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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Weltwirtschaft und Weltkrieg

wirtschaftlichen Gründen. Wer einmal Frankreich außerhalb der großen Touristen¬
straßen, besonders Südfrankreich, bereist hat. nur der kann sich einen Begriff
der wirtschaftlichen Stagnation, des Dornröschenschlafes der wunschlosen Zu¬
friedenheit machen, in dem große Gebietsteile dieses von der Natur so gesegneten
Landes dahindämmerten. Der begreift, daß ohne den steten Appell an die
Ehre, an große bevorstehende Kämpfe und Abrechnungen, die Mengen anspruchs¬
loser und wirtschaftlich auch für das Alter ausreichend sichergestellter Landleute,
Weinbauern und Kleinstädter, einer absoluten wirtschaftlichen Erstarrung zu ver¬
fallen drohten. Harmlose Egoisten, denen eigene wirtschaftliche Sicherung in
bescheidenem Rahmen das einzige bei der Üppigkeit des Landes leicht erreichbare
Ziel des Lebens erschien. Heiterer Lebensgenuß in spießbürgerlichen Grenzen
ist der Gipfelpunkt des Strebens von taufenden von Provinzbewohnern, -- ein
Streben, das bei derartiger Ausdehnung als eine ernste Gefahr für den Staat
erscheinen mußte.

Für eine solche hielten es Staatsmänner und Negierung. Sie sahen den
Rückschritt und getrieben von dem begreiflichen Ehrgeize, der Nation wenigstens
ihre alte Stellung zu bewahren, griffen sie zu jedem Mittel zwecks Aufrüttelung
aus der gefährlichen Untätigkeit. Schon war Frankreich wirtschaftlich weit
zurückgekommen von der Stellung, die es einst im internationalen Weltwettkampfe
eingenommen hatte. Durch die sinkende Bevölkerungsziffer drohte auch militärisch-
politisches Herabsinken zu immer größerer Bedeutungslosigkeit. Vor hundert¬
undfunfzig Jahren noch -- so rechnet uns Jacques Bertillon die Autorität in
den Fragen der Bevölkerungsstatistik vor -- war Frankreich wirklich auch an
Zahl die "Oranäe Nation", der Staat, der an Einwohnerzahl sämtlichen
anderen militärisch-politisch in Betracht kommenden Großmächten Europas zu¬
sammen die Wage hielt. Jetzt mußte man nach Bündnissen suchen, um dem
geeinten und so erstaunlich gewachsenen östlichen Nachbarn einigermaßen gleich
zu bleiben. Und, da auch Bündnisse sich wandeln und von wechselnder Zuver¬
lässigkeit sind, so mußte man gar zu so kulturschädlichen Opfern schreiten, wie
zur dreijährigen ausnahmslosen Dienstzeit, die den Unternehmungsgeist Tausender
gerade im Alter der wirtschaftlichen Existenzbegründung drei volle Jahre lang
dem wirtschaftlichen Leben des Staates entzog.

Alles in allem eine außerordentlich gefährliche ja verbrecherische Politik.
Wenn auch die Revancheidee selbst nicht mehr recht zog, so war doch eine
dauernde Beunruhigung gelungen. Man sah den östlichen Nachbarn als das
große gefahrdrohende Rätsel an, bereit, bei dem geringsten Erlahmen und Nach¬
lassen der nationalen Energie über das arme Frankreich herzufallen. Man
haßte Deutschland als den Urheber aller Opfer und Lasten, denn niemand zahlt
so ungern Steuern als gerade der Franzose.

Gegensätze in politischen Lebensinteressen, besonders auch wirtschaftliche
Konkurrenz in größerem Rahmen bestanden bei alledem nicht zwischen
den beiden Nachbarreichen. Es wäre bei beiderseitigen Entgegenkommen


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wirtschaftlichen Gründen. Wer einmal Frankreich außerhalb der großen Touristen¬
straßen, besonders Südfrankreich, bereist hat. nur der kann sich einen Begriff
der wirtschaftlichen Stagnation, des Dornröschenschlafes der wunschlosen Zu¬
friedenheit machen, in dem große Gebietsteile dieses von der Natur so gesegneten
Landes dahindämmerten. Der begreift, daß ohne den steten Appell an die
Ehre, an große bevorstehende Kämpfe und Abrechnungen, die Mengen anspruchs¬
loser und wirtschaftlich auch für das Alter ausreichend sichergestellter Landleute,
Weinbauern und Kleinstädter, einer absoluten wirtschaftlichen Erstarrung zu ver¬
fallen drohten. Harmlose Egoisten, denen eigene wirtschaftliche Sicherung in
bescheidenem Rahmen das einzige bei der Üppigkeit des Landes leicht erreichbare
Ziel des Lebens erschien. Heiterer Lebensgenuß in spießbürgerlichen Grenzen
ist der Gipfelpunkt des Strebens von taufenden von Provinzbewohnern, — ein
Streben, das bei derartiger Ausdehnung als eine ernste Gefahr für den Staat
erscheinen mußte.

