Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

erfüllen läßt, wieweit die Voraussetzung berechtigt ist, das kann sich erst bei
der Arbeit selbst zeigen. Aber zunächst muß diese eben in Angriff genommen
werden, und der Historiker, der die Möglichkeit des Generellen in der Geschichte
von vornherein leugnet, gleicht dem Manne, der vorzeitig die Flinte ins Korn
wirft. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die heutigen geschichtsphilosophischen
und verwandten Bemühungen, Typen und allgemein gültige Entwicklungsreihen
im geschichtlichen Leben ausfindig zu machen, gewürdigt werden. Ob ihre Ver¬
treter selbst die relative Bedeutung des Individuellen im geschichtlichen Leben
anerkennen oder nicht, kann dabei außer Betracht bleiben. Ihre Bemühungen
können jedenfalls nur Erfolg haben, soweit sie dieser Tatsache objektiv
Rechnung tragen.

Die bekanntesten Vertreter dieser Richtung sind unter den Geschichtsforschern
selbst Kurt Breusig und Lamprecht. Beide haben jeder in besonderer Art
allgemeingültige Entwicklungsstufen des geschichtlichen Lebens aufgestellt. Das
Nacheinander dieser Stufen erscheint dabei in der gegenwärtigen Welt zugleich
als ein Nebeneinander, soweit nämlich die Entwicklung auf einer früheren Stufe
stehen geblieben ist. Als einen dritten Hauptvertreter reihen wir ihnen den
Leipziger Geschichtsphilosophen Hermann Schneider an. Lamprecht legt seinem
Aufbau die allgemeine Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens zugrunde,
für das er demgemäß eine aufsteigende Reihe von Stufen aufstellt. Brensigs
Einteilung gründet sich auf unmittelbare Unterschiede in der Kultur selbst,
besonders in der gesellschaftlichen Gliederung. Schneider geht von der ver¬
schiedenen Art der Denkweise aus, von dem, was er mit einer starken Erweiterung
des Sinnes als Begriffsbildung bezeichnet. Er hat in dieser Weise in den
bisher erschienenen beiden Bänden seines Werkes "Kultur und Denken der alten
Ägptner" und "Kultur und Denken der Babylonier und Juden" behandelt. Müller-
Lver schlägt einen abweichenden Weg ein, indem er nicht die Kultur als Ganzes,
sondern die einzelnen Kulturgüter jedes für sich betrachtet. Sein umfassendes
Gesamtwert will der Reihe nach alle einzelnen großen Kulturgüter auf ihre
Entwicklungsstufen hin untersuchen. Auch er setzt voraus, daß es solche allgemein¬
gültige Kulturstufen gibt. Mit der Begründung hat er sich nicht weiter auf¬
gehalten; die Voraussetzung für die Möglichkeit seines Unternehmens ist für ihn
offenbar in der wissenschaftlichen Denkweise enthalten, deren systematische
Anwendung auf die menschlichen Dinge sich eben in der Soziologie zusammen¬
faßt. Er hat aber einen neuen Namen für diese Stufen gebraucht: er bezeichnet
sie als Phasen. Diese Abweichung ist kein Zufall. Vielmehr soll mit diesem
Begriff -- denn es handelt sich hier um einen neuen Begriff -- zugleich die
Gesetzmäßigkeit im Inhalt der aufeinanderfolgenden Stufen ausgedrückt werden.
