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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

geschichtliche Leben in großen Zügen überall in denselben Stufen, in denselben
Formen verlaufen ist, sondern ebenso, daß die verschiedenen Stufen durch ein¬
heitliche durchgehende Entwicklungstendenzen verbunden sind. Und diese Tendenzen
bestimmen auch die Entwicklung in der nächsten Zukunft: um sie zu erkennen,
brauchen wir nur die aus der phaseologischen Untersuchung gewonnenen Ent¬
wicklungslinien über die Gegenwart hinaus zu verlängern. Kritisch ausein¬
andersetzen werden wir uns mit diesem Begriff der konstanten Entwicklungs¬
richtung später bei Erörterung der Neformprobleme der Gegenwart. Hier haben
wir es zunächst mit der Vergangenheit und damit mit rein theoretischen Fragen
zu tun. Für diese aber kommt das Besondere, das in dem Begriff der Phase
liegt, überhaupt nicht in Betracht.

Wir beschränke" unsere Betrachtung auf ein einziges Kulturgut, nämlich
auf die Familie, Wir betrachten demgemäß in großen Zügen die Entwicklungs¬
geschichte der menschlichen Familie. Nein äußerlich nach der Kopfzahl unter¬
scheidet man seit langem drei Formen der Familie und der sie gegebenenfalls
ersetzenden Organisationen: neben der Kleinfamilie, wie wir sie kennen, die nur
"us einem Ehepaar und ihren unerwachsenen oder wenigstens unverheirateten
Kindern besteht, gibt es die Großfamilie, die auch verheiratete Kinder mit
ihren besonderen Kleinfamilien, und endlich die Sippe, die einen noch größeren
Kreis von Blutsverwandten umfaßt. Wichtiger aber sind die inneren Unter¬
schiede in den Formen. Müller-Lyer unterscheidet danach im ganzen sieben
Formen. Wir vereinfachen den Tatbestand und begnügen uns hier mit vier
Formen. Die erste ist die sogenannte Sippe, die den ersten drei Formen Müller-
Lvers entspricht und in großen Zügen sich ungefähr mit dem Gebiet der
sogenannten Naturvölker in ihrer Verbreitung deckt. Der Begriff der Sippe
schwankt freilich. Wir müssen zwischen einem engeren und einem weiteren
Sinn unterscheiden, eine Unterscheidung, die bei unserem Autor leider ziemlich
verwischt ist; nur im weiteren Sinne kann von der angedeuteten weitgehenden
Verbreitung die Rede sein. Im engeren Sinne bedeutet die Sippe eine
Gemeinsamkeit des Wohnens und des Wirtschaftens unter Blutsverwandten, wie
sie sich verhältnismäßig selten findet. Im weiteren Sinne bedeutet sie einen
über die Großfamilie hinausgehenden Verband in der Regel wohl von bluts¬
verwandten Personen, der durch verschiedene von Fall zu Fall öfter wechselnde
Gemeinsamkeiten verbunden ist. Vielfach ist so die Sippe der Träger der
sogenannten Blutrache, die man besser als Selbsthilfe der Gruppe gegen Lebens¬
vernichtung bezeichnen würde. Ferner sind besonders bei den totemistischen
Gruppen oft Ehen innerhalb einer solchen Einheit verboten. Anderseits ist auf
der Stufe der Jäger- und Fischervölker der Boden in der Regel auch für den
Zweck der Nutznießung noch nicht an die Familien aufgeteilt. Im letzteren
Falle handelt es sich freilich um Lokalgruppen, die mit den ebenerwähnten
Totemgruppen oder den Trägern der Blutrache nicht zusammenzufallen
brauchen.


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Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

geschichtliche Leben in großen Zügen überall in denselben Stufen, in denselben
Formen verlaufen ist, sondern ebenso, daß die verschiedenen Stufen durch ein¬
heitliche durchgehende Entwicklungstendenzen verbunden sind. Und diese Tendenzen
bestimmen auch die Entwicklung in der nächsten Zukunft: um sie zu erkennen,
brauchen wir nur die aus der phaseologischen Untersuchung gewonnenen Ent¬
wicklungslinien über die Gegenwart hinaus zu verlängern. Kritisch ausein¬
andersetzen werden wir uns mit diesem Begriff der konstanten Entwicklungs¬
richtung später bei Erörterung der Neformprobleme der Gegenwart. Hier haben
wir es zunächst mit der Vergangenheit und damit mit rein theoretischen Fragen
zu tun. Für diese aber kommt das Besondere, das in dem Begriff der Phase
liegt, überhaupt nicht in Betracht.

