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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Da5 Gouvernement Ssuwalki

Klimatisch, geologisch, in Fauna und Flora unterscheidet nichts das Gouverne¬
ment von Ostpreußen. Der uralisch-baltische Höhenrücken geht hier breit durch und
zeigt mit seinen Wäldern, Sümpfen, Seen denselben Charakter wie die Romintener
Heide. Die guten Weiden gestatten die Aufzucht eines dem ostpreußischen ver¬
wandten guten Pferdeschlages. Wenn alles wilder und urwaldartiger, an einzelnen
Stellen unberührter, meist aber verwahrloster aussieht, wie in Ostpreußen, so
trägt die Natur nicht die Schuld daran: der Unterschied im äußeren Ansehen
der preußischen und russischen Provinz gibt den Maßstab für den Unterschied
zwischen preußischer und russischer Verwaltungspraxis. Den natürlichen, nach
Preußen weihenden Vorbedingungen scheint die russische Regierung Rechnung
getragen zu haben, als sie dereinst bei der Schaffung von Kongreßpolen
das Gouvernement im Norden und Osten vom Lauf des Njemen, im Süden von
dem der Lossina und des Bohr mit ihren unwegsamen Sümpfen gegen Rußland
abgrenzte und es so aus den russischen Landen förmlich herausschnitt. Es ist
nur ein ganz schmaler kaum fünfzig Kilometer breiter Streifen trocknen Landes
im Südwesten, der Ssuwalki mit dem übrigen Weichselgebiet verbindet.

Jetzt im Herbst hat die litauische Landschaft gerade am flach absteigenden
Nordhänge des Höhenzuges einen wunderbar eigenen Reiz. Der Horizont wird
begrenzt durch dunkle Wälder; die sanften Hügelketten sind bedeckt von weiten,
endlosen gelben Stoppelfeldern; nur hin und wieder werden sie schon jetzt von
einer emsigen Pflugschar aufgerissen, die das Gelb in Grau verwandelt. Dafür
beleben zahlreiche Gänsescharen die Fläche; ihr Gefieder scheint in dem eigenen
träumerischen Licht zu glitzern und zu gleißen; wie Trompeten schmettert
der Ruf der Gänseriche über die Flur. Hin und wieder werden grau¬
gelbe Schweineherden sichtbar und an den Feldrainen Kinder, die Hüter aller
dieser Scharen. Über das ganze Land verstreut die Bauernhöfe. Geschlossene
Dörfer gibt es hier nicht, -- es sei denn eine alte deutsche Haulandkolonie am
Waldrande. Größere Gutshöfe sind selten, obwohl das Standesregister gegen
dreitausend Personen von Adel aufweist. Die Nähe von Großgrundbesitz deutet
sich dem Wanderer durch weite Wiesen, auf denen Pferde weiden, an. Fabrik¬
schornsteine kennt man in diesen glücklichen Gefilden kaum. Die Bauernhöfe
sind meist von hohen Bäumen, schwarzen Edeltannen und herbstgelben Birken
und Ebereschen unistanden, deren sastigroten Früchte auf dem dunklen Hinter¬
grunde fast so kräftig glühen, wie die Kamelien und Azalien in den Gärten
des Comer Sees. Über alle dem liegt jetzt ein blaugrauer schweigsamer
Himmel ohne Sonnenscheibe und geheimnisvoll, als ging Keistuds Geist über
die Fluren, zieht Altweibersommer über die Felder, raunt ein Etwas durch
die Stille. Litauen! sagenreiches, märchenreiches! Auch ohne die zahlreichen
Lager umherziehender und Pferde stehlender Zigeuner an den Wald¬
rändern, atmet dies Land eine Romantik, wie sie mir weder in den Bergen
der Schweiz, noch im Kaukasus, noch in Bosnien je zum Bewußtsein ge¬
kommen ist.


Da5 Gouvernement Ssuwalki

Klimatisch, geologisch, in Fauna und Flora unterscheidet nichts das Gouverne¬
ment von Ostpreußen. Der uralisch-baltische Höhenrücken geht hier breit durch und
zeigt mit seinen Wäldern, Sümpfen, Seen denselben Charakter wie die Romintener
Heide. Die guten Weiden gestatten die Aufzucht eines dem ostpreußischen ver¬
wandten guten Pferdeschlages. Wenn alles wilder und urwaldartiger, an einzelnen
Stellen unberührter, meist aber verwahrloster aussieht, wie in Ostpreußen, so
trägt die Natur nicht die Schuld daran: der Unterschied im äußeren Ansehen
der preußischen und russischen Provinz gibt den Maßstab für den Unterschied
zwischen preußischer und russischer Verwaltungspraxis. Den natürlichen, nach
Preußen weihenden Vorbedingungen scheint die russische Regierung Rechnung
getragen zu haben, als sie dereinst bei der Schaffung von Kongreßpolen
das Gouvernement im Norden und Osten vom Lauf des Njemen, im Süden von
dem der Lossina und des Bohr mit ihren unwegsamen Sümpfen gegen Rußland
abgrenzte und es so aus den russischen Landen förmlich herausschnitt. Es ist
nur ein ganz schmaler kaum fünfzig Kilometer breiter Streifen trocknen Landes
im Südwesten, der Ssuwalki mit dem übrigen Weichselgebiet verbindet.