Phase bedeutet also mehr als Stufe. Es ist mit diesem Begriff zugleich die
Voraussetzung verbunden, daß die verschiedenen Stufen durch eine Gleichheit in
der Richtung der Entwicklung verbunden sind, die ihrerseits auf dem Andauern
der gleichen Kräfte beruht. Es wird also vorausgesetzt nicht nur. daß das


Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

erfüllen läßt, wieweit die Voraussetzung berechtigt ist, das kann sich erst bei
der Arbeit selbst zeigen. Aber zunächst muß diese eben in Angriff genommen
werden, und der Historiker, der die Möglichkeit des Generellen in der Geschichte
von vornherein leugnet, gleicht dem Manne, der vorzeitig die Flinte ins Korn
wirft. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die heutigen geschichtsphilosophischen
und verwandten Bemühungen, Typen und allgemein gültige Entwicklungsreihen
im geschichtlichen Leben ausfindig zu machen, gewürdigt werden. Ob ihre Ver¬
treter selbst die relative Bedeutung des Individuellen im geschichtlichen Leben
anerkennen oder nicht, kann dabei außer Betracht bleiben. Ihre Bemühungen
können jedenfalls nur Erfolg haben, soweit sie dieser Tatsache objektiv
Rechnung tragen.

Die bekanntesten Vertreter dieser Richtung sind unter den Geschichtsforschern
selbst Kurt Breusig und Lamprecht. Beide haben jeder in besonderer Art
allgemeingültige Entwicklungsstufen des geschichtlichen Lebens aufgestellt. Das
Nacheinander dieser Stufen erscheint dabei in der gegenwärtigen Welt zugleich
als ein Nebeneinander, soweit nämlich die Entwicklung auf einer früheren Stufe
stehen geblieben ist. Als einen dritten Hauptvertreter reihen wir ihnen den
Leipziger Geschichtsphilosophen Hermann Schneider an. Lamprecht legt seinem
Aufbau die allgemeine Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens zugrunde,
für das er demgemäß eine aufsteigende Reihe von Stufen aufstellt. Brensigs
Einteilung gründet sich auf unmittelbare Unterschiede in der Kultur selbst,
besonders in der gesellschaftlichen Gliederung. Schneider geht von der ver¬
schiedenen Art der Denkweise aus, von dem, was er mit einer starken Erweiterung
des Sinnes als Begriffsbildung bezeichnet. Er hat in dieser Weise in den
bisher erschienenen beiden Bänden seines Werkes „Kultur und Denken der alten
Ägptner" und „Kultur und Denken der Babylonier und Juden" behandelt. Müller-
Lver schlägt einen abweichenden Weg ein, indem er nicht die Kultur als Ganzes,
sondern die einzelnen Kulturgüter jedes für sich betrachtet. Sein umfassendes
Gesamtwert will der Reihe nach alle einzelnen großen Kulturgüter auf ihre
Entwicklungsstufen hin untersuchen. Auch er setzt voraus, daß es solche allgemein¬
gültige Kulturstufen gibt. Mit der Begründung hat er sich nicht weiter auf¬
gehalten; die Voraussetzung für die Möglichkeit seines Unternehmens ist für ihn
offenbar in der wissenschaftlichen Denkweise enthalten, deren systematische
Anwendung auf die menschlichen Dinge sich eben in der Soziologie zusammen¬
faßt. Er hat aber einen neuen Namen für diese Stufen gebraucht: er bezeichnet
sie als Phasen. Diese Abweichung ist kein Zufall. Vielmehr soll mit diesem
Begriff — denn es handelt sich hier um einen neuen Begriff — zugleich die
Gesetzmäßigkeit im Inhalt der aufeinanderfolgenden Stufen ausgedrückt werden.
