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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Niederlage des Ästhetizismus
von Or. Roland Schacht

lie Ästhetenherzen im intellektuellen Europa erzittern jetzt in ängst¬
licher Bewegung. Noch vor acht Wochen durfte man, gestützt auf
die selbsterrungene "enorme" Differenziertheit der eigenen Seele,
auf eine umfassende Kenntnis der Kunst aller Länder und Zeiten,
der bedeutendsten darüber handelnden Bücher nicht zu vergessen,
gestützt auf die logisch erklügelten neuen Ästhetiker und Ethiker sich fast unbestritten
als berufensten Vertreter der höher strebenden Menschheit, als eine Art Kultur-
givfel fühlen und ungestört von neuen epochemachenden Theatergründungen,
Literaturrevolutionen und unerhörten Ausstellungsorgien träumen. Da tauchte
wieder einmal das in den letzten Jahren so häufig umgegangene Gespenst des
Krieges auf. Aber trotzdem es diesmal durch die Plötzlichkeit, mit der es
erschien, erschreckender wirkte denn je, bekam man doch noch eine kurze Galgenfrist,
in der man im Verein mit Humanitätsaposteln, die sich, freilich unberechtigter¬
weise, bereits so manchen schönen Erfolg zugeschrieben hatten, im Verein mit
lebensmüden Ethikern und eifernden sogenannten Kulturkämpfern wenigstens
noch mit beschwörend erhobenen Händen gegen jeden Krieg protestieren konnte.
Dann aber flogen von allen Seiten wie Brandraketen die Kriegserklärungen
auf und im Nu stand der ganze Friedensbau der Kulturbegriffe in Flammen.
Und dann zeigte sich auf einmal, was niemand geglaubt hatte und was in
kein Ästhetenprogramm passen wollte: dieser Krieg war mehr als ein gruseliges
Gespenst, war ein Wesen von Fleisch und Blut, das mit höchst brutalen Fäusten
den Vertreter der Menschheit von seinem Gipfelthron herunterriß und ihn, ohne
um geringsten auf die Bedürfnisse und Leiden seiner wohlgepflegten Seele Rücksicht
M nehmen, mitten in die brodelnde Masse hineinwarf, wo in wenigen Tagen,
er, der Eoelmensch, zu einem ganz winzigen unbedeutenden Teile einer ungeheuren
von Männern her Tat gelenkten Maschinerie wurde. Da zeigte sich denn
lahlings, daß die sublimsten Gedanken nicht soviel wert waren, wie ein Trunk
Wasser, daß die Sorge um einen abgerissenen Knopf oder einen drückenden
Stiefel sehr viel wichtiger war, als die feinsten Beobachtungen über das Ver¬
halten der menschlichen Psyche bei Gewaltmärschen, ja daß der ganze so