Für eine solche hielten es Staatsmänner und Negierung. Sie sahen den
Rückschritt und getrieben von dem begreiflichen Ehrgeize, der Nation wenigstens
ihre alte Stellung zu bewahren, griffen sie zu jedem Mittel zwecks Aufrüttelung
aus der gefährlichen Untätigkeit. Schon war Frankreich wirtschaftlich weit
zurückgekommen von der Stellung, die es einst im internationalen Weltwettkampfe
eingenommen hatte. Durch die sinkende Bevölkerungsziffer drohte auch militärisch-
politisches Herabsinken zu immer größerer Bedeutungslosigkeit. Vor hundert¬
undfunfzig Jahren noch — so rechnet uns Jacques Bertillon die Autorität in
den Fragen der Bevölkerungsstatistik vor — war Frankreich wirklich auch an
Zahl die „Oranäe Nation", der Staat, der an Einwohnerzahl sämtlichen
anderen militärisch-politisch in Betracht kommenden Großmächten Europas zu¬
sammen die Wage hielt. Jetzt mußte man nach Bündnissen suchen, um dem
geeinten und so erstaunlich gewachsenen östlichen Nachbarn einigermaßen gleich
zu bleiben. Und, da auch Bündnisse sich wandeln und von wechselnder Zuver¬
lässigkeit sind, so mußte man gar zu so kulturschädlichen Opfern schreiten, wie
zur dreijährigen ausnahmslosen Dienstzeit, die den Unternehmungsgeist Tausender
gerade im Alter der wirtschaftlichen Existenzbegründung drei volle Jahre lang
dem wirtschaftlichen Leben des Staates entzog.

Alles in allem eine außerordentlich gefährliche ja verbrecherische Politik.
Wenn auch die Revancheidee selbst nicht mehr recht zog, so war doch eine
dauernde Beunruhigung gelungen. Man sah den östlichen Nachbarn als das
große gefahrdrohende Rätsel an, bereit, bei dem geringsten Erlahmen und Nach¬
lassen der nationalen Energie über das arme Frankreich herzufallen. Man
haßte Deutschland als den Urheber aller Opfer und Lasten, denn niemand zahlt
so ungern Steuern als gerade der Franzose.

Gegensätze in politischen Lebensinteressen, besonders auch wirtschaftliche
Konkurrenz in größerem Rahmen bestanden bei alledem nicht zwischen
den beiden Nachbarreichen. Es wäre bei beiderseitigen Entgegenkommen


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[0113] Weltwirtschaft und Weltkrieg wirtschaftlichen Gründen. Wer einmal Frankreich außerhalb der großen Touristen¬ straßen, besonders Südfrankreich, bereist hat. nur der kann sich einen Begriff der wirtschaftlichen Stagnation, des Dornröschenschlafes der wunschlosen Zu¬ friedenheit machen, in dem große Gebietsteile dieses von der Natur so gesegneten Landes dahindämmerten. Der begreift, daß ohne den steten Appell an die Ehre, an große bevorstehende Kämpfe und Abrechnungen, die Mengen anspruchs¬ loser und wirtschaftlich auch für das Alter ausreichend sichergestellter Landleute, Weinbauern und Kleinstädter, einer absoluten wirtschaftlichen Erstarrung zu ver¬ fallen drohten. Harmlose Egoisten, denen eigene wirtschaftliche Sicherung in bescheidenem Rahmen das einzige bei der Üppigkeit des Landes leicht erreichbare Ziel des Lebens erschien. Heiterer Lebensgenuß in spießbürgerlichen Grenzen ist der Gipfelpunkt des Strebens von taufenden von Provinzbewohnern, — ein Streben, das bei derartiger Ausdehnung als eine ernste Gefahr für den Staat erscheinen mußte. Für eine solche hielten es Staatsmänner und Negierung. Sie sahen den Rückschritt und getrieben von dem begreiflichen Ehrgeize, der Nation wenigstens ihre alte Stellung zu bewahren, griffen sie zu jedem Mittel zwecks Aufrüttelung aus der gefährlichen Untätigkeit. Schon war Frankreich wirtschaftlich weit zurückgekommen von der Stellung, die es einst im internationalen Weltwettkampfe eingenommen hatte. Durch die sinkende Bevölkerungsziffer drohte auch militärisch- politisches Herabsinken zu immer größerer Bedeutungslosigkeit. Vor hundert¬ undfunfzig Jahren noch — so rechnet uns Jacques Bertillon die Autorität in den Fragen der Bevölkerungsstatistik vor — war Frankreich wirklich auch an Zahl die „Oranäe Nation", der Staat, der an Einwohnerzahl sämtlichen anderen militärisch-politisch in Betracht kommenden Großmächten Europas zu¬ sammen die Wage hielt. Jetzt mußte man nach Bündnissen suchen, um dem geeinten und so erstaunlich gewachsenen östlichen Nachbarn einigermaßen gleich zu bleiben. Und, da auch Bündnisse sich wandeln und von wechselnder Zuver¬ lässigkeit sind, so mußte man gar zu so kulturschädlichen Opfern schreiten, wie zur dreijährigen ausnahmslosen Dienstzeit, die den Unternehmungsgeist Tausender gerade im Alter der wirtschaftlichen Existenzbegründung drei volle Jahre lang dem wirtschaftlichen Leben des Staates entzog. Alles in allem eine außerordentlich gefährliche ja verbrecherische Politik. Wenn auch die Revancheidee selbst nicht mehr recht zog, so war doch eine dauernde Beunruhigung gelungen. Man sah den östlichen Nachbarn als das große gefahrdrohende Rätsel an, bereit, bei dem geringsten Erlahmen und Nach¬ lassen der nationalen Energie über das arme Frankreich herzufallen. Man haßte Deutschland als den Urheber aller Opfer und Lasten, denn niemand zahlt so ungern Steuern als gerade der Franzose. Gegensätze in politischen Lebensinteressen, besonders auch wirtschaftliche Konkurrenz in größerem Rahmen bestanden bei alledem nicht zwischen den beiden Nachbarreichen. Es wäre bei beiderseitigen Entgegenkommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/113>, abgerufen am 02.07.2024.