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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Rultnvxroblem

europäischer Kultur und Christentum im Sinne der Kirche und der Kultur
gegen Christus (die Legende vom Inquisitor). Vor Christum tritt der Inquisitor
und stellt ihn dieselben Fragen, die der Satan dem Herrn gestellt hat und
beweist ihm, daß die Kirche die Lehre Christi berichtigt hat, indem sie dem
Volke gab, was es von Gott verlangt: Wunder, Geheimnis, Autorität. Tolstoi
aber und kein einziger Nachfolger der reinen Lehre Christi erkennt diese Korrektur
an. Dostojewski beugt sich vor dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität
und schafft eine Synthese der materiellen und christlichen Kultur. Er nimmt
die Welt als Ganzes hin. so wie das russische Volk es tut.

Wladimir Solowjew übertrug diese Synthese in das rein spekulative Bereich,
die Philosophie. Durch ihn erhält das russische Volk seine ursprüngliche russische
Philosophie. Es ist also nötig, daß wir uns hier der russischen Philosophie
zuwenden, um zu sehen, ob wir durch sie Züge der russischen Psyche zu erfassen
vermögen. Solowjew hat mit einer Abhandlung begonnen, die den Bankrot
der nicht synthetischen, also analytischen Denkweise "westlicher" Philosophen auf¬
zeigte: die westliche ratio hat ihr Werk getan und bewiesen, daß sie zu keinerlei
philosophischen Erkenntnis gekommen ist. (Erkenntnis des Absoluten.) Nicht
mittelst des Verstandes, analytisch, sondern mittelst der Vernunft, synthetisch,
läßt sich philosophieren. Die philosophische Erkenntnis ist auf Zusammendenken
und nicht auf Unterscheiden gegründet. Eine philosophische Erkenntnis ist für
Solowjew -- die Gottheit Christi, das Geheimnis der Dreieinigkeit, die Auf¬
erstehung des Leibes. Zu solchen Resultaten gelangt er durch "ungeteiltes"
Wissen, Das ungelenke Wissen ist übrigens ein wenig verwandt mit der
Bergsonschen Intuition, ist intuitives Wissen. Die Grundlage der westlichen
Philosophie ist ratio, die der russischen . Was bedeutet hier Logos?
"Während der Rationalismus den Verstand im mittleren Durchschnitt nimmt,
ihm Ranken und Gipfel beschneidet, nimmt der Logismus den Verstand in
seiner Totalität, und berücksichtigt auch die dunklen Wurzeln des Verstandes;
er dringt in das Chaos des Naturlebens sowie zu den hellen Gipfeln der
Verstandeserkenntnis, die in der Extase leuchten." Der Logismus gründet
sich aus die ostchristliche Philosophie, auf die großen Kirchenväter des Ostens.
Der Logos ist der russischen Philosophie durch die russische Rechtgläubigkeit
gegeben. Logos und r^dio sind nicht entgegengesetzte Begriffe, sondern der
erste ist dem zweiten übergeordnet. Die ratic" ist dem Logos in derselben
Weise untergeordnet wie der Gelehrte oder Philosoph dem Begriffe des Heiligen.
Der Logismus ist die Synthese von Geist und Körper. "Im Anfang war
das Wort, und das Wort war in Gott, und Gott war das Wort." Christus
ist nichts anderes als die Verkörperung des Wortes, der Logosvernunft. Logos¬
christ ist das höchste philosophische Symbol, das philosophisch Absolute.

Erinnern wir uns wieder der Worte Dostojewskis: "Der russische Charakter
weicht stark vom europäischen ab. indem in ihm eine hohe Fähigkeit zu einer
weitumfassenden Synthese überwiegt. Dem russischen Menschen fehlt die euro-


Das slawische Rultnvxroblem

europäischer Kultur und Christentum im Sinne der Kirche und der Kultur
gegen Christus (die Legende vom Inquisitor). Vor Christum tritt der Inquisitor
und stellt ihn dieselben Fragen, die der Satan dem Herrn gestellt hat und
beweist ihm, daß die Kirche die Lehre Christi berichtigt hat, indem sie dem
Volke gab, was es von Gott verlangt: Wunder, Geheimnis, Autorität. Tolstoi
aber und kein einziger Nachfolger der reinen Lehre Christi erkennt diese Korrektur
an. Dostojewski beugt sich vor dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität
und schafft eine Synthese der materiellen und christlichen Kultur. Er nimmt
die Welt als Ganzes hin. so wie das russische Volk es tut.

