Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Gouvernement Ssuwalki

Aus den Träumen schreckt den Wandrer Rasseln. Klappern und Plappern.
Ein merkwürdiges Gefährt rumpelt heran: drei oder vier Klepper, breit gespannt
vor einem Instrument, das seinen Ausmatzen nach früher einmal ein Omnibus,
seiner Konstruktion nach eine Equipage gewesen sein könnte; jedenfalls mochte
der Wiener Wagenbauer, der vor achtzig bis hundert Jahren die Zeichnung
Zu diesem Gefährt für den polnischen, später von Murawjoff vertriebenen
Magnaten entwarf, nicht auf den Gedanken gekommen sein, daß je in ihm eine
so bunte und wenig distinguierte Gesellschaft sitzen würde: gegen zehn jüdische
Händler verschiedenster Steuerlast und Ansehens, ein deutscher Handwerker,
wohl auch der evangelische Pastor oder der katholische Vikar, dem die Bauern
kein Gespann geben wollten; im Sack quietschen ein Paar Ferkel; hinter dem
Wagen am Seil oder neben den Kleppern vorn trottet ein Gaul, der
vielleicht erst an der letzten passierten Waldecke vom Zigeunerhäuptling in
Kommission genommen wurde. Diese Wagen sind, wenn nicht die einzigen,
so doch die wichtigsten Träger des Verkehrs zwischen den Orten von Ssuwalki.
Der Hauptstrom Litauens, der Njemen, kommt kaum in Betracht: er ist eine
viel gewundene, tief, an manchen Stellen bis zu sechzig Meter eingeschnittene
Grenzlinie gegen Osten und Norden, kein eigentlicher Verkehrsweg für das
Gouvernement. Der Kanal von Augustow, der den Njemen mit dem Narew
verbindet und die ungeheuren Sümpfe und Waldungen in der südöstlichsten Ecke
durchquert, kommt wohl nur für diese und den Durchgangsverkehr für Holz aus
Lomsha in Betracht. Die Eisenbahn, die den Truppenübungsplatz von Orany mit
der Gouvernementshauptstadt verbindet und von dort nach Grodno -- Schnellzug¬
station der Eisenbahn Petrograd--Wilna-Warschau -- führt, wurde bisher
vorwiegend nach russisch-militärischen Gesichtspunkten betrieben: man braucht
für die hundertunddreitzig Kilometer lange Strecke sieben Stunden; durch den
nördlichsten Teil der Provinz führt die zweigleisige Hauptstrecke, die Eydtkuhnen
' mit Kowno und darüber hinaus mit Wilna und Petrograd verbindet. Einige
wenige Chausseen, die die hauptsächlichsten Orte: Kowno an der Nordostecke,
gegenüber Wirballen an der preußischen Grenze. Wilkowiski, Mariampol, Ssuwalki
und Augustow mit Grodno im Südosten verbinden, sind zusammen etwa drei¬
hundertundfunfzig Kilometer lang, was bei einer Fläche von zwölstausendfünf-
hundertundeinundfünfzig Quadratkilometern und rund 800 000 Einwohnern
bezeichnend ist für die wirtschaftliche Erschließung des Gebiets. Unter diesen
Verhältnissen würde der leicht ausführbare Bau einer Anschlußbahn von kaum
hundert Kilometer Länge zwischen Ssuwalki und Marggrabowo geradezu
revolutionierend wirken. -- Möge dieser Bau die nach der Befreiung des Gebiets
vom russischen Joch erste Kulturwohltat unserer Truppen an den Bewohnern
von Ssuwalki sein.

Das Gouvernement Ssuwalki einwandfrei statistisch zu erfassen, ist bei dem
vorhandenen Material unmöglich: die Bevölkerungsstatistik beruht auf der be¬
rüchtigten Volkszählung von 1897 und die Gewerbestatistik ist von verschiedenen


31*
Das Gouvernement Ssuwalki

Aus den Träumen schreckt den Wandrer Rasseln. Klappern und Plappern.
