Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

Wenden wir uns jetzt höheren Stufen der Kultur zu, so treffen wir hier
die patriarchalische Großfamilie. Sie ist uns aus dem klassischen Altertum
bekannt, freilich in historischer Zeit selbst schon erheblich wieder zurückgebildet,
aber aus ihren Überresten in genialer Intuition von Fühlet de Coulanges in
seinem bekannten, neuerdings auch ins Deutsche übersetzten Werke im Bilde wieder¬
hergestellt*). Eine Vorstellung von ihr kann der Leser auch aus den bekannten Büchern
Lafcadio Hearns gewinnen, der freilich das Generelle in den Verhältnissen, die
er beobachtete, verkannt hat und diese fälschlicherweise für etwas der japanischen
Gesittung Eigentümliches hielt. Den wesentlichsten Punkt, in dem sich die
patriarchalische Großfamilie von unserer modernen Familie unterscheidet, hat
Hearn richtig erfaßt: es ist ihr objektiver Charakter. Die Familie ist hier nicht
ein Verhältnis von Personen zu einander, sondern eine feste Form und Ordnung
des Lebens, in die die betreffenden Personen sich selbstverständlich einordnen
und der gegenüber ihre Persönlichkeit verhältnismäßig gleichgültig ist. Die
Güter, die diese Familie vermittelt, sind in erster Linie nicht persönlicher,
sondern sachlicher Art. Zunächst beruht das gesamte wirtschaftliche Dasein auf
der Großfamilie, die noch mehr oder weniger auf der Stufe der Hauswirtschaft
steht und die meisten Gegenstände des Bedarfs selbst erzeugt. Die Familie
als Ganzes ist der wahre Eigentümer von Haus und Hof, Land und Vieh
und ihr Oberhaupt nur sein Verwalter. Zweitens gewährt diese Familie dem
Einzelnen einen weitgehenden Rechtsschutz. In zivilrechtlicher Hinsicht haftet
sie für seine Geschäfte -- eine Tatsache, die noch in der Gegenwart in China
beim Eindringen des europäischen Handels sich störend bemerklich gemacht hat
Vor allem ist diese Familie Träger der Blutrache, soweit der Staat diese Ein¬
richtung nicht bereits zerstört hat, und sichert ihm damit sein leibliches Dasein.
Drittens hängt die gesamte gesellschaftliche Stellung des einzelnen völlig von
derjenigen seiner Familie ab, und endlich hat diese für ihn eine weitgehende
religiöse Bedeutung: die Vorfahren wirken aus dem Jenseits als Geister für
das Wohl ihrer Nachkommen und sind umgekehrt für ihr jenseitiges Gedeihen
auf deren Fürsorge angewiesen. Völlig abweichend von den modernen Ver¬
hältnissen ist auch die Struktur dieser Familie. Sie ist schroff herrschaftlich;
das Oberhaupt der Familie, der Patriarch, hat uneingeschränkte Gewalt über
Frau, Kinder und Kindeskinder. Sie tritt dadurch in Gegensatz zu den früheren
Zuständen, wie wir sie bei den Naturvölkern finden. Freilich betont Müller-
Lyer auch bei diesen das Übergewicht des Mannes über die Frau und deren
dienende und untergeordnete Stellung; meines Erachtens geht er darin etwas
zu weit. Auf alle Fälle aber ist hier der herrschaftliche Charakter viel ausge¬
prägter. Wir können den Tatbestand auch so ausdrücken: die Familie hat aus¬
gesprochenen Klassencharakter. Sie ist von dem Gegensatz der Herrschenden und
der Beherrschten durchdrungen. Und damit nennen wir bereits die Ursache



*) Fühlet de Coulanges: l^a cito -mticiuo. Paris 1879. Deutsche Übersetzung: Der
antike Staat. Berlin 1907.
Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

Wenden wir uns jetzt höheren Stufen der Kultur zu, so treffen wir hier
die patriarchalische Großfamilie. Sie ist uns aus dem klassischen Altertum
bekannt, freilich in historischer Zeit selbst schon erheblich wieder zurückgebildet,
aber aus ihren Überresten in genialer Intuition von Fühlet de Coulanges in
seinem bekannten, neuerdings auch ins Deutsche übersetzten Werke im Bilde wieder¬
hergestellt*). Eine Vorstellung von ihr kann der Leser auch aus den bekannten Büchern
Lafcadio Hearns gewinnen, der freilich das Generelle in den Verhältnissen, die
er beobachtete, verkannt hat und diese fälschlicherweise für etwas der japanischen
Gesittung Eigentümliches hielt. Den wesentlichsten Punkt, in dem sich die
patriarchalische Großfamilie von unserer modernen Familie unterscheidet, hat
Hearn richtig erfaßt: es ist ihr objektiver Charakter. Die Familie ist hier nicht
ein Verhältnis von Personen zu einander, sondern eine feste Form und Ordnung
des Lebens, in die die betreffenden Personen sich selbstverständlich einordnen
und der gegenüber ihre Persönlichkeit verhältnismäßig gleichgültig ist. Die
Güter, die diese Familie vermittelt, sind in erster Linie nicht persönlicher,
sondern sachlicher Art. Zunächst beruht das gesamte wirtschaftliche Dasein auf
der Großfamilie, die noch mehr oder weniger auf der Stufe der Hauswirtschaft
steht und die meisten Gegenstände des Bedarfs selbst erzeugt. Die Familie
als Ganzes ist der wahre Eigentümer von Haus und Hof, Land und Vieh
und ihr Oberhaupt nur sein Verwalter. Zweitens gewährt diese Familie dem
Einzelnen einen weitgehenden Rechtsschutz. In zivilrechtlicher Hinsicht haftet
sie für seine Geschäfte — eine Tatsache, die noch in der Gegenwart in China
beim Eindringen des europäischen Handels sich störend bemerklich gemacht hat
Vor allem ist diese Familie Träger der Blutrache, soweit der Staat diese Ein¬
richtung nicht bereits zerstört hat, und sichert ihm damit sein leibliches Dasein.
Drittens hängt die gesamte gesellschaftliche Stellung des einzelnen völlig von
derjenigen seiner Familie ab, und endlich hat diese für ihn eine weitgehende
religiöse Bedeutung: die Vorfahren wirken aus dem Jenseits als Geister für
das Wohl ihrer Nachkommen und sind umgekehrt für ihr jenseitiges Gedeihen
auf deren Fürsorge angewiesen. Völlig abweichend von den modernen Ver¬
hältnissen ist auch die Struktur dieser Familie. Sie ist schroff herrschaftlich;
das Oberhaupt der Familie, der Patriarch, hat uneingeschränkte Gewalt über
Frau, Kinder und Kindeskinder. Sie tritt dadurch in Gegensatz zu den früheren
Zuständen, wie wir sie bei den Naturvölkern finden. Freilich betont Müller-
Lyer auch bei diesen das Übergewicht des Mannes über die Frau und deren
dienende und untergeordnete Stellung; meines Erachtens geht er darin etwas
zu weit. Auf alle Fälle aber ist hier der herrschaftliche Charakter viel ausge¬
prägter. Wir können den Tatbestand auch so ausdrücken: die Familie hat aus¬
gesprochenen Klassencharakter. Sie ist von dem Gegensatz der Herrschenden und
der Beherrschten durchdrungen. Und damit nennen wir bereits die Ursache



*) Fühlet de Coulanges: l^a cito -mticiuo. Paris 1879. Deutsche Übersetzung: Der
antike Staat. Berlin 1907.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0476" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329210"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1580" next="#ID_1581"> Wenden wir uns jetzt höheren Stufen der Kultur zu, so treffen wir hier<lb/>
