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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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planen und Wallonen

wollen. Wer sind denn die gegenwärtigen Vlamen? Ihre Dichter, ihr ganzes
Denken verleugnen in keinem Augenblick ihre Genugtuung, germanischen Ursprunges,
ja die Wiege des deutschen Kaiserreiches zu sein. Im übrigen sind sie aber ein sehr
hartnäckiges, dickköpfiges und verbissenes Volk, das um jeden Preis seine politische
Selbständigkeit sich wiedererobern und damit die Früchte seiner jahrhunderte¬
langen Kämpfe endlich pflücken will. Spricht man von Vlamen und Vlamen-
tum, so wenden sich die Blicke unwillkürlich nach Antwerpen. Diese Stadt ist
allerdings mit Gent der Hochsitz freisinniger vlämischer Kultur und Kunst, sie
ist aber nicht der Schildträger des eigentlichen Vlamentums, das von Mecheln
und Löwen aus befehligt und vom Klerus regiert wird. Die Vlamen mögen
uns als politische Machthaber und Zwingherren trotz aller Rassengemeinschaft
ebensowenig, wie die anderen Belgier. Damals, als die Altdeutschen glaubten,
in innerpolitischen Angelegenheiten Belgiens die Partei der Vlamen ergreifen
zu müssen, lehnten diese sich einmütig gegen diese Einmischung auf. Als Pol
de Mont, gewiß eine der edelsten Erscheinungen der vlämischen Geistes- und
Kulturwelt, von einer erfolgreichen Vortragsreise durch Deutschland heimkehrte, hätte
nicht viel gefehlt, daß man ihn als Verräter und Gefolgsmann der Altdeutschen
gesteinigt hätte; es hat lange gedauert bis der, übrigens durchaus ungerecht¬
fertigte Verdacht, er hätte die Vlamen an Deutschland verkaufen wollen, von
ihm abfiel. Diese Vlamen also, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl blindlings
ihren klerikalen Führern gehorchen, die fast gar nicht ihren rein niederländischen
Stammesverwandten ähneln, sind die letzten, die mit einem Seufzer der Erlösung
ausrufen würden: Gott sei dank, nun werden wir deutsche UntertanenI Sie
werden als germanische Blutsveltern mit uns gern verhandeln und paktieren,
wie sie sich jetzt schnell an unsere provisorische Verwaltung gewöhnen werden,
sie werden sich politisch an uns anschließen wollen, aber ohne Aufgeben ihrer
Selbständigkeit. Es wäre ja wahrscheinlich hinsichtlich eines besseren politischen
Verständnisses zwischen Deutschen und Vlamen manches anders gekommen, hätten
wir nicht den unverzeihlicher Fehler begangen, uns zu wenig um letztere
gekümmert zu haben. Wir beachteten und verfolgten ihr geistiges und geschichtliches
Leben so gut wie gar nicht, nur wenn eine außergewöhnliche Erscheinung wie
z. B. Styr Streuvels auftauchte, erinnerte man sich plötzlich, daß es in Belgien
auch eine germanische Rasse gibt. Ebensowenig teilten wir von unserem literarischen
und kulturellen Reichtum Gaben an sie aus. Wir brachten damit ihre eigene
Literatur zum Verdorren, so daß sie heute noch auf dem Standpunkt schwer¬
fälliger naiver Romantik und des düsteren Melodramas steht. Heitere Erzeugnisse
kennt sie überhaupt nicht. Ersatz mußten unsere von ihnen reichlich belachten
Possendichter alten und neuen Stiles liefern. Unsere gegenwärtige erzählende
Literatur ist ihnen ein verschlossenes Buch, die Namen und Schriften unserer
Gelehrten sind ihnen eine unbekannte Welt. Nur die deutsche Musik verschaffte
sich, und auch nur in Antwerpen, etwas Eingang, und zwar, weil die eigene
