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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Niederlage des Aesthetizismus

unendlich fein organisierte Seelenapparat zurücktrat vor der rohen Materialität
zweier gedrückter Schultern, zweier ermatteter Knie und eines hungrigen Magens.
Der einzelne ging auf in der Masse, der Ästhet war nichts, die Kraft alles.
Umwertung aller Werte!

In solcher Schule kann sich der Geist wieder auf seine Grundlagen be-
sinnen und gesunden. Die aber zurückblieben erhoben öffentlich und mehr noch
unter sich ein großes Geschrei und Wehklagen um das. was sie "Kultur" zu
nennen pflegen. Gerade nämlich hatte man sich mit Nord. Süd, West und
Ost so herrlich zusammengefunden und dem Bund der Intellektuellen eine vor¬
nehme kosmopolitische Färbung, d. h. ein farbloses Grau gegeben, in dem sich
alle wohlfühlten, gerade hatte man eine Wissenschaft, die auch die kleinsten
Geister auf das Postament dicker Bücher stellte und die geringfügigsten Tatsachen
über Meere von Tinte segeln ließ, gerade hatte man eine Kunst, die so recht
dem Kultus der abstrakten Seele diente, gerade hatte man sich die Welt mit
dilettantisch ausgeübten Sozialismus und Weltfriedensideen hübsch wohnlich
eingerichtet und die Rechte und Pflichten der Völker unter genauer Abwägung
aller juristischen Bedenken vom Katheder herab dekretiert, als die eingeschläferte
Wirklichkeit erwachte und der Krieg begann. Einen Augenblick noch konnte man
aufatmen: Italien wenigstens tat nicht mit, Neapel, Palermo, Genua mit
ihren Palästen und Kirchen blieben vor den Granaten der Engländer bewahrt.
Aber dann kam roh und unerbittlich eine Hiobspost über die andere: Völker¬
rechtsbestimmungen gebrochen, Franktiereurkrieg erklärt, die deutsche Botschaft in
Petersburg geplündert, die Eremitage durch die bevorstehende Revolution be¬
droht, die schönsten gotischen Kirchtürme erbarmungslos zusammengeschossen,
altberühmte Städtebilder der Zerstörung preisgegeben, ein Hauptwerk des Rubens
in Mecheln vernichtet, das "intelligenteste Volk Europas", nämlich die Franzosen
in seiner Blüte bedroht. Und auf Jahre hinaus keine Hilfe abzusehen. Und
über all der Verwirrung wie Jeremias über den Trümmern Jerusalems der
Ästhet als allernutzlo festes Glied der menschlichen Gesellschaft!

In der Tat, mit den Ästheten steht es erbärmlich. Nichts hätte ihre
geistige Herrschaft so jäh erschüttern können, als die rohe Tatsache dieses
Krieges. Wir aber, die wir im Ästhetizismus und seiner Weltanschauung
schon längst eine Gefahr für unser Geistesleben sahen, dürfen diesen Krieg
wohl, mögen feine politischen und wirtschaftlichen Resultate einmal sein,
welche sie müssen, als eine Befreiung ohne gleichen feiern und uns in
Ruhe überlegen, ob die viel bejammerten Verluste an Kulturwerten
wirklich so groß sein werden wie vielfach angenommen wird. Es ist wahr,
mehrere öffentlich aufgestellte Kunstwerke werden zugrunde gehen, eine Reihe der
besten Gemälde beschädigt werden, -- selbst bombensichere Aufbewahrung in
Kellern wird ja keineswegs spurlos an ihnen vorübergehen, -- eine vielleicht große
Anzahl Kirchen werden ihrer ehrwürdigen Schönheit beraubt werden, und manches
schöne alte Städtebild wird für immer zerstört sein. Es ist auch wahr, daß


Die Niederlage des Aesthetizismus

unendlich fein organisierte Seelenapparat zurücktrat vor der rohen Materialität
zweier gedrückter Schultern, zweier ermatteter Knie und eines hungrigen Magens.
Der einzelne ging auf in der Masse, der Ästhet war nichts, die Kraft alles.
Umwertung aller Werte!

In solcher Schule kann sich der Geist wieder auf seine Grundlagen be-
sinnen und gesunden. Die aber zurückblieben erhoben öffentlich und mehr noch
unter sich ein großes Geschrei und Wehklagen um das. was sie „Kultur" zu
nennen pflegen. Gerade nämlich hatte man sich mit Nord. Süd, West und
Ost so herrlich zusammengefunden und dem Bund der Intellektuellen eine vor¬
nehme kosmopolitische Färbung, d. h. ein farbloses Grau gegeben, in dem sich
alle wohlfühlten, gerade hatte man eine Wissenschaft, die auch die kleinsten
Geister auf das Postament dicker Bücher stellte und die geringfügigsten Tatsachen
über Meere von Tinte segeln ließ, gerade hatte man eine Kunst, die so recht
dem Kultus der abstrakten Seele diente, gerade hatte man sich die Welt mit
dilettantisch ausgeübten Sozialismus und Weltfriedensideen hübsch wohnlich
eingerichtet und die Rechte und Pflichten der Völker unter genauer Abwägung
aller juristischen Bedenken vom Katheder herab dekretiert, als die eingeschläferte
Wirklichkeit erwachte und der Krieg begann. Einen Augenblick noch konnte man
aufatmen: Italien wenigstens tat nicht mit, Neapel, Palermo, Genua mit
ihren Palästen und Kirchen blieben vor den Granaten der Engländer bewahrt.
Aber dann kam roh und unerbittlich eine Hiobspost über die andere: Völker¬
rechtsbestimmungen gebrochen, Franktiereurkrieg erklärt, die deutsche Botschaft in
Petersburg geplündert, die Eremitage durch die bevorstehende Revolution be¬
droht, die schönsten gotischen Kirchtürme erbarmungslos zusammengeschossen,
altberühmte Städtebilder der Zerstörung preisgegeben, ein Hauptwerk des Rubens
in Mecheln vernichtet, das „intelligenteste Volk Europas", nämlich die Franzosen
in seiner Blüte bedroht. Und auf Jahre hinaus keine Hilfe abzusehen. Und
über all der Verwirrung wie Jeremias über den Trümmern Jerusalems der
Ästhet als allernutzlo festes Glied der menschlichen Gesellschaft!