Phase bedeutet also mehr als Stufe. Es ist mit diesem Begriff zugleich die
Voraussetzung verbunden, daß die verschiedenen Stufen durch eine Gleichheit in
der Richtung der Entwicklung verbunden sind, die ihrerseits auf dem Andauern
der gleichen Kräfte beruht. Es wird also vorausgesetzt nicht nur. daß das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329208"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1576" prev="#ID_1575"> erfüllen läßt, wieweit die Voraussetzung berechtigt ist, das kann sich erst bei<lb/>
der Arbeit selbst zeigen. Aber zunächst muß diese eben in Angriff genommen<lb/>
werden, und der Historiker, der die Möglichkeit des Generellen in der Geschichte<lb/>
von vornherein leugnet, gleicht dem Manne, der vorzeitig die Flinte ins Korn<lb/>
wirft. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die heutigen geschichtsphilosophischen<lb/>
und verwandten Bemühungen, Typen und allgemein gültige Entwicklungsreihen<lb/>
im geschichtlichen Leben ausfindig zu machen, gewürdigt werden. Ob ihre Ver¬<lb/>
treter selbst die relative Bedeutung des Individuellen im geschichtlichen Leben<lb/>
anerkennen oder nicht, kann dabei außer Betracht bleiben. Ihre Bemühungen<lb/>
können jedenfalls nur Erfolg haben, soweit sie dieser Tatsache objektiv<lb/>
Rechnung tragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1577" next="#ID_1578"> Die bekanntesten Vertreter dieser Richtung sind unter den Geschichtsforschern<lb/>
selbst Kurt Breusig und Lamprecht. Beide haben jeder in besonderer Art<lb/>
allgemeingültige Entwicklungsstufen des geschichtlichen Lebens aufgestellt. Das<lb/>
Nacheinander dieser Stufen erscheint dabei in der gegenwärtigen Welt zugleich<lb/>
als ein Nebeneinander, soweit nämlich die Entwicklung auf einer früheren Stufe<lb/>
stehen geblieben ist. Als einen dritten Hauptvertreter reihen wir ihnen den<lb/>
Leipziger Geschichtsphilosophen Hermann Schneider an. Lamprecht legt seinem<lb/>
Aufbau die allgemeine Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens zugrunde,<lb/>
für das er demgemäß eine aufsteigende Reihe von Stufen aufstellt. Brensigs<lb/>
Einteilung gründet sich auf unmittelbare Unterschiede in der Kultur selbst,<lb/>
besonders in der gesellschaftlichen Gliederung. Schneider geht von der ver¬<lb/>
schiedenen Art der Denkweise aus, von dem, was er mit einer starken Erweiterung<lb/>
des Sinnes als Begriffsbildung bezeichnet. Er hat in dieser Weise in den<lb/>
bisher erschienenen beiden Bänden seines Werkes &#x201E;Kultur und Denken der alten<lb/>
Ägptner" und &#x201E;Kultur und Denken der Babylonier und Juden" behandelt. Müller-<lb/>
Lver schlägt einen abweichenden Weg ein, indem er nicht die Kultur als Ganzes,<lb/>
sondern die einzelnen Kulturgüter jedes für sich betrachtet. Sein umfassendes<lb/>
Gesamtwert will der Reihe nach alle einzelnen großen Kulturgüter auf ihre<lb/>
Entwicklungsstufen hin untersuchen. Auch er setzt voraus, daß es solche allgemein¬<lb/>
gültige Kulturstufen gibt. Mit der Begründung hat er sich nicht weiter auf¬<lb/>
gehalten; die Voraussetzung für die Möglichkeit seines Unternehmens ist für ihn<lb/>
offenbar in der wissenschaftlichen Denkweise enthalten, deren systematische<lb/>
Anwendung auf die menschlichen Dinge sich eben in der Soziologie zusammen¬<lb/>
faßt. Er hat aber einen neuen Namen für diese Stufen gebraucht: er bezeichnet<lb/>
sie als Phasen. Diese Abweichung ist kein Zufall. Vielmehr soll mit diesem<lb/>
Begriff &#x2014; denn es handelt sich hier um einen neuen Begriff &#x2014; zugleich die<lb/>
Gesetzmäßigkeit im Inhalt der aufeinanderfolgenden Stufen ausgedrückt werden.<lb/>
Phase bedeutet also mehr als Stufe. Es ist mit diesem Begriff zugleich die<lb/>