Wladimir Solowjew übertrug diese Synthese in das rein spekulative Bereich,
die Philosophie. Durch ihn erhält das russische Volk seine ursprüngliche russische
Philosophie. Es ist also nötig, daß wir uns hier der russischen Philosophie
zuwenden, um zu sehen, ob wir durch sie Züge der russischen Psyche zu erfassen
vermögen. Solowjew hat mit einer Abhandlung begonnen, die den Bankrot
der nicht synthetischen, also analytischen Denkweise „westlicher" Philosophen auf¬
zeigte: die westliche ratio hat ihr Werk getan und bewiesen, daß sie zu keinerlei
philosophischen Erkenntnis gekommen ist. (Erkenntnis des Absoluten.) Nicht
mittelst des Verstandes, analytisch, sondern mittelst der Vernunft, synthetisch,
läßt sich philosophieren. Die philosophische Erkenntnis ist auf Zusammendenken
und nicht auf Unterscheiden gegründet. Eine philosophische Erkenntnis ist für
Solowjew — die Gottheit Christi, das Geheimnis der Dreieinigkeit, die Auf¬
erstehung des Leibes. Zu solchen Resultaten gelangt er durch „ungeteiltes"
Wissen, Das ungelenke Wissen ist übrigens ein wenig verwandt mit der
Bergsonschen Intuition, ist intuitives Wissen. Die Grundlage der westlichen
Philosophie ist ratio, die der russischen . Was bedeutet hier Logos?
„Während der Rationalismus den Verstand im mittleren Durchschnitt nimmt,
ihm Ranken und Gipfel beschneidet, nimmt der Logismus den Verstand in
seiner Totalität, und berücksichtigt auch die dunklen Wurzeln des Verstandes;
er dringt in das Chaos des Naturlebens sowie zu den hellen Gipfeln der
Verstandeserkenntnis, die in der Extase leuchten." Der Logismus gründet
sich aus die ostchristliche Philosophie, auf die großen Kirchenväter des Ostens.
Der Logos ist der russischen Philosophie durch die russische Rechtgläubigkeit
gegeben. Logos und r^dio sind nicht entgegengesetzte Begriffe, sondern der
erste ist dem zweiten übergeordnet. Die ratic» ist dem Logos in derselben
Weise untergeordnet wie der Gelehrte oder Philosoph dem Begriffe des Heiligen.
Der Logismus ist die Synthese von Geist und Körper. „Im Anfang war
das Wort, und das Wort war in Gott, und Gott war das Wort." Christus
ist nichts anderes als die Verkörperung des Wortes, der Logosvernunft. Logos¬
christ ist das höchste philosophische Symbol, das philosophisch Absolute.

Erinnern wir uns wieder der Worte Dostojewskis: „Der russische Charakter
weicht stark vom europäischen ab. indem in ihm eine hohe Fähigkeit zu einer
weitumfassenden Synthese überwiegt. Dem russischen Menschen fehlt die euro-


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[0101] Das slawische Rultnvxroblem europäischer Kultur und Christentum im Sinne der Kirche und der Kultur gegen Christus (die Legende vom Inquisitor). Vor Christum tritt der Inquisitor und stellt ihn dieselben Fragen, die der Satan dem Herrn gestellt hat und beweist ihm, daß die Kirche die Lehre Christi berichtigt hat, indem sie dem Volke gab, was es von Gott verlangt: Wunder, Geheimnis, Autorität. Tolstoi aber und kein einziger Nachfolger der reinen Lehre Christi erkennt diese Korrektur an. Dostojewski beugt sich vor dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität und schafft eine Synthese der materiellen und christlichen Kultur. Er nimmt die Welt als Ganzes hin. so wie das russische Volk es tut. Wladimir Solowjew übertrug diese Synthese in das rein spekulative Bereich, die Philosophie. Durch ihn erhält das russische Volk seine ursprüngliche russische Philosophie. Es ist also nötig, daß wir uns hier der russischen Philosophie zuwenden, um zu sehen, ob wir durch sie Züge der russischen Psyche zu erfassen vermögen. Solowjew hat mit einer Abhandlung begonnen, die den Bankrot der nicht synthetischen, also analytischen Denkweise „westlicher" Philosophen auf¬ zeigte: die westliche ratio hat ihr Werk getan und bewiesen, daß sie zu keinerlei philosophischen Erkenntnis gekommen ist. (Erkenntnis des Absoluten.) Nicht mittelst des Verstandes, analytisch, sondern mittelst der Vernunft, synthetisch, läßt sich philosophieren. Die philosophische Erkenntnis ist auf Zusammendenken und nicht auf Unterscheiden gegründet. Eine philosophische Erkenntnis ist für Solowjew — die Gottheit Christi, das Geheimnis der Dreieinigkeit, die Auf¬ erstehung des Leibes. Zu solchen Resultaten gelangt er durch „ungeteiltes" Wissen, Das ungelenke Wissen ist übrigens ein wenig verwandt mit der Bergsonschen Intuition, ist intuitives Wissen. Die Grundlage der westlichen Philosophie ist ratio, die der russischen . Was bedeutet hier Logos? „Während der Rationalismus den Verstand im mittleren Durchschnitt nimmt, ihm Ranken und Gipfel beschneidet, nimmt der Logismus den Verstand in seiner Totalität, und berücksichtigt auch die dunklen Wurzeln des Verstandes; er dringt in das Chaos des Naturlebens sowie zu den hellen Gipfeln der Verstandeserkenntnis, die in der Extase leuchten." Der Logismus gründet sich aus die ostchristliche Philosophie, auf die großen Kirchenväter des Ostens. Der Logos ist der russischen Philosophie durch die russische Rechtgläubigkeit gegeben. Logos und r^dio sind nicht entgegengesetzte Begriffe, sondern der erste ist dem zweiten übergeordnet. Die ratic» ist dem Logos in derselben Weise untergeordnet wie der Gelehrte oder Philosoph dem Begriffe des Heiligen. Der Logismus ist die Synthese von Geist und Körper. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war in Gott, und Gott war das Wort." Christus ist nichts anderes als die Verkörperung des Wortes, der Logosvernunft. Logos¬ christ ist das höchste philosophische Symbol, das philosophisch Absolute. Erinnern wir uns wieder der Worte Dostojewskis: „Der russische Charakter weicht stark vom europäischen ab. indem in ihm eine hohe Fähigkeit zu einer weitumfassenden Synthese überwiegt. Dem russischen Menschen fehlt die euro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/101>, abgerufen am 02.07.2024.