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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Uulturproblem

päische Eckigkeit, Undurchdringlichst, Vertrauenslosigkeit. ..." Der Verstand
ist kritisch und vertrauenslos, er weist zurück, was er nicht erobern kann (alles
Irrationale), er ist begrenzt, er ist "eckig". Der Logos hingegen dringt über
die Grenzen des Verständlichen, ohne Erfahrung, ohne Beweise und Experimente.
Er gibt sich der Wahrheit hin, wenn er sie nicht selbst bestimmen kann. Hierbei
ist eine Willensanstrengung vonnöten. Der Voluntarismus spielt daher bei
Solowjew, besonders aber bei seinen Nachfolgern eine große Rolle.

Diesem russischen Geiste und Gedanken widersetzt sich ein großer Aus¬
nahmemensch, der alles mit einemmal umstößt, weil er in gleichem, wenn nicht
in höherem Maße Russe ist als seine Antipoden: Tolstoi, der die Gottheit
Christi und die ganze Synthetik der russischen Philosophie leugnet. Tolstoi
selbst war es persönlich lieb, wenn ihn russische Bauern für einen der ihren
hielten. Die Figur des "Muschik" ist für alle Zeiten unzertrennlich von der
Lehre Tolstois, weil diese Lehre vom russischen Nationalcharakter untrennbar ist.
Sie lebt besonders in der Unterschicht des Volkes, die der westlichen Kultur
as facto so fern ist, wie Tolstoi es theoretisch ist. Die russischen Gerichte
haben täglich mit Leuten zu tun, die Steuern, den Militärdienst verweigern,
den rechtgläubigen Gebräuchen die Achtung versagen. Die Kirche nennt diese
Leute Skopzen, Molokanen, CHIisten. Sie sollen an 20 Millionen zählen. Sie
selbst nennen sich Weiße Tauben, Neuisrael. Duhoborzen. Im Prinzip sind sie reine
Christen, wie Tolstoi selbst. Den geistigen Stimmungston haben sie mit ihm gemein.

Dem großen Psychologen.der russischen Seele ist auch diese russische Ab¬
weichung nicht entgangen. Dostojewski sagt von Tolstoi, daß er einer jener
russischen Charaktere ist. die ihren Blick auf einen Punkt richten und nicht sehen,
was sich links und rechts davon befindet; wenn sie zu sehen wünschen, was
um sie ist, so müssen sie sich mit dem ganzen Körper zur andern Seite wenden,
sie gehen nur mit ganzer Seele in einer Richtung fort. Nun, diese russische
Gradlinigkeit ist die Antihese der russischen "Hingabefähigkeit" und Synthetik.
Diese Eigenschaft des russischen Geistes ist als "Maximallsmus", als Übermaß
bezeichnet worden, das kein mittleres liebt, sondern in allem bis zu den äußersten
Konsequenzen geht. Man hat behauptet, daß die Slawen willensschwach seien.
Dieser Zug würde sich weder mit dem "Maximalismus" Tolstois noch mit dem
"Voluntarismus" Solowjews vertragen. Nur in Bezug auf technische und
zivilisatorische Unternehmungen könnte die Behauptung stimmen.

Die russische Seele ist vielgestaltig und widerspruchsvoll mit ihrer Hingabe¬
fähigkeit und in ihrer Gradlinigkeit, sie ist ein historischer Prozeß solcher Extreme
wie es der posttivistische Mongolismus und das weiche altruistische Christentum
sind. Aber die Psyche des russischen Volkes ist auch deshalb in ihren Hauptzügen
noch nicht so bestimmt wie jene einiger westlicher Völker, weil ihr Kopf noch
nicht Macht bekommen hat über den Körper -- noch ist das Werk der Kultivierung
und Befreiung nicht vollbracht. Das russische Volk gebiert und befreit sich erst.




Das slawische Uulturproblem

päische Eckigkeit, Undurchdringlichst, Vertrauenslosigkeit. ..." Der Verstand
ist kritisch und vertrauenslos, er weist zurück, was er nicht erobern kann (alles
Irrationale), er ist begrenzt, er ist „eckig". Der Logos hingegen dringt über
die Grenzen des Verständlichen, ohne Erfahrung, ohne Beweise und Experimente.
Er gibt sich der Wahrheit hin, wenn er sie nicht selbst bestimmen kann. Hierbei
ist eine Willensanstrengung vonnöten. Der Voluntarismus spielt daher bei
Solowjew, besonders aber bei seinen Nachfolgern eine große Rolle.

Diesem russischen Geiste und Gedanken widersetzt sich ein großer Aus¬
nahmemensch, der alles mit einemmal umstößt, weil er in gleichem, wenn nicht
in höherem Maße Russe ist als seine Antipoden: Tolstoi, der die Gottheit
Christi und die ganze Synthetik der russischen Philosophie leugnet. Tolstoi
selbst war es persönlich lieb, wenn ihn russische Bauern für einen der ihren
hielten. Die Figur des „Muschik" ist für alle Zeiten unzertrennlich von der
Lehre Tolstois, weil diese Lehre vom russischen Nationalcharakter untrennbar ist.
Sie lebt besonders in der Unterschicht des Volkes, die der westlichen Kultur
as facto so fern ist, wie Tolstoi es theoretisch ist. Die russischen Gerichte
haben täglich mit Leuten zu tun, die Steuern, den Militärdienst verweigern,
den rechtgläubigen Gebräuchen die Achtung versagen. Die Kirche nennt diese
Leute Skopzen, Molokanen, CHIisten. Sie sollen an 20 Millionen zählen. Sie
selbst nennen sich Weiße Tauben, Neuisrael. Duhoborzen. Im Prinzip sind sie reine
Christen, wie Tolstoi selbst. Den geistigen Stimmungston haben sie mit ihm gemein.

