheitlichen Kultur entbehren mußte; bestanden doch auch
schon zwischen dem deutschen Bürgertum der livländischen Städte und den
deutschen adligen Großgrundbesitzern des flachen Landes genug Gegensätze.
Herder, wie gesagt, empfand diese Mängel wenig. Freilich, er entstammte
weder diesem Lande, noch blieb er lange dort; so genoß er nur die Vorzüge.
Anders konnte es poetischen Naturen ergehen, die hier aufwuchsen und Brot¬
erwerb suchen sollten, in einen? -- trotz aller damaligen Selbstverwaltung der
baltischen Städte -- fremden Staat, in einer Bürgergemeinschaft, deren bestes
eben lediglich ein gesunder Kaufmanns- und Erwerbsgeist war. Die eigentlichen
Bewohner des flachen Landes waren ja Letten und Ehlen, die Beherrscherin
wohnte in Petersburg -- es fehlte eine gewisse letzte heimatliche Gemeinsamkeit,
wie sie zarteren poetischen Naturen, und ganz besonders deutschen, die Kraft
gibt zur sicheren Entwicklung. Auffallende poetische Gaben zeigten sich hier
vielleicht besonders früh, eine schnelle und nervöse Frühreife überraschte, plötzlich
aber versagte die Lebensenergie, der Auswuchs stockte und wurde kraftlos, und
es zeigte sich, daß die Bodenständigkeit fehlte, daß die Wurzeln nirgends in


8"


Deutsche Dichter in Rußland
v Dr. Aarl Freye on

s sind traurige Bilder, die in den folgenden Zeilen umrissen
werden sollen, und es kann nicht behauptet werden, daß es
unbedingt jedem deutschen Dichter unter dem Schutz des russischen
Reichs so schlecht ergehen muß, wie es den beiden ergangen ist,
die wir in den Mittelpunkt stellen wollen. Gleichwohl — wenn
zwei deutschrusstsche Poeten von so verschiedenem Talent, ohne jegliche äußere
Berührungspunkte ini Leben, doch genau entsprechende Schicksale haben, so kann
das schwerlich Zufall sein. Es werden gemeinsame Gründe vorliegen, und die
Fülle können bis zu gewisseni Grade als typisch gelten.

In die russischen Ostseeprovinzen führen uns die Anfänge beider Poeten,
und ganz gewiß ist nicht jedem Deutschen sein Leben dort mißraten. Denken
wir an Herder und an seine Lobsprüche über die in Riga verlebte Zeit. In
Riga, „das unter russischem Schatten beinahe Genf ist", hat er die glücklichste,
ungebundenste und reichste Periode seines Lebens verbracht; hier, wo noch ein
Nest von dem alten stolzen Hansegeist lebte, wo bürgerlicher Gemeinsinn und
Patriotismus den einzelnen erhob, sind die Keime zu allem späteren Guten in
ihni gediehen. Ihn bedrückte der auf das Reelle und Nützliche gerichtete Geist
der Rigenser nicht, ihm kam es wenig zum Bewußtsein, daß diese deutsche Stadt
eine Insel war. Gewiß in einem Lande, das überhaupt meist Deutschen gehörte,
das aber doch einer einheitlichen Kultur entbehren mußte; bestanden doch auch
schon zwischen dem deutschen Bürgertum der livländischen Städte und den
deutschen adligen Großgrundbesitzern des flachen Landes genug Gegensätze.
Herder, wie gesagt, empfand diese Mängel wenig. Freilich, er entstammte
weder diesem Lande, noch blieb er lange dort; so genoß er nur die Vorzüge.
Anders konnte es poetischen Naturen ergehen, die hier aufwuchsen und Brot¬
erwerb suchen sollten, in einen? — trotz aller damaligen Selbstverwaltung der
baltischen Städte — fremden Staat, in einer Bürgergemeinschaft, deren bestes
eben lediglich ein gesunder Kaufmanns- und Erwerbsgeist war. Die eigentlichen
Bewohner des flachen Landes waren ja Letten und Ehlen, die Beherrscherin
wohnte in Petersburg — es fehlte eine gewisse letzte heimatliche Gemeinsamkeit,
wie sie zarteren poetischen Naturen, und ganz besonders deutschen, die Kraft
gibt zur sicheren Entwicklung. Auffallende poetische Gaben zeigten sich hier
vielleicht besonders früh, eine schnelle und nervöse Frühreife überraschte, plötzlich
aber versagte die Lebensenergie, der Auswuchs stockte und wurde kraftlos, und
es zeigte sich, daß die Bodenständigkeit fehlte, daß die Wurzeln nirgends in