Ein merkwürdiges Gefährt rumpelt heran: drei oder vier Klepper, breit gespannt
vor einem Instrument, das seinen Ausmatzen nach früher einmal ein Omnibus,
seiner Konstruktion nach eine Equipage gewesen sein könnte; jedenfalls mochte
der Wiener Wagenbauer, der vor achtzig bis hundert Jahren die Zeichnung
Zu diesem Gefährt für den polnischen, später von Murawjoff vertriebenen
Magnaten entwarf, nicht auf den Gedanken gekommen sein, daß je in ihm eine
so bunte und wenig distinguierte Gesellschaft sitzen würde: gegen zehn jüdische
Händler verschiedenster Steuerlast und Ansehens, ein deutscher Handwerker,
wohl auch der evangelische Pastor oder der katholische Vikar, dem die Bauern
kein Gespann geben wollten; im Sack quietschen ein Paar Ferkel; hinter dem
Wagen am Seil oder neben den Kleppern vorn trottet ein Gaul, der
vielleicht erst an der letzten passierten Waldecke vom Zigeunerhäuptling in
Kommission genommen wurde. Diese Wagen sind, wenn nicht die einzigen,
so doch die wichtigsten Träger des Verkehrs zwischen den Orten von Ssuwalki.
Der Hauptstrom Litauens, der Njemen, kommt kaum in Betracht: er ist eine
viel gewundene, tief, an manchen Stellen bis zu sechzig Meter eingeschnittene
Grenzlinie gegen Osten und Norden, kein eigentlicher Verkehrsweg für das
Gouvernement. Der Kanal von Augustow, der den Njemen mit dem Narew
verbindet und die ungeheuren Sümpfe und Waldungen in der südöstlichsten Ecke
durchquert, kommt wohl nur für diese und den Durchgangsverkehr für Holz aus
Lomsha in Betracht. Die Eisenbahn, die den Truppenübungsplatz von Orany mit
der Gouvernementshauptstadt verbindet und von dort nach Grodno — Schnellzug¬
station der Eisenbahn Petrograd—Wilna-Warschau — führt, wurde bisher
vorwiegend nach russisch-militärischen Gesichtspunkten betrieben: man braucht
für die hundertunddreitzig Kilometer lange Strecke sieben Stunden; durch den
nördlichsten Teil der Provinz führt die zweigleisige Hauptstrecke, die Eydtkuhnen
' mit Kowno und darüber hinaus mit Wilna und Petrograd verbindet. Einige
wenige Chausseen, die die hauptsächlichsten Orte: Kowno an der Nordostecke,
gegenüber Wirballen an der preußischen Grenze. Wilkowiski, Mariampol, Ssuwalki
und Augustow mit Grodno im Südosten verbinden, sind zusammen etwa drei¬
hundertundfunfzig Kilometer lang, was bei einer Fläche von zwölstausendfünf-
hundertundeinundfünfzig Quadratkilometern und rund 800 000 Einwohnern
bezeichnend ist für die wirtschaftliche Erschließung des Gebiets. Unter diesen
Verhältnissen würde der leicht ausführbare Bau einer Anschlußbahn von kaum
hundert Kilometer Länge zwischen Ssuwalki und Marggrabowo geradezu
revolutionierend wirken. — Möge dieser Bau die nach der Befreiung des Gebiets
vom russischen Joch erste Kulturwohltat unserer Truppen an den Bewohnern
von Ssuwalki sein.