In der Tat, mit den Ästheten steht es erbärmlich. Nichts hätte ihre
geistige Herrschaft so jäh erschüttern können, als die rohe Tatsache dieses
Krieges. Wir aber, die wir im Ästhetizismus und seiner Weltanschauung
schon längst eine Gefahr für unser Geistesleben sahen, dürfen diesen Krieg
wohl, mögen feine politischen und wirtschaftlichen Resultate einmal sein,
welche sie müssen, als eine Befreiung ohne gleichen feiern und uns in
Ruhe überlegen, ob die viel bejammerten Verluste an Kulturwerten
wirklich so groß sein werden wie vielfach angenommen wird. Es ist wahr,
mehrere öffentlich aufgestellte Kunstwerke werden zugrunde gehen, eine Reihe der
besten Gemälde beschädigt werden, — selbst bombensichere Aufbewahrung in
Kellern wird ja keineswegs spurlos an ihnen vorübergehen, — eine vielleicht große
Anzahl Kirchen werden ihrer ehrwürdigen Schönheit beraubt werden, und manches
schöne alte Städtebild wird für immer zerstört sein. Es ist auch wahr, daß


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[0448] Die Niederlage des Aesthetizismus unendlich fein organisierte Seelenapparat zurücktrat vor der rohen Materialität zweier gedrückter Schultern, zweier ermatteter Knie und eines hungrigen Magens. Der einzelne ging auf in der Masse, der Ästhet war nichts, die Kraft alles. Umwertung aller Werte! In solcher Schule kann sich der Geist wieder auf seine Grundlagen be- sinnen und gesunden. Die aber zurückblieben erhoben öffentlich und mehr noch unter sich ein großes Geschrei und Wehklagen um das. was sie „Kultur" zu nennen pflegen. Gerade nämlich hatte man sich mit Nord. Süd, West und Ost so herrlich zusammengefunden und dem Bund der Intellektuellen eine vor¬ nehme kosmopolitische Färbung, d. h. ein farbloses Grau gegeben, in dem sich alle wohlfühlten, gerade hatte man eine Wissenschaft, die auch die kleinsten Geister auf das Postament dicker Bücher stellte und die geringfügigsten Tatsachen über Meere von Tinte segeln ließ, gerade hatte man eine Kunst, die so recht dem Kultus der abstrakten Seele diente, gerade hatte man sich die Welt mit dilettantisch ausgeübten Sozialismus und Weltfriedensideen hübsch wohnlich eingerichtet und die Rechte und Pflichten der Völker unter genauer Abwägung aller juristischen Bedenken vom Katheder herab dekretiert, als die eingeschläferte Wirklichkeit erwachte und der Krieg begann. Einen Augenblick noch konnte man aufatmen: Italien wenigstens tat nicht mit, Neapel, Palermo, Genua mit ihren Palästen und Kirchen blieben vor den Granaten der Engländer bewahrt. Aber dann kam roh und unerbittlich eine Hiobspost über die andere: Völker¬ rechtsbestimmungen gebrochen, Franktiereurkrieg erklärt, die deutsche Botschaft in Petersburg geplündert, die Eremitage durch die bevorstehende Revolution be¬ droht, die schönsten gotischen Kirchtürme erbarmungslos zusammengeschossen, altberühmte Städtebilder der Zerstörung preisgegeben, ein Hauptwerk des Rubens in Mecheln vernichtet, das „intelligenteste Volk Europas", nämlich die Franzosen in seiner Blüte bedroht. Und auf Jahre hinaus keine Hilfe abzusehen. Und über all der Verwirrung wie Jeremias über den Trümmern Jerusalems der Ästhet als allernutzlo festes Glied der menschlichen Gesellschaft! In der Tat, mit den Ästheten steht es erbärmlich. Nichts hätte ihre geistige Herrschaft so jäh erschüttern können, als die rohe Tatsache dieses Krieges. Wir aber, die wir im Ästhetizismus und seiner Weltanschauung schon längst eine Gefahr für unser Geistesleben sahen, dürfen diesen Krieg wohl, mögen feine politischen und wirtschaftlichen Resultate einmal sein, welche sie müssen, als eine Befreiung ohne gleichen feiern und uns in Ruhe überlegen, ob die viel bejammerten Verluste an Kulturwerten wirklich so groß sein werden wie vielfach angenommen wird. Es ist wahr, mehrere öffentlich aufgestellte Kunstwerke werden zugrunde gehen, eine Reihe der besten Gemälde beschädigt werden, — selbst bombensichere Aufbewahrung in Kellern wird ja keineswegs spurlos an ihnen vorübergehen, — eine vielleicht große Anzahl Kirchen werden ihrer ehrwürdigen Schönheit beraubt werden, und manches schöne alte Städtebild wird für immer zerstört sein. Es ist auch wahr, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/448>, abgerufen am 22.12.2024.