Dem großen Psychologen.der russischen Seele ist auch diese russische Ab¬
weichung nicht entgangen. Dostojewski sagt von Tolstoi, daß er einer jener
russischen Charaktere ist. die ihren Blick auf einen Punkt richten und nicht sehen,
was sich links und rechts davon befindet; wenn sie zu sehen wünschen, was
um sie ist, so müssen sie sich mit dem ganzen Körper zur andern Seite wenden,
sie gehen nur mit ganzer Seele in einer Richtung fort. Nun, diese russische
Gradlinigkeit ist die Antihese der russischen „Hingabefähigkeit" und Synthetik.
Diese Eigenschaft des russischen Geistes ist als „Maximallsmus", als Übermaß
bezeichnet worden, das kein mittleres liebt, sondern in allem bis zu den äußersten
Konsequenzen geht. Man hat behauptet, daß die Slawen willensschwach seien.
Dieser Zug würde sich weder mit dem „Maximalismus" Tolstois noch mit dem
„Voluntarismus" Solowjews vertragen. Nur in Bezug auf technische und
zivilisatorische Unternehmungen könnte die Behauptung stimmen.

Die russische Seele ist vielgestaltig und widerspruchsvoll mit ihrer Hingabe¬
fähigkeit und in ihrer Gradlinigkeit, sie ist ein historischer Prozeß solcher Extreme
wie es der posttivistische Mongolismus und das weiche altruistische Christentum
sind. Aber die Psyche des russischen Volkes ist auch deshalb in ihren Hauptzügen
noch nicht so bestimmt wie jene einiger westlicher Völker, weil ihr Kopf noch
nicht Macht bekommen hat über den Körper — noch ist das Werk der Kultivierung
und Befreiung nicht vollbracht. Das russische Volk gebiert und befreit sich erst.




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[0102] Das slawische Uulturproblem päische Eckigkeit, Undurchdringlichst, Vertrauenslosigkeit. ..." Der Verstand ist kritisch und vertrauenslos, er weist zurück, was er nicht erobern kann (alles Irrationale), er ist begrenzt, er ist „eckig". Der Logos hingegen dringt über die Grenzen des Verständlichen, ohne Erfahrung, ohne Beweise und Experimente. Er gibt sich der Wahrheit hin, wenn er sie nicht selbst bestimmen kann. Hierbei ist eine Willensanstrengung vonnöten. Der Voluntarismus spielt daher bei Solowjew, besonders aber bei seinen Nachfolgern eine große Rolle. Diesem russischen Geiste und Gedanken widersetzt sich ein großer Aus¬ nahmemensch, der alles mit einemmal umstößt, weil er in gleichem, wenn nicht in höherem Maße Russe ist als seine Antipoden: Tolstoi, der die Gottheit Christi und die ganze Synthetik der russischen Philosophie leugnet. Tolstoi selbst war es persönlich lieb, wenn ihn russische Bauern für einen der ihren hielten. Die Figur des „Muschik" ist für alle Zeiten unzertrennlich von der Lehre Tolstois, weil diese Lehre vom russischen Nationalcharakter untrennbar ist. Sie lebt besonders in der Unterschicht des Volkes, die der westlichen Kultur as facto so fern ist, wie Tolstoi es theoretisch ist. Die russischen Gerichte haben täglich mit Leuten zu tun, die Steuern, den Militärdienst verweigern, den rechtgläubigen Gebräuchen die Achtung versagen. Die Kirche nennt diese Leute Skopzen, Molokanen, CHIisten. Sie sollen an 20 Millionen zählen. Sie selbst nennen sich Weiße Tauben, Neuisrael. Duhoborzen. Im Prinzip sind sie reine Christen, wie Tolstoi selbst. Den geistigen Stimmungston haben sie mit ihm gemein. Dem großen Psychologen.der russischen Seele ist auch diese russische Ab¬ weichung nicht entgangen. Dostojewski sagt von Tolstoi, daß er einer jener russischen Charaktere ist. die ihren Blick auf einen Punkt richten und nicht sehen, was sich links und rechts davon befindet; wenn sie zu sehen wünschen, was um sie ist, so müssen sie sich mit dem ganzen Körper zur andern Seite wenden, sie gehen nur mit ganzer Seele in einer Richtung fort. Nun, diese russische Gradlinigkeit ist die Antihese der russischen „Hingabefähigkeit" und Synthetik. Diese Eigenschaft des russischen Geistes ist als „Maximallsmus", als Übermaß bezeichnet worden, das kein mittleres liebt, sondern in allem bis zu den äußersten Konsequenzen geht. Man hat behauptet, daß die Slawen willensschwach seien. Dieser Zug würde sich weder mit dem „Maximalismus" Tolstois noch mit dem „Voluntarismus" Solowjews vertragen. Nur in Bezug auf technische und zivilisatorische Unternehmungen könnte die Behauptung stimmen. Die russische Seele ist vielgestaltig und widerspruchsvoll mit ihrer Hingabe¬ fähigkeit und in ihrer Gradlinigkeit, sie ist ein historischer Prozeß solcher Extreme wie es der posttivistische Mongolismus und das weiche altruistische Christentum sind. Aber die Psyche des russischen Volkes ist auch deshalb in ihren Hauptzügen noch nicht so bestimmt wie jene einiger westlicher Völker, weil ihr Kopf noch nicht Macht bekommen hat über den Körper — noch ist das Werk der Kultivierung und Befreiung nicht vollbracht. Das russische Volk gebiert und befreit sich erst.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/102>, abgerufen am 02.07.2024.