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[0127] [Abbildung] Deutsche Dichter in Rußland v Dr. Aarl Freye on s sind traurige Bilder, die in den folgenden Zeilen umrissen werden sollen, und es kann nicht behauptet werden, daß es unbedingt jedem deutschen Dichter unter dem Schutz des russischen Reichs so schlecht ergehen muß, wie es den beiden ergangen ist, die wir in den Mittelpunkt stellen wollen. Gleichwohl — wenn zwei deutschrusstsche Poeten von so verschiedenem Talent, ohne jegliche äußere Berührungspunkte ini Leben, doch genau entsprechende Schicksale haben, so kann das schwerlich Zufall sein. Es werden gemeinsame Gründe vorliegen, und die Fülle können bis zu gewisseni Grade als typisch gelten. In die russischen Ostseeprovinzen führen uns die Anfänge beider Poeten, und ganz gewiß ist nicht jedem Deutschen sein Leben dort mißraten. Denken wir an Herder und an seine Lobsprüche über die in Riga verlebte Zeit. In Riga, „das unter russischem Schatten beinahe Genf ist", hat er die glücklichste, ungebundenste und reichste Periode seines Lebens verbracht; hier, wo noch ein Nest von dem alten stolzen Hansegeist lebte, wo bürgerlicher Gemeinsinn und Patriotismus den einzelnen erhob, sind die Keime zu allem späteren Guten in ihni gediehen. Ihn bedrückte der auf das Reelle und Nützliche gerichtete Geist der Rigenser nicht, ihm kam es wenig zum Bewußtsein, daß diese deutsche Stadt eine Insel war. Gewiß in einem Lande, das überhaupt meist Deutschen gehörte, das aber doch einer einheitlichen Kultur entbehren mußte; bestanden doch auch schon zwischen dem deutschen Bürgertum der livländischen Städte und den deutschen adligen Großgrundbesitzern des flachen Landes genug Gegensätze. Herder, wie gesagt, empfand diese Mängel wenig. Freilich, er entstammte weder diesem Lande, noch blieb er lange dort; so genoß er nur die Vorzüge. Anders konnte es poetischen Naturen ergehen, die hier aufwuchsen und Brot¬ erwerb suchen sollten, in einen? — trotz aller damaligen Selbstverwaltung der baltischen Städte — fremden Staat, in einer Bürgergemeinschaft, deren bestes eben lediglich ein gesunder Kaufmanns- und Erwerbsgeist war. Die eigentlichen Bewohner des flachen Landes waren ja Letten und Ehlen, die Beherrscherin wohnte in Petersburg — es fehlte eine gewisse letzte heimatliche Gemeinsamkeit, wie sie zarteren poetischen Naturen, und ganz besonders deutschen, die Kraft gibt zur sicheren Entwicklung. Auffallende poetische Gaben zeigten sich hier vielleicht besonders früh, eine schnelle und nervöse Frühreife überraschte, plötzlich aber versagte die Lebensenergie, der Auswuchs stockte und wurde kraftlos, und es zeigte sich, daß die Bodenständigkeit fehlte, daß die Wurzeln nirgends in 8«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/127>, abgerufen am 02.07.2024.