Voraussetzung verbunden, daß die verschiedenen Stufen durch eine Gleichheit in<lb/>
der Richtung der Entwicklung verbunden sind, die ihrerseits auf dem Andauern<lb/>
der gleichen Kräfte beruht.  Es wird also vorausgesetzt nicht nur. daß das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0474] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens erfüllen läßt, wieweit die Voraussetzung berechtigt ist, das kann sich erst bei der Arbeit selbst zeigen. Aber zunächst muß diese eben in Angriff genommen werden, und der Historiker, der die Möglichkeit des Generellen in der Geschichte von vornherein leugnet, gleicht dem Manne, der vorzeitig die Flinte ins Korn wirft. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die heutigen geschichtsphilosophischen und verwandten Bemühungen, Typen und allgemein gültige Entwicklungsreihen im geschichtlichen Leben ausfindig zu machen, gewürdigt werden. Ob ihre Ver¬ treter selbst die relative Bedeutung des Individuellen im geschichtlichen Leben anerkennen oder nicht, kann dabei außer Betracht bleiben. Ihre Bemühungen können jedenfalls nur Erfolg haben, soweit sie dieser Tatsache objektiv Rechnung tragen. Die bekanntesten Vertreter dieser Richtung sind unter den Geschichtsforschern selbst Kurt Breusig und Lamprecht. Beide haben jeder in besonderer Art allgemeingültige Entwicklungsstufen des geschichtlichen Lebens aufgestellt. Das Nacheinander dieser Stufen erscheint dabei in der gegenwärtigen Welt zugleich als ein Nebeneinander, soweit nämlich die Entwicklung auf einer früheren Stufe stehen geblieben ist. Als einen dritten Hauptvertreter reihen wir ihnen den Leipziger Geschichtsphilosophen Hermann Schneider an. Lamprecht legt seinem Aufbau die allgemeine Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens zugrunde, für das er demgemäß eine aufsteigende Reihe von Stufen aufstellt. Brensigs Einteilung gründet sich auf unmittelbare Unterschiede in der Kultur selbst, besonders in der gesellschaftlichen Gliederung. Schneider geht von der ver¬ schiedenen Art der Denkweise aus, von dem, was er mit einer starken Erweiterung des Sinnes als Begriffsbildung bezeichnet. Er hat in dieser Weise in den bisher erschienenen beiden Bänden seines Werkes „Kultur und Denken der alten Ägptner" und „Kultur und Denken der Babylonier und Juden" behandelt. Müller- Lver schlägt einen abweichenden Weg ein, indem er nicht die Kultur als Ganzes, sondern die einzelnen Kulturgüter jedes für sich betrachtet. Sein umfassendes Gesamtwert will der Reihe nach alle einzelnen großen Kulturgüter auf ihre Entwicklungsstufen hin untersuchen. Auch er setzt voraus, daß es solche allgemein¬ gültige Kulturstufen gibt. Mit der Begründung hat er sich nicht weiter auf¬ gehalten; die Voraussetzung für die Möglichkeit seines Unternehmens ist für ihn offenbar in der wissenschaftlichen Denkweise enthalten, deren systematische Anwendung auf die menschlichen Dinge sich eben in der Soziologie zusammen¬ faßt. Er hat aber einen neuen Namen für diese Stufen gebraucht: er bezeichnet sie als Phasen. Diese Abweichung ist kein Zufall. Vielmehr soll mit diesem Begriff — denn es handelt sich hier um einen neuen Begriff — zugleich die Gesetzmäßigkeit im Inhalt der aufeinanderfolgenden Stufen ausgedrückt werden. Phase bedeutet also mehr als Stufe. Es ist mit diesem Begriff zugleich die Voraussetzung verbunden, daß die verschiedenen Stufen durch eine Gleichheit in der Richtung der Entwicklung verbunden sind, die ihrerseits auf dem Andauern der gleichen Kräfte beruht. Es wird also vorausgesetzt nicht nur. daß das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/474
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/474>, abgerufen am 27.07.2024.