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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Niederlage des Aesthetizismus

Amerika die prekäre Lage des europäischen Kunsthandels benutzen wird, um
manches wertvolle Stück alter Kunst über den Ozean zu entführen. Aber sind
wir denn wirklich so ganz und gar jämmerlich geworden, daß uns die alte Kunst
unentbehrlich, unersetzlich geworden ist, daß wir uns nicht mehr getrauen gleich¬
wertiges Neues zu schaffen? Keine Zeit hat wie die unsere diese erbärmliche
Sentimentalität gegenüber alter Kunst gezeigt und was die Bilderstürmer des
sechzehnten und die Religionskriege des siebzehnten Jahrhunderts in den Nieder¬
landen und Deutschland an Kunstwerken vernichtet haben, hat die Kunst Rubens
und Rembrandts. hat der Kunstsinn der deutschen Fürsten im ausgehenden
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durchaus ersetzt. Wollten wir uns
wirklich darauf beschränken. Konservatoren und, schlimmer noch, Restauratoren
zu sein? Es ist auch wahr, daß in den nächsten Jahren für unfruchtbare
ästhetische Experimente, für prätentiöse Literatur mit kostbaren Einbänden, vielleicht
auch für allerlei wissenschaftliche Sammelarbeit kein Geld da sein wird, mag
auch sein, daß es mit unserm ruhelosen und verweichlichenden internationalen
EMektizismus ein Ende hat. Sollen wir deshalb verzagen? Gerade durch den Krieg,
der, von allen erlebend begriffen, auch allen ein nicht auszulöschendes Erlebnis
werden wird -- das starke Erlebnis, nach dem Tausende in einer immer mehr
verflachenden Zeit sich gesehnt haben, wird das bisher so vielfältig zerstreute
Interesse der geistigen Menschen in einen Brennpunkt gesammelt werden, wird
uns allen. Großen wie Kleinen, ein neuer Gehalt gegeben. Und gerade, daß
die bisherigen immer wieder angebeteten Kulturnationen. Frankreich und England,
einen Krieg führen, der zuletzt doch gegen das neue deutsche Wesen gerichtet ist,
wie es sich seit den Tagen Schillers und Goethes herausgebildet hat, wie es
im letzten Jahrzehnt in der Architektur wie im Kunstgewerbe sich selbständig aus-
zusprechen begonnen hat. kann, wie immer der Krieg auch enden möge, unser
Selbstbewußtsein stärken und erhöhen und die Frucht dieser Selbstbesinnung
braucht sich durchaus nicht in nationalistischen Geschrei um deutsche Mode und
Vermeidung von Fremdwörtern zu erschöpfen, kann sich recht gut zum freien
Bekenntnis unsres eigenen, durch den Krieg mächtig erstarkten Wesens auswachsen.
nicht zu chauvinistischer Enge, sondern in ruhiger Beherrschung der von den
andern Völkern übernommenen Anregungen.

Und noch eins wird dieser Krieg uns unter allen Umständen bringen, was
uns bisher fehlte, die Grundbedingung aller echten Kultur: Bodenständigkeit.
All die Tausende, die jetzt draußen marschieren, so gut wie die Zurückgebliebenen,
die die Not der Verwundeten, Verwaisten und Arbeitslosen zu lindern bestrebt
sind, müssen es jetzt am eigenen Leibe erfahren, daß es nirgends mit der vor¬
lauten Äußerung, des Idealismus, der dilettantischen Begeisterung allein getan
ist, sondern daß Idealismus nur die stille und innerlich wurzelnde, als ganz
selbstverständlich vorauszusetzende Bedingung ist für die absolut restlose gleicher¬
maßen materielle wie geistige Bewältigung auch der kleinsten Realität. Eine
einzige Weiche falsch gestellt, ein einziger Schreibfehler in einem Telegramm


Die Niederlage des Aesthetizismus

Amerika die prekäre Lage des europäischen Kunsthandels benutzen wird, um
manches wertvolle Stück alter Kunst über den Ozean zu entführen. Aber sind
wir denn wirklich so ganz und gar jämmerlich geworden, daß uns die alte Kunst
unentbehrlich, unersetzlich geworden ist, daß wir uns nicht mehr getrauen gleich¬
wertiges Neues zu schaffen? Keine Zeit hat wie die unsere diese erbärmliche
Sentimentalität gegenüber alter Kunst gezeigt und was die Bilderstürmer des
sechzehnten und die Religionskriege des siebzehnten Jahrhunderts in den Nieder¬
landen und Deutschland an Kunstwerken vernichtet haben, hat die Kunst Rubens
und Rembrandts. hat der Kunstsinn der deutschen Fürsten im ausgehenden
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durchaus ersetzt. Wollten wir uns
wirklich darauf beschränken. Konservatoren und, schlimmer noch, Restauratoren
zu sein? Es ist auch wahr, daß in den nächsten Jahren für unfruchtbare
ästhetische Experimente, für prätentiöse Literatur mit kostbaren Einbänden, vielleicht
auch für allerlei wissenschaftliche Sammelarbeit kein Geld da sein wird, mag
auch sein, daß es mit unserm ruhelosen und verweichlichenden internationalen
EMektizismus ein Ende hat. Sollen wir deshalb verzagen? Gerade durch den Krieg,
der, von allen erlebend begriffen, auch allen ein nicht auszulöschendes Erlebnis
werden wird — das starke Erlebnis, nach dem Tausende in einer immer mehr
verflachenden Zeit sich gesehnt haben, wird das bisher so vielfältig zerstreute
Interesse der geistigen Menschen in einen Brennpunkt gesammelt werden, wird
uns allen. Großen wie Kleinen, ein neuer Gehalt gegeben. Und gerade, daß
die bisherigen immer wieder angebeteten Kulturnationen. Frankreich und England,
einen Krieg führen, der zuletzt doch gegen das neue deutsche Wesen gerichtet ist,
wie es sich seit den Tagen Schillers und Goethes herausgebildet hat, wie es
im letzten Jahrzehnt in der Architektur wie im Kunstgewerbe sich selbständig aus-
zusprechen begonnen hat. kann, wie immer der Krieg auch enden möge, unser
Selbstbewußtsein stärken und erhöhen und die Frucht dieser Selbstbesinnung
braucht sich durchaus nicht in nationalistischen Geschrei um deutsche Mode und
Vermeidung von Fremdwörtern zu erschöpfen, kann sich recht gut zum freien
Bekenntnis unsres eigenen, durch den Krieg mächtig erstarkten Wesens auswachsen.
nicht zu chauvinistischer Enge, sondern in ruhiger Beherrschung der von den
andern Völkern übernommenen Anregungen.