Produktion, der man dort ein prachtvolles Opernhaus errichtet hatte, allzu


planen und Wallonen

wollen. Wer sind denn die gegenwärtigen Vlamen? Ihre Dichter, ihr ganzes
Denken verleugnen in keinem Augenblick ihre Genugtuung, germanischen Ursprunges,
ja die Wiege des deutschen Kaiserreiches zu sein. Im übrigen sind sie aber ein sehr
hartnäckiges, dickköpfiges und verbissenes Volk, das um jeden Preis seine politische
Selbständigkeit sich wiedererobern und damit die Früchte seiner jahrhunderte¬
langen Kämpfe endlich pflücken will. Spricht man von Vlamen und Vlamen-
tum, so wenden sich die Blicke unwillkürlich nach Antwerpen. Diese Stadt ist
allerdings mit Gent der Hochsitz freisinniger vlämischer Kultur und Kunst, sie
ist aber nicht der Schildträger des eigentlichen Vlamentums, das von Mecheln
und Löwen aus befehligt und vom Klerus regiert wird. Die Vlamen mögen
uns als politische Machthaber und Zwingherren trotz aller Rassengemeinschaft
ebensowenig, wie die anderen Belgier. Damals, als die Altdeutschen glaubten,
in innerpolitischen Angelegenheiten Belgiens die Partei der Vlamen ergreifen
zu müssen, lehnten diese sich einmütig gegen diese Einmischung auf. Als Pol
de Mont, gewiß eine der edelsten Erscheinungen der vlämischen Geistes- und
Kulturwelt, von einer erfolgreichen Vortragsreise durch Deutschland heimkehrte, hätte
nicht viel gefehlt, daß man ihn als Verräter und Gefolgsmann der Altdeutschen
gesteinigt hätte; es hat lange gedauert bis der, übrigens durchaus ungerecht¬
fertigte Verdacht, er hätte die Vlamen an Deutschland verkaufen wollen, von
ihm abfiel. Diese Vlamen also, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl blindlings
ihren klerikalen Führern gehorchen, die fast gar nicht ihren rein niederländischen
Stammesverwandten ähneln, sind die letzten, die mit einem Seufzer der Erlösung
ausrufen würden: Gott sei dank, nun werden wir deutsche UntertanenI Sie
werden als germanische Blutsveltern mit uns gern verhandeln und paktieren,
wie sie sich jetzt schnell an unsere provisorische Verwaltung gewöhnen werden,
sie werden sich politisch an uns anschließen wollen, aber ohne Aufgeben ihrer
Selbständigkeit. Es wäre ja wahrscheinlich hinsichtlich eines besseren politischen
Verständnisses zwischen Deutschen und Vlamen manches anders gekommen, hätten
wir nicht den unverzeihlicher Fehler begangen, uns zu wenig um letztere
gekümmert zu haben. Wir beachteten und verfolgten ihr geistiges und geschichtliches
Leben so gut wie gar nicht, nur wenn eine außergewöhnliche Erscheinung wie
z. B. Styr Streuvels auftauchte, erinnerte man sich plötzlich, daß es in Belgien
auch eine germanische Rasse gibt. Ebensowenig teilten wir von unserem literarischen
und kulturellen Reichtum Gaben an sie aus. Wir brachten damit ihre eigene
Literatur zum Verdorren, so daß sie heute noch auf dem Standpunkt schwer¬
fälliger naiver Romantik und des düsteren Melodramas steht. Heitere Erzeugnisse
kennt sie überhaupt nicht. Ersatz mußten unsere von ihnen reichlich belachten
Possendichter alten und neuen Stiles liefern. Unsere gegenwärtige erzählende
Literatur ist ihnen ein verschlossenes Buch, die Namen und Schriften unserer
Gelehrten sind ihnen eine unbekannte Welt. Nur die deutsche Musik verschaffte
sich, und auch nur in Antwerpen, etwas Eingang, und zwar, weil die eigene
Produktion, der man dort ein prachtvolles Opernhaus errichtet hatte, allzu