Jetzt im Herbst hat die litauische Landschaft gerade am flach absteigenden
Nordhänge des Höhenzuges einen wunderbar eigenen Reiz. Der Horizont wird
begrenzt durch dunkle Wälder; die sanften Hügelketten sind bedeckt von weiten,
endlosen gelben Stoppelfeldern; nur hin und wieder werden sie schon jetzt von
einer emsigen Pflugschar aufgerissen, die das Gelb in Grau verwandelt. Dafür
beleben zahlreiche Gänsescharen die Fläche; ihr Gefieder scheint in dem eigenen
träumerischen Licht zu glitzern und zu gleißen; wie Trompeten schmettert
der Ruf der Gänseriche über die Flur. Hin und wieder werden grau¬
gelbe Schweineherden sichtbar und an den Feldrainen Kinder, die Hüter aller
dieser Scharen. Über das ganze Land verstreut die Bauernhöfe. Geschlossene
Dörfer gibt es hier nicht, — es sei denn eine alte deutsche Haulandkolonie am
Waldrande. Größere Gutshöfe sind selten, obwohl das Standesregister gegen
dreitausend Personen von Adel aufweist. Die Nähe von Großgrundbesitz deutet
sich dem Wanderer durch weite Wiesen, auf denen Pferde weiden, an. Fabrik¬
schornsteine kennt man in diesen glücklichen Gefilden kaum. Die Bauernhöfe
sind meist von hohen Bäumen, schwarzen Edeltannen und herbstgelben Birken
und Ebereschen unistanden, deren sastigroten Früchte auf dem dunklen Hinter¬
grunde fast so kräftig glühen, wie die Kamelien und Azalien in den Gärten
des Comer Sees. Über alle dem liegt jetzt ein blaugrauer schweigsamer
Himmel ohne Sonnenscheibe und geheimnisvoll, als ging Keistuds Geist über
die Fluren, zieht Altweibersommer über die Felder, raunt ein Etwas durch
die Stille. Litauen! sagenreiches, märchenreiches! Auch ohne die zahlreichen
Lager umherziehender und Pferde stehlender Zigeuner an den Wald¬
rändern, atmet dies Land eine Romantik, wie sie mir weder in den Bergen
der Schweiz, noch im Kaukasus, noch in Bosnien je zum Bewußtsein ge¬
kommen ist.


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[0458] Da5 Gouvernement Ssuwalki Klimatisch, geologisch, in Fauna und Flora unterscheidet nichts das Gouverne¬ ment von Ostpreußen. Der uralisch-baltische Höhenrücken geht hier breit durch und zeigt mit seinen Wäldern, Sümpfen, Seen denselben Charakter wie die Romintener Heide. Die guten Weiden gestatten die Aufzucht eines dem ostpreußischen ver¬ wandten guten Pferdeschlages. Wenn alles wilder und urwaldartiger, an einzelnen Stellen unberührter, meist aber verwahrloster aussieht, wie in Ostpreußen, so trägt die Natur nicht die Schuld daran: der Unterschied im äußeren Ansehen der preußischen und russischen Provinz gibt den Maßstab für den Unterschied zwischen preußischer und russischer Verwaltungspraxis. Den natürlichen, nach Preußen weihenden Vorbedingungen scheint die russische Regierung Rechnung getragen zu haben, als sie dereinst bei der Schaffung von Kongreßpolen das Gouvernement im Norden und Osten vom Lauf des Njemen, im Süden von dem der Lossina und des Bohr mit ihren unwegsamen Sümpfen gegen Rußland abgrenzte und es so aus den russischen Landen förmlich herausschnitt. Es ist nur ein ganz schmaler kaum fünfzig Kilometer breiter Streifen trocknen Landes im Südwesten, der Ssuwalki mit dem übrigen Weichselgebiet verbindet. Jetzt im Herbst hat die litauische Landschaft gerade am flach absteigenden Nordhänge des Höhenzuges einen wunderbar eigenen Reiz. Der Horizont wird begrenzt durch dunkle Wälder; die sanften Hügelketten sind bedeckt von weiten, endlosen gelben Stoppelfeldern; nur hin und wieder werden sie schon jetzt von einer emsigen Pflugschar aufgerissen, die das Gelb in Grau verwandelt. Dafür beleben zahlreiche Gänsescharen die Fläche; ihr Gefieder scheint in dem eigenen träumerischen Licht zu glitzern und zu gleißen; wie Trompeten schmettert der Ruf der Gänseriche über die Flur. Hin und wieder werden grau¬ gelbe Schweineherden sichtbar und an den Feldrainen Kinder, die Hüter aller dieser Scharen. Über das ganze Land verstreut die Bauernhöfe. Geschlossene Dörfer gibt es hier nicht, — es sei denn eine alte deutsche Haulandkolonie am Waldrande. Größere Gutshöfe sind selten, obwohl das Standesregister gegen dreitausend Personen von Adel aufweist. Die Nähe von Großgrundbesitz deutet sich dem Wanderer durch weite Wiesen, auf denen Pferde weiden, an. Fabrik¬ schornsteine kennt man in diesen glücklichen Gefilden kaum. Die Bauernhöfe sind meist von hohen Bäumen, schwarzen Edeltannen und herbstgelben Birken und Ebereschen unistanden, deren sastigroten Früchte auf dem dunklen Hinter¬ grunde fast so kräftig glühen, wie die Kamelien und Azalien in den Gärten des Comer Sees. Über alle dem liegt jetzt ein blaugrauer schweigsamer Himmel ohne Sonnenscheibe und geheimnisvoll, als ging Keistuds Geist über die Fluren, zieht Altweibersommer über die Felder, raunt ein Etwas durch die Stille. Litauen! sagenreiches, märchenreiches! Auch ohne die zahlreichen Lager umherziehender und Pferde stehlender Zigeuner an den Wald¬ rändern, atmet dies Land eine Romantik, wie sie mir weder in den Bergen der Schweiz, noch im Kaukasus, noch in Bosnien je zum Bewußtsein ge¬ kommen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/458>, abgerufen am 22.12.2024.