Das Gouvernement Ssuwalki einwandfrei statistisch zu erfassen, ist bei dem
vorhandenen Material unmöglich: die Bevölkerungsstatistik beruht auf der be¬
rüchtigten Volkszählung von 1897 und die Gewerbestatistik ist von verschiedenen


31*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329193"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Gouvernement Ssuwalki</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1538"> Aus den Träumen schreckt den Wandrer Rasseln. Klappern und Plappern.<lb/>
Ein merkwürdiges Gefährt rumpelt heran: drei oder vier Klepper, breit gespannt<lb/>
vor einem Instrument, das seinen Ausmatzen nach früher einmal ein Omnibus,<lb/>
seiner Konstruktion nach eine Equipage gewesen sein könnte; jedenfalls mochte<lb/>
der Wiener Wagenbauer, der vor achtzig bis hundert Jahren die Zeichnung<lb/>
Zu diesem Gefährt für den polnischen, später von Murawjoff vertriebenen<lb/>
Magnaten entwarf, nicht auf den Gedanken gekommen sein, daß je in ihm eine<lb/>
so bunte und wenig distinguierte Gesellschaft sitzen würde: gegen zehn jüdische<lb/>
Händler verschiedenster Steuerlast und Ansehens, ein deutscher Handwerker,<lb/>
wohl auch der evangelische Pastor oder der katholische Vikar, dem die Bauern<lb/>
kein Gespann geben wollten; im Sack quietschen ein Paar Ferkel; hinter dem<lb/>
Wagen am Seil oder neben den Kleppern vorn trottet ein Gaul, der<lb/>
vielleicht erst an der letzten passierten Waldecke vom Zigeunerhäuptling in<lb/>
Kommission genommen wurde. Diese Wagen sind, wenn nicht die einzigen,<lb/>
so doch die wichtigsten Träger des Verkehrs zwischen den Orten von Ssuwalki.<lb/>
Der Hauptstrom Litauens, der Njemen, kommt kaum in Betracht: er ist eine<lb/>
viel gewundene, tief, an manchen Stellen bis zu sechzig Meter eingeschnittene<lb/>
Grenzlinie gegen Osten und Norden, kein eigentlicher Verkehrsweg für das<lb/>
Gouvernement. Der Kanal von Augustow, der den Njemen mit dem Narew<lb/>
verbindet und die ungeheuren Sümpfe und Waldungen in der südöstlichsten Ecke<lb/>
durchquert, kommt wohl nur für diese und den Durchgangsverkehr für Holz aus<lb/>
Lomsha in Betracht. Die Eisenbahn, die den Truppenübungsplatz von Orany mit<lb/>
der Gouvernementshauptstadt verbindet und von dort nach Grodno &#x2014; Schnellzug¬<lb/>
station der Eisenbahn Petrograd&#x2014;Wilna-Warschau &#x2014; führt, wurde bisher<lb/>
vorwiegend nach russisch-militärischen Gesichtspunkten betrieben: man braucht<lb/>
für die hundertunddreitzig Kilometer lange Strecke sieben Stunden; durch den<lb/>
nördlichsten Teil der Provinz führt die zweigleisige Hauptstrecke, die Eydtkuhnen<lb/>
' mit Kowno und darüber hinaus mit Wilna und Petrograd verbindet. Einige<lb/>
wenige Chausseen, die die hauptsächlichsten Orte: Kowno an der Nordostecke,<lb/>
gegenüber Wirballen an der preußischen Grenze. Wilkowiski, Mariampol, Ssuwalki<lb/>
und Augustow mit Grodno im Südosten verbinden, sind zusammen etwa drei¬<lb/>
hundertundfunfzig Kilometer lang, was bei einer Fläche von zwölstausendfünf-<lb/>
hundertundeinundfünfzig Quadratkilometern und rund 800 000 Einwohnern<lb/>
bezeichnend ist für die wirtschaftliche Erschließung des Gebiets. Unter diesen<lb/>
Verhältnissen würde der leicht ausführbare Bau einer Anschlußbahn von kaum<lb/>
hundert Kilometer Länge zwischen Ssuwalki und Marggrabowo geradezu<lb/>
revolutionierend wirken. &#x2014; Möge dieser Bau die nach der Befreiung des Gebiets<lb/>
vom russischen Joch erste Kulturwohltat unserer Truppen an den Bewohnern<lb/>
von Ssuwalki sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1539" next="#ID_1540"> Das Gouvernement Ssuwalki einwandfrei statistisch zu erfassen, ist bei dem<lb/>