Und noch eins wird dieser Krieg uns unter allen Umständen bringen, was
uns bisher fehlte, die Grundbedingung aller echten Kultur: Bodenständigkeit.
All die Tausende, die jetzt draußen marschieren, so gut wie die Zurückgebliebenen,
die die Not der Verwundeten, Verwaisten und Arbeitslosen zu lindern bestrebt
sind, müssen es jetzt am eigenen Leibe erfahren, daß es nirgends mit der vor¬
lauten Äußerung, des Idealismus, der dilettantischen Begeisterung allein getan
ist, sondern daß Idealismus nur die stille und innerlich wurzelnde, als ganz
selbstverständlich vorauszusetzende Bedingung ist für die absolut restlose gleicher¬
maßen materielle wie geistige Bewältigung auch der kleinsten Realität. Eine
einzige Weiche falsch gestellt, ein einziger Schreibfehler in einem Telegramm


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[0449] Die Niederlage des Aesthetizismus Amerika die prekäre Lage des europäischen Kunsthandels benutzen wird, um manches wertvolle Stück alter Kunst über den Ozean zu entführen. Aber sind wir denn wirklich so ganz und gar jämmerlich geworden, daß uns die alte Kunst unentbehrlich, unersetzlich geworden ist, daß wir uns nicht mehr getrauen gleich¬ wertiges Neues zu schaffen? Keine Zeit hat wie die unsere diese erbärmliche Sentimentalität gegenüber alter Kunst gezeigt und was die Bilderstürmer des sechzehnten und die Religionskriege des siebzehnten Jahrhunderts in den Nieder¬ landen und Deutschland an Kunstwerken vernichtet haben, hat die Kunst Rubens und Rembrandts. hat der Kunstsinn der deutschen Fürsten im ausgehenden siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durchaus ersetzt. Wollten wir uns wirklich darauf beschränken. Konservatoren und, schlimmer noch, Restauratoren zu sein? Es ist auch wahr, daß in den nächsten Jahren für unfruchtbare ästhetische Experimente, für prätentiöse Literatur mit kostbaren Einbänden, vielleicht auch für allerlei wissenschaftliche Sammelarbeit kein Geld da sein wird, mag auch sein, daß es mit unserm ruhelosen und verweichlichenden internationalen EMektizismus ein Ende hat. Sollen wir deshalb verzagen? Gerade durch den Krieg, der, von allen erlebend begriffen, auch allen ein nicht auszulöschendes Erlebnis werden wird — das starke Erlebnis, nach dem Tausende in einer immer mehr verflachenden Zeit sich gesehnt haben, wird das bisher so vielfältig zerstreute Interesse der geistigen Menschen in einen Brennpunkt gesammelt werden, wird uns allen. Großen wie Kleinen, ein neuer Gehalt gegeben. Und gerade, daß die bisherigen immer wieder angebeteten Kulturnationen. Frankreich und England, einen Krieg führen, der zuletzt doch gegen das neue deutsche Wesen gerichtet ist, wie es sich seit den Tagen Schillers und Goethes herausgebildet hat, wie es im letzten Jahrzehnt in der Architektur wie im Kunstgewerbe sich selbständig aus- zusprechen begonnen hat. kann, wie immer der Krieg auch enden möge, unser Selbstbewußtsein stärken und erhöhen und die Frucht dieser Selbstbesinnung braucht sich durchaus nicht in nationalistischen Geschrei um deutsche Mode und Vermeidung von Fremdwörtern zu erschöpfen, kann sich recht gut zum freien Bekenntnis unsres eigenen, durch den Krieg mächtig erstarkten Wesens auswachsen. nicht zu chauvinistischer Enge, sondern in ruhiger Beherrschung der von den andern Völkern übernommenen Anregungen. Und noch eins wird dieser Krieg uns unter allen Umständen bringen, was uns bisher fehlte, die Grundbedingung aller echten Kultur: Bodenständigkeit. All die Tausende, die jetzt draußen marschieren, so gut wie die Zurückgebliebenen, die die Not der Verwundeten, Verwaisten und Arbeitslosen zu lindern bestrebt sind, müssen es jetzt am eigenen Leibe erfahren, daß es nirgends mit der vor¬ lauten Äußerung, des Idealismus, der dilettantischen Begeisterung allein getan ist, sondern daß Idealismus nur die stille und innerlich wurzelnde, als ganz selbstverständlich vorauszusetzende Bedingung ist für die absolut restlose gleicher¬ maßen materielle wie geistige Bewältigung auch der kleinsten Realität. Eine einzige Weiche falsch gestellt, ein einziger Schreibfehler in einem Telegramm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/449>, abgerufen am 28.07.2024.