Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Englische Politik

sperre. Waren doch damals Preußen, Österreich, Rußland noch reine Agrar-
staaten, ihr Interesse am Seehandel also gering. Begreiflich, daß die Völker
in dem unmittelbaren Urheber des sich türmenden Elends auch den allein
Schuldigen sahen. In England vergaß man nicht den Mächtigen gegenüber
immer wieder zu sagen, daß man die Sache der Ordnung gegen die Revolution
verfechte. So verflochten sich die beiderseitigen Interessen zu einem gemeinsamen
Ziel: das Festland wollte seinen Zwingherrn los sein, England seinen einzigen
gefährlichen handelspolitischen Rivalen. Das Ziel wurde unter der tätigen
Mithilfe auch Rußlands erreicht: der dankbare Kontinent flocht England
Lorbeeren über Lorbeeren und häufte die ganze Schuld der vergangenen zwanzig¬
jährigen Kriegszeit auf Napoleons Haupt. Vollständig verstrickt in die eigenen
kleinen Verhältnisse merkte man nicht, daß man für England die Bahn freige¬
macht hatte zur unbestrittenen Herrschaft auf den Meeren. Ja man merkte
nicht einmal, daß England die plötzliche Aufhebung der Kontinentalsperre
durch Überschwemmen von Waren zu Schleuderpreisen derart rücksichtlos aus¬
gebeutet hatte, daß der Kontinent noch auf Jahrzehnte, ja bis in die jüngste
Zeit für eine Fülle von Waren der englischen Industrie geradezu tribut¬
pflichtig wurde. Aus jenen Tagen stammte das immer wieder geschickt
erneuerte Ansehen englischer Fabrikate, das zu beseitigen der deutschen Industrie
so unsägliche Arbeit und Mühe gekostet hat. Wie in diesen Dingen so blieb
auch in der politischen Auffassung des Zeitalters Napoleons des Ersten die von
England wachgerufene und verbreitete Meinung Sieger, so vollständig, daß sie
auch heute noch in unseren Geschichtswerken mit nur unbedeutender Abschwächung
vertreten wird. So findet der krasse Bruch des Völkerrechts Dänemark gegenüber
auch in den neuesten Werken nur eine sehr laue Verurteilung. Die englische
Regierung sandte in der Ansicht, Dänemark werde sich dem Bündnis von Tilsit
anschließen, an den Prinzregenten die Aufforderung, mit England ein Bündnis
einzugehen und als Bürgschaft für sein Wohlverhalten die gesamte Flotte aus¬
liefern. Die Forderung wurde unterstützt durch eine starke Flotte. Der Prinz¬
regent lehnte ab und der englische Admiral bombardierte Kopenhagen, die
Hauptstadt eines Landes, mit dem England im Frieden lebte. Wenige Tage
nach Beginn der Beschießung mußte die ganze dänische Flotte 18 Linienschiffe,
10 Fregatten und 42 kleinere Fahrzeuge ausgeliefert werden. Dieser Überfall
mitten im Frieden wird noch heute, getreu der englischen Darstellung, als ein
Akt der Notwehr in einer Lebensfrage der Nation entschuldigt. In der Tat
war es ein brutaler Raubzug eines Mächtigen gegen einen Kleinen. Helgoland
wurden bei dieser Gelegenheit von England so nebenbei den Dänen wegge¬
nommen. Nie hatte England einen so furchtbaren Gegner wie Napoleon
den Ersten gehabt, nie war seit dem Beginn seiner Seegeltung seine Existenz
so bedroht gewesen; eben in diesem Kampfe um Sein oder Nichtsein hat es
alle Seiten seiner Politik entfaltet, einer Politik, die nur dem eigenen Vorteil
Existenzberechtigung zuerkennt und der in dessen Interesse jedes Mittel will-