vorhandenen Material unmöglich: die Bevölkerungsstatistik beruht auf der be¬<lb/>
rüchtigten Volkszählung von 1897 und die Gewerbestatistik ist von verschiedenen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 31*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0459] Das Gouvernement Ssuwalki Aus den Träumen schreckt den Wandrer Rasseln. Klappern und Plappern. Ein merkwürdiges Gefährt rumpelt heran: drei oder vier Klepper, breit gespannt vor einem Instrument, das seinen Ausmatzen nach früher einmal ein Omnibus, seiner Konstruktion nach eine Equipage gewesen sein könnte; jedenfalls mochte der Wiener Wagenbauer, der vor achtzig bis hundert Jahren die Zeichnung Zu diesem Gefährt für den polnischen, später von Murawjoff vertriebenen Magnaten entwarf, nicht auf den Gedanken gekommen sein, daß je in ihm eine so bunte und wenig distinguierte Gesellschaft sitzen würde: gegen zehn jüdische Händler verschiedenster Steuerlast und Ansehens, ein deutscher Handwerker, wohl auch der evangelische Pastor oder der katholische Vikar, dem die Bauern kein Gespann geben wollten; im Sack quietschen ein Paar Ferkel; hinter dem Wagen am Seil oder neben den Kleppern vorn trottet ein Gaul, der vielleicht erst an der letzten passierten Waldecke vom Zigeunerhäuptling in Kommission genommen wurde. Diese Wagen sind, wenn nicht die einzigen, so doch die wichtigsten Träger des Verkehrs zwischen den Orten von Ssuwalki. Der Hauptstrom Litauens, der Njemen, kommt kaum in Betracht: er ist eine viel gewundene, tief, an manchen Stellen bis zu sechzig Meter eingeschnittene Grenzlinie gegen Osten und Norden, kein eigentlicher Verkehrsweg für das Gouvernement. Der Kanal von Augustow, der den Njemen mit dem Narew verbindet und die ungeheuren Sümpfe und Waldungen in der südöstlichsten Ecke durchquert, kommt wohl nur für diese und den Durchgangsverkehr für Holz aus Lomsha in Betracht. Die Eisenbahn, die den Truppenübungsplatz von Orany mit der Gouvernementshauptstadt verbindet und von dort nach Grodno — Schnellzug¬ station der Eisenbahn Petrograd—Wilna-Warschau — führt, wurde bisher vorwiegend nach russisch-militärischen Gesichtspunkten betrieben: man braucht für die hundertunddreitzig Kilometer lange Strecke sieben Stunden; durch den nördlichsten Teil der Provinz führt die zweigleisige Hauptstrecke, die Eydtkuhnen ' mit Kowno und darüber hinaus mit Wilna und Petrograd verbindet. Einige wenige Chausseen, die die hauptsächlichsten Orte: Kowno an der Nordostecke, gegenüber Wirballen an der preußischen Grenze. Wilkowiski, Mariampol, Ssuwalki und Augustow mit Grodno im Südosten verbinden, sind zusammen etwa drei¬ hundertundfunfzig Kilometer lang, was bei einer Fläche von zwölstausendfünf- hundertundeinundfünfzig Quadratkilometern und rund 800 000 Einwohnern bezeichnend ist für die wirtschaftliche Erschließung des Gebiets. Unter diesen Verhältnissen würde der leicht ausführbare Bau einer Anschlußbahn von kaum hundert Kilometer Länge zwischen Ssuwalki und Marggrabowo geradezu revolutionierend wirken. — Möge dieser Bau die nach der Befreiung des Gebiets vom russischen Joch erste Kulturwohltat unserer Truppen an den Bewohnern von Ssuwalki sein. Das Gouvernement Ssuwalki einwandfrei statistisch zu erfassen, ist bei dem vorhandenen Material unmöglich: die Bevölkerungsstatistik beruht auf der be¬ rüchtigten Volkszählung von 1897 und die Gewerbestatistik ist von verschiedenen 31*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/459
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/459>, abgerufen am 27.07.2024.