Die Niederlage des Ästhetizismus
von Or. Roland Schacht

lie Ästhetenherzen im intellektuellen Europa erzittern jetzt in ängst¬
licher Bewegung. Noch vor acht Wochen durfte man, gestützt auf
die selbsterrungene „enorme" Differenziertheit der eigenen Seele,
auf eine umfassende Kenntnis der Kunst aller Länder und Zeiten,
der bedeutendsten darüber handelnden Bücher nicht zu vergessen,
gestützt auf die logisch erklügelten neuen Ästhetiker und Ethiker sich fast unbestritten
als berufensten Vertreter der höher strebenden Menschheit, als eine Art Kultur-
givfel fühlen und ungestört von neuen epochemachenden Theatergründungen,
Literaturrevolutionen und unerhörten Ausstellungsorgien träumen. Da tauchte
wieder einmal das in den letzten Jahren so häufig umgegangene Gespenst des
Krieges auf. Aber trotzdem es diesmal durch die Plötzlichkeit, mit der es
erschien, erschreckender wirkte denn je, bekam man doch noch eine kurze Galgenfrist,
in der man im Verein mit Humanitätsaposteln, die sich, freilich unberechtigter¬
weise, bereits so manchen schönen Erfolg zugeschrieben hatten, im Verein mit
lebensmüden Ethikern und eifernden sogenannten Kulturkämpfern wenigstens
noch mit beschwörend erhobenen Händen gegen jeden Krieg protestieren konnte.
Dann aber flogen von allen Seiten wie Brandraketen die Kriegserklärungen
auf und im Nu stand der ganze Friedensbau der Kulturbegriffe in Flammen.
Und dann zeigte sich auf einmal, was niemand geglaubt hatte und was in
kein Ästhetenprogramm passen wollte: dieser Krieg war mehr als ein gruseliges
Gespenst, war ein Wesen von Fleisch und Blut, das mit höchst brutalen Fäusten
den Vertreter der Menschheit von seinem Gipfelthron herunterriß und ihn, ohne
um geringsten auf die Bedürfnisse und Leiden seiner wohlgepflegten Seele Rücksicht
M nehmen, mitten in die brodelnde Masse hineinwarf, wo in wenigen Tagen,
er, der Eoelmensch, zu einem ganz winzigen unbedeutenden Teile einer ungeheuren
von Männern her Tat gelenkten Maschinerie wurde. Da zeigte sich denn
lahlings, daß die sublimsten Gedanken nicht soviel wert waren, wie ein Trunk
Wasser, daß die Sorge um einen abgerissenen Knopf oder einen drückenden
Stiefel sehr viel wichtiger war, als die feinsten Beobachtungen über das Ver¬
halten der menschlichen Psyche bei Gewaltmärschen, ja daß der ganze so


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[0447] [Abbildung] Die Niederlage des Ästhetizismus von Or. Roland Schacht lie Ästhetenherzen im intellektuellen Europa erzittern jetzt in ängst¬ licher Bewegung. Noch vor acht Wochen durfte man, gestützt auf die selbsterrungene „enorme" Differenziertheit der eigenen Seele, auf eine umfassende Kenntnis der Kunst aller Länder und Zeiten, der bedeutendsten darüber handelnden Bücher nicht zu vergessen, gestützt auf die logisch erklügelten neuen Ästhetiker und Ethiker sich fast unbestritten als berufensten Vertreter der höher strebenden Menschheit, als eine Art Kultur- givfel fühlen und ungestört von neuen epochemachenden Theatergründungen, Literaturrevolutionen und unerhörten Ausstellungsorgien träumen. Da tauchte wieder einmal das in den letzten Jahren so häufig umgegangene Gespenst des Krieges auf. Aber trotzdem es diesmal durch die Plötzlichkeit, mit der es erschien, erschreckender wirkte denn je, bekam man doch noch eine kurze Galgenfrist, in der man im Verein mit Humanitätsaposteln, die sich, freilich unberechtigter¬ weise, bereits so manchen schönen Erfolg zugeschrieben hatten, im Verein mit lebensmüden Ethikern und eifernden sogenannten Kulturkämpfern wenigstens noch mit beschwörend erhobenen Händen gegen jeden Krieg protestieren konnte. Dann aber flogen von allen Seiten wie Brandraketen die Kriegserklärungen auf und im Nu stand der ganze Friedensbau der Kulturbegriffe in Flammen. Und dann zeigte sich auf einmal, was niemand geglaubt hatte und was in kein Ästhetenprogramm passen wollte: dieser Krieg war mehr als ein gruseliges Gespenst, war ein Wesen von Fleisch und Blut, das mit höchst brutalen Fäusten den Vertreter der Menschheit von seinem Gipfelthron herunterriß und ihn, ohne um geringsten auf die Bedürfnisse und Leiden seiner wohlgepflegten Seele Rücksicht M nehmen, mitten in die brodelnde Masse hineinwarf, wo in wenigen Tagen, er, der Eoelmensch, zu einem ganz winzigen unbedeutenden Teile einer ungeheuren von Männern her Tat gelenkten Maschinerie wurde. Da zeigte sich denn lahlings, daß die sublimsten Gedanken nicht soviel wert waren, wie ein Trunk Wasser, daß die Sorge um einen abgerissenen Knopf oder einen drückenden Stiefel sehr viel wichtiger war, als die feinsten Beobachtungen über das Ver¬ halten der menschlichen Psyche bei Gewaltmärschen, ja daß der ganze so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/447>, abgerufen am 28.07.2024.