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[0124] planen und Wallonen wollen. Wer sind denn die gegenwärtigen Vlamen? Ihre Dichter, ihr ganzes Denken verleugnen in keinem Augenblick ihre Genugtuung, germanischen Ursprunges, ja die Wiege des deutschen Kaiserreiches zu sein. Im übrigen sind sie aber ein sehr hartnäckiges, dickköpfiges und verbissenes Volk, das um jeden Preis seine politische Selbständigkeit sich wiedererobern und damit die Früchte seiner jahrhunderte¬ langen Kämpfe endlich pflücken will. Spricht man von Vlamen und Vlamen- tum, so wenden sich die Blicke unwillkürlich nach Antwerpen. Diese Stadt ist allerdings mit Gent der Hochsitz freisinniger vlämischer Kultur und Kunst, sie ist aber nicht der Schildträger des eigentlichen Vlamentums, das von Mecheln und Löwen aus befehligt und vom Klerus regiert wird. Die Vlamen mögen uns als politische Machthaber und Zwingherren trotz aller Rassengemeinschaft ebensowenig, wie die anderen Belgier. Damals, als die Altdeutschen glaubten, in innerpolitischen Angelegenheiten Belgiens die Partei der Vlamen ergreifen zu müssen, lehnten diese sich einmütig gegen diese Einmischung auf. Als Pol de Mont, gewiß eine der edelsten Erscheinungen der vlämischen Geistes- und Kulturwelt, von einer erfolgreichen Vortragsreise durch Deutschland heimkehrte, hätte nicht viel gefehlt, daß man ihn als Verräter und Gefolgsmann der Altdeutschen gesteinigt hätte; es hat lange gedauert bis der, übrigens durchaus ungerecht¬ fertigte Verdacht, er hätte die Vlamen an Deutschland verkaufen wollen, von ihm abfiel. Diese Vlamen also, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl blindlings ihren klerikalen Führern gehorchen, die fast gar nicht ihren rein niederländischen Stammesverwandten ähneln, sind die letzten, die mit einem Seufzer der Erlösung ausrufen würden: Gott sei dank, nun werden wir deutsche UntertanenI Sie werden als germanische Blutsveltern mit uns gern verhandeln und paktieren, wie sie sich jetzt schnell an unsere provisorische Verwaltung gewöhnen werden, sie werden sich politisch an uns anschließen wollen, aber ohne Aufgeben ihrer Selbständigkeit. Es wäre ja wahrscheinlich hinsichtlich eines besseren politischen Verständnisses zwischen Deutschen und Vlamen manches anders gekommen, hätten wir nicht den unverzeihlicher Fehler begangen, uns zu wenig um letztere gekümmert zu haben. Wir beachteten und verfolgten ihr geistiges und geschichtliches Leben so gut wie gar nicht, nur wenn eine außergewöhnliche Erscheinung wie z. B. Styr Streuvels auftauchte, erinnerte man sich plötzlich, daß es in Belgien auch eine germanische Rasse gibt. Ebensowenig teilten wir von unserem literarischen und kulturellen Reichtum Gaben an sie aus. Wir brachten damit ihre eigene Literatur zum Verdorren, so daß sie heute noch auf dem Standpunkt schwer¬ fälliger naiver Romantik und des düsteren Melodramas steht. Heitere Erzeugnisse kennt sie überhaupt nicht. Ersatz mußten unsere von ihnen reichlich belachten Possendichter alten und neuen Stiles liefern. Unsere gegenwärtige erzählende Literatur ist ihnen ein verschlossenes Buch, die Namen und Schriften unserer Gelehrten sind ihnen eine unbekannte Welt. Nur die deutsche Musik verschaffte sich, und auch nur in Antwerpen, etwas Eingang, und zwar, weil die eigene Produktion, der man dort ein prachtvolles Opernhaus errichtet hatte, allzu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/124>, abgerufen am 02.07.2024.