die patriarchalische Großfamilie. Sie ist uns aus dem klassischen Altertum<lb/>
bekannt, freilich in historischer Zeit selbst schon erheblich wieder zurückgebildet,<lb/>
aber aus ihren Überresten in genialer Intuition von Fühlet de Coulanges in<lb/>
seinem bekannten, neuerdings auch ins Deutsche übersetzten Werke im Bilde wieder¬<lb/>
hergestellt*). Eine Vorstellung von ihr kann der Leser auch aus den bekannten Büchern<lb/>
Lafcadio Hearns gewinnen, der freilich das Generelle in den Verhältnissen, die<lb/>
er beobachtete, verkannt hat und diese fälschlicherweise für etwas der japanischen<lb/>
Gesittung Eigentümliches hielt. Den wesentlichsten Punkt, in dem sich die<lb/>
patriarchalische Großfamilie von unserer modernen Familie unterscheidet, hat<lb/>
Hearn richtig erfaßt: es ist ihr objektiver Charakter. Die Familie ist hier nicht<lb/>
ein Verhältnis von Personen zu einander, sondern eine feste Form und Ordnung<lb/>
des Lebens, in die die betreffenden Personen sich selbstverständlich einordnen<lb/>
und der gegenüber ihre Persönlichkeit verhältnismäßig gleichgültig ist. Die<lb/>
Güter, die diese Familie vermittelt, sind in erster Linie nicht persönlicher,<lb/>
sondern sachlicher Art. Zunächst beruht das gesamte wirtschaftliche Dasein auf<lb/>
der Großfamilie, die noch mehr oder weniger auf der Stufe der Hauswirtschaft<lb/>
steht und die meisten Gegenstände des Bedarfs selbst erzeugt. Die Familie<lb/>
als Ganzes ist der wahre Eigentümer von Haus und Hof, Land und Vieh<lb/>
und ihr Oberhaupt nur sein Verwalter. Zweitens gewährt diese Familie dem<lb/>
Einzelnen einen weitgehenden Rechtsschutz. In zivilrechtlicher Hinsicht haftet<lb/>
sie für seine Geschäfte &#x2014; eine Tatsache, die noch in der Gegenwart in China<lb/>
beim Eindringen des europäischen Handels sich störend bemerklich gemacht hat<lb/>
Vor allem ist diese Familie Träger der Blutrache, soweit der Staat diese Ein¬<lb/>
richtung nicht bereits zerstört hat, und sichert ihm damit sein leibliches Dasein.<lb/>
Drittens hängt die gesamte gesellschaftliche Stellung des einzelnen völlig von<lb/>
derjenigen seiner Familie ab, und endlich hat diese für ihn eine weitgehende<lb/>
religiöse Bedeutung: die Vorfahren wirken aus dem Jenseits als Geister für<lb/>
das Wohl ihrer Nachkommen und sind umgekehrt für ihr jenseitiges Gedeihen<lb/>
auf deren Fürsorge angewiesen. Völlig abweichend von den modernen Ver¬<lb/>
hältnissen ist auch die Struktur dieser Familie. Sie ist schroff herrschaftlich;<lb/>
das Oberhaupt der Familie, der Patriarch, hat uneingeschränkte Gewalt über<lb/>
Frau, Kinder und Kindeskinder. Sie tritt dadurch in Gegensatz zu den früheren<lb/>
Zuständen, wie wir sie bei den Naturvölkern finden. Freilich betont Müller-<lb/>
Lyer auch bei diesen das Übergewicht des Mannes über die Frau und deren<lb/>
dienende und untergeordnete Stellung; meines Erachtens geht er darin etwas<lb/>
zu weit. Auf alle Fälle aber ist hier der herrschaftliche Charakter viel ausge¬<lb/>
prägter. Wir können den Tatbestand auch so ausdrücken: die Familie hat aus¬<lb/>
gesprochenen Klassencharakter. Sie ist von dem Gegensatz der Herrschenden und<lb/>
der Beherrschten durchdrungen.  Und damit nennen wir bereits die Ursache</p><lb/>
          <note xml:id="FID_123" place="foot"> *) Fühlet de Coulanges: l^a cito -mticiuo. Paris 1879. Deutsche Übersetzung: Der<lb/>