Wir beschränke« unsere Betrachtung auf ein einziges Kulturgut, nämlich
auf die Familie, Wir betrachten demgemäß in großen Zügen die Entwicklungs¬
geschichte der menschlichen Familie. Nein äußerlich nach der Kopfzahl unter¬
scheidet man seit langem drei Formen der Familie und der sie gegebenenfalls
ersetzenden Organisationen: neben der Kleinfamilie, wie wir sie kennen, die nur
«us einem Ehepaar und ihren unerwachsenen oder wenigstens unverheirateten
Kindern besteht, gibt es die Großfamilie, die auch verheiratete Kinder mit
ihren besonderen Kleinfamilien, und endlich die Sippe, die einen noch größeren
Kreis von Blutsverwandten umfaßt. Wichtiger aber sind die inneren Unter¬
schiede in den Formen. Müller-Lyer unterscheidet danach im ganzen sieben
Formen. Wir vereinfachen den Tatbestand und begnügen uns hier mit vier
Formen. Die erste ist die sogenannte Sippe, die den ersten drei Formen Müller-
Lvers entspricht und in großen Zügen sich ungefähr mit dem Gebiet der
sogenannten Naturvölker in ihrer Verbreitung deckt. Der Begriff der Sippe
schwankt freilich. Wir müssen zwischen einem engeren und einem weiteren
Sinn unterscheiden, eine Unterscheidung, die bei unserem Autor leider ziemlich
verwischt ist; nur im weiteren Sinne kann von der angedeuteten weitgehenden
Verbreitung die Rede sein. Im engeren Sinne bedeutet die Sippe eine
Gemeinsamkeit des Wohnens und des Wirtschaftens unter Blutsverwandten, wie
sie sich verhältnismäßig selten findet. Im weiteren Sinne bedeutet sie einen
über die Großfamilie hinausgehenden Verband in der Regel wohl von bluts¬
verwandten Personen, der durch verschiedene von Fall zu Fall öfter wechselnde
Gemeinsamkeiten verbunden ist. Vielfach ist so die Sippe der Träger der
sogenannten Blutrache, die man besser als Selbsthilfe der Gruppe gegen Lebens¬
vernichtung bezeichnen würde. Ferner sind besonders bei den totemistischen
Gruppen oft Ehen innerhalb einer solchen Einheit verboten. Anderseits ist auf
der Stufe der Jäger- und Fischervölker der Boden in der Regel auch für den
Zweck der Nutznießung noch nicht an die Familien aufgeteilt. Im letzteren
Falle handelt es sich freilich um Lokalgruppen, die mit den ebenerwähnten
Totemgruppen oder den Trägern der Blutrache nicht zusammenzufallen
brauchen.


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[0475] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens geschichtliche Leben in großen Zügen überall in denselben Stufen, in denselben Formen verlaufen ist, sondern ebenso, daß die verschiedenen Stufen durch ein¬ heitliche durchgehende Entwicklungstendenzen verbunden sind. Und diese Tendenzen bestimmen auch die Entwicklung in der nächsten Zukunft: um sie zu erkennen, brauchen wir nur die aus der phaseologischen Untersuchung gewonnenen Ent¬ wicklungslinien über die Gegenwart hinaus zu verlängern. Kritisch ausein¬ andersetzen werden wir uns mit diesem Begriff der konstanten Entwicklungs¬ richtung später bei Erörterung der Neformprobleme der Gegenwart. Hier haben wir es zunächst mit der Vergangenheit und damit mit rein theoretischen Fragen zu tun. Für diese aber kommt das Besondere, das in dem Begriff der Phase liegt, überhaupt nicht in Betracht. Wir beschränke« unsere Betrachtung auf ein einziges Kulturgut, nämlich auf die Familie, Wir betrachten demgemäß in großen Zügen die Entwicklungs¬ geschichte der menschlichen Familie. Nein äußerlich nach der Kopfzahl unter¬ scheidet man seit langem drei Formen der Familie und der sie gegebenenfalls ersetzenden Organisationen: neben der Kleinfamilie, wie wir sie kennen, die nur «us einem Ehepaar und ihren unerwachsenen oder wenigstens unverheirateten Kindern besteht, gibt es die Großfamilie, die auch verheiratete Kinder mit ihren besonderen Kleinfamilien, und endlich die Sippe, die einen noch größeren Kreis von Blutsverwandten umfaßt. Wichtiger aber sind die inneren Unter¬ schiede in den Formen. Müller-Lyer unterscheidet danach im ganzen sieben Formen. Wir vereinfachen den Tatbestand und begnügen uns hier mit vier Formen. Die erste ist die sogenannte Sippe, die den ersten drei Formen Müller- Lvers entspricht und in großen Zügen sich ungefähr mit dem Gebiet der sogenannten Naturvölker in ihrer Verbreitung deckt. Der Begriff der Sippe schwankt freilich. Wir müssen zwischen einem engeren und einem weiteren Sinn unterscheiden, eine Unterscheidung, die bei unserem Autor leider ziemlich verwischt ist; nur im weiteren Sinne kann von der angedeuteten weitgehenden Verbreitung die Rede sein. Im engeren Sinne bedeutet die Sippe eine Gemeinsamkeit des Wohnens und des Wirtschaftens unter Blutsverwandten, wie sie sich verhältnismäßig selten findet. Im weiteren Sinne bedeutet sie einen über die Großfamilie hinausgehenden Verband in der Regel wohl von bluts¬ verwandten Personen, der durch verschiedene von Fall zu Fall öfter wechselnde Gemeinsamkeiten verbunden ist. Vielfach ist so die Sippe der Träger der sogenannten Blutrache, die man besser als Selbsthilfe der Gruppe gegen Lebens¬ vernichtung bezeichnen würde. Ferner sind besonders bei den totemistischen Gruppen oft Ehen innerhalb einer solchen Einheit verboten. Anderseits ist auf der Stufe der Jäger- und Fischervölker der Boden in der Regel auch für den Zweck der Nutznießung noch nicht an die Familien aufgeteilt. Im letzteren Falle handelt es sich freilich um Lokalgruppen, die mit den ebenerwähnten Totemgruppen oder den Trägern der Blutrache nicht zusammenzufallen brauchen. 32*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/475>, abgerufen am 22.12.2024.