antike Staat.  Berlin 1907.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0476] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens Wenden wir uns jetzt höheren Stufen der Kultur zu, so treffen wir hier die patriarchalische Großfamilie. Sie ist uns aus dem klassischen Altertum bekannt, freilich in historischer Zeit selbst schon erheblich wieder zurückgebildet, aber aus ihren Überresten in genialer Intuition von Fühlet de Coulanges in seinem bekannten, neuerdings auch ins Deutsche übersetzten Werke im Bilde wieder¬ hergestellt*). Eine Vorstellung von ihr kann der Leser auch aus den bekannten Büchern Lafcadio Hearns gewinnen, der freilich das Generelle in den Verhältnissen, die er beobachtete, verkannt hat und diese fälschlicherweise für etwas der japanischen Gesittung Eigentümliches hielt. Den wesentlichsten Punkt, in dem sich die patriarchalische Großfamilie von unserer modernen Familie unterscheidet, hat Hearn richtig erfaßt: es ist ihr objektiver Charakter. Die Familie ist hier nicht ein Verhältnis von Personen zu einander, sondern eine feste Form und Ordnung des Lebens, in die die betreffenden Personen sich selbstverständlich einordnen und der gegenüber ihre Persönlichkeit verhältnismäßig gleichgültig ist. Die Güter, die diese Familie vermittelt, sind in erster Linie nicht persönlicher, sondern sachlicher Art. Zunächst beruht das gesamte wirtschaftliche Dasein auf der Großfamilie, die noch mehr oder weniger auf der Stufe der Hauswirtschaft steht und die meisten Gegenstände des Bedarfs selbst erzeugt. Die Familie als Ganzes ist der wahre Eigentümer von Haus und Hof, Land und Vieh und ihr Oberhaupt nur sein Verwalter. Zweitens gewährt diese Familie dem Einzelnen einen weitgehenden Rechtsschutz. In zivilrechtlicher Hinsicht haftet sie für seine Geschäfte — eine Tatsache, die noch in der Gegenwart in China beim Eindringen des europäischen Handels sich störend bemerklich gemacht hat Vor allem ist diese Familie Träger der Blutrache, soweit der Staat diese Ein¬ richtung nicht bereits zerstört hat, und sichert ihm damit sein leibliches Dasein. Drittens hängt die gesamte gesellschaftliche Stellung des einzelnen völlig von derjenigen seiner Familie ab, und endlich hat diese für ihn eine weitgehende religiöse Bedeutung: die Vorfahren wirken aus dem Jenseits als Geister für das Wohl ihrer Nachkommen und sind umgekehrt für ihr jenseitiges Gedeihen auf deren Fürsorge angewiesen. Völlig abweichend von den modernen Ver¬ hältnissen ist auch die Struktur dieser Familie. Sie ist schroff herrschaftlich; das Oberhaupt der Familie, der Patriarch, hat uneingeschränkte Gewalt über Frau, Kinder und Kindeskinder. Sie tritt dadurch in Gegensatz zu den früheren Zuständen, wie wir sie bei den Naturvölkern finden. Freilich betont Müller- Lyer auch bei diesen das Übergewicht des Mannes über die Frau und deren dienende und untergeordnete Stellung; meines Erachtens geht er darin etwas zu weit. Auf alle Fälle aber ist hier der herrschaftliche Charakter viel ausge¬ prägter. Wir können den Tatbestand auch so ausdrücken: die Familie hat aus¬ gesprochenen Klassencharakter. Sie ist von dem Gegensatz der Herrschenden und der Beherrschten durchdrungen. Und damit nennen wir bereits die Ursache *) Fühlet de Coulanges: l^a cito -mticiuo. Paris 1879. Deutsche Übersetzung: Der antike Staat. Berlin 1907.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/476
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/476>, abgerufen am 22.12.2024.