Englische Politik

sperre. Waren doch damals Preußen, Österreich, Rußland noch reine Agrar-
staaten, ihr Interesse am Seehandel also gering. Begreiflich, daß die Völker
in dem unmittelbaren Urheber des sich türmenden Elends auch den allein
Schuldigen sahen. In England vergaß man nicht den Mächtigen gegenüber
immer wieder zu sagen, daß man die Sache der Ordnung gegen die Revolution
verfechte. So verflochten sich die beiderseitigen Interessen zu einem gemeinsamen
Ziel: das Festland wollte seinen Zwingherrn los sein, England seinen einzigen
gefährlichen handelspolitischen Rivalen. Das Ziel wurde unter der tätigen
Mithilfe auch Rußlands erreicht: der dankbare Kontinent flocht England
Lorbeeren über Lorbeeren und häufte die ganze Schuld der vergangenen zwanzig¬
jährigen Kriegszeit auf Napoleons Haupt. Vollständig verstrickt in die eigenen
kleinen Verhältnisse merkte man nicht, daß man für England die Bahn freige¬
macht hatte zur unbestrittenen Herrschaft auf den Meeren. Ja man merkte
nicht einmal, daß England die plötzliche Aufhebung der Kontinentalsperre
durch Überschwemmen von Waren zu Schleuderpreisen derart rücksichtlos aus¬
gebeutet hatte, daß der Kontinent noch auf Jahrzehnte, ja bis in die jüngste
Zeit für eine Fülle von Waren der englischen Industrie geradezu tribut¬
pflichtig wurde. Aus jenen Tagen stammte das immer wieder geschickt
erneuerte Ansehen englischer Fabrikate, das zu beseitigen der deutschen Industrie
so unsägliche Arbeit und Mühe gekostet hat. Wie in diesen Dingen so blieb
auch in der politischen Auffassung des Zeitalters Napoleons des Ersten die von
England wachgerufene und verbreitete Meinung Sieger, so vollständig, daß sie
auch heute noch in unseren Geschichtswerken mit nur unbedeutender Abschwächung
vertreten wird. So findet der krasse Bruch des Völkerrechts Dänemark gegenüber
auch in den neuesten Werken nur eine sehr laue Verurteilung. Die englische
Regierung sandte in der Ansicht, Dänemark werde sich dem Bündnis von Tilsit
anschließen, an den Prinzregenten die Aufforderung, mit England ein Bündnis
einzugehen und als Bürgschaft für sein Wohlverhalten die gesamte Flotte aus¬
liefern. Die Forderung wurde unterstützt durch eine starke Flotte. Der Prinz¬
regent lehnte ab und der englische Admiral bombardierte Kopenhagen, die
Hauptstadt eines Landes, mit dem England im Frieden lebte. Wenige Tage
nach Beginn der Beschießung mußte die ganze dänische Flotte 18 Linienschiffe,
10 Fregatten und 42 kleinere Fahrzeuge ausgeliefert werden. Dieser Überfall
mitten im Frieden wird noch heute, getreu der englischen Darstellung, als ein
Akt der Notwehr in einer Lebensfrage der Nation entschuldigt. In der Tat
war es ein brutaler Raubzug eines Mächtigen gegen einen Kleinen. Helgoland
wurden bei dieser Gelegenheit von England so nebenbei den Dänen wegge¬
nommen. Nie hatte England einen so furchtbaren Gegner wie Napoleon
den Ersten gehabt, nie war seit dem Beginn seiner Seegeltung seine Existenz
so bedroht gewesen; eben in diesem Kampfe um Sein oder Nichtsein hat es
alle Seiten seiner Politik entfaltet, einer Politik, die nur dem eigenen Vorteil
Existenzberechtigung zuerkennt und der in dessen Interesse jedes Mittel will-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329097"/>
          <fw type="header" place="top"> Englische Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1226" prev="#ID_1225" next="#ID_1227"> sperre.  Waren doch damals Preußen, Österreich, Rußland noch reine Agrar-<lb/>
staaten, ihr Interesse am Seehandel also gering.  Begreiflich, daß die Völker<lb/>
in dem unmittelbaren Urheber des sich türmenden Elends auch den allein<lb/>
Schuldigen sahen.  In England vergaß man nicht den Mächtigen gegenüber<lb/>
immer wieder zu sagen, daß man die Sache der Ordnung gegen die Revolution<lb/>
verfechte.  So verflochten sich die beiderseitigen Interessen zu einem gemeinsamen<lb/>
Ziel: das Festland wollte seinen Zwingherrn los sein, England seinen einzigen<lb/>
gefährlichen handelspolitischen Rivalen.  Das Ziel wurde unter der tätigen<lb/>
Mithilfe auch Rußlands erreicht: der dankbare Kontinent flocht England<lb/>
Lorbeeren über Lorbeeren und häufte die ganze Schuld der vergangenen zwanzig¬<lb/>
jährigen Kriegszeit auf Napoleons Haupt.  Vollständig verstrickt in die eigenen<lb/>
kleinen Verhältnisse merkte man nicht, daß man für England die Bahn freige¬<lb/>
macht hatte zur unbestrittenen Herrschaft auf den Meeren. Ja man merkte<lb/>
nicht einmal, daß England die plötzliche Aufhebung der Kontinentalsperre<lb/>
durch Überschwemmen von Waren zu Schleuderpreisen derart rücksichtlos aus¬<lb/>
gebeutet hatte, daß der Kontinent noch auf Jahrzehnte, ja bis in die jüngste<lb/>
Zeit für eine Fülle von Waren der englischen Industrie geradezu tribut¬<lb/>
pflichtig wurde.  Aus jenen Tagen stammte das immer wieder geschickt<lb/>
erneuerte Ansehen englischer Fabrikate, das zu beseitigen der deutschen Industrie<lb/>
so unsägliche Arbeit und Mühe gekostet hat.  Wie in diesen Dingen so blieb<lb/>
auch in der politischen Auffassung des Zeitalters Napoleons des Ersten die von<lb/>
England wachgerufene und verbreitete Meinung Sieger, so vollständig, daß sie<lb/>
auch heute noch in unseren Geschichtswerken mit nur unbedeutender Abschwächung<lb/>
vertreten wird.  So findet der krasse Bruch des Völkerrechts Dänemark gegenüber<lb/>
auch in den neuesten Werken nur eine sehr laue Verurteilung.  Die englische<lb/>
Regierung sandte in der Ansicht, Dänemark werde sich dem Bündnis von Tilsit<lb/>
anschließen, an den Prinzregenten die Aufforderung, mit England ein Bündnis<lb/>
einzugehen und als Bürgschaft für sein Wohlverhalten die gesamte Flotte aus¬<lb/>
liefern.  Die Forderung wurde unterstützt durch eine starke Flotte.  Der Prinz¬<lb/>
regent lehnte ab und der englische Admiral bombardierte Kopenhagen, die<lb/>
Hauptstadt eines Landes, mit dem England im Frieden lebte.  Wenige Tage<lb/>
nach Beginn der Beschießung mußte die ganze dänische Flotte 18 Linienschiffe,<lb/>
10 Fregatten und 42 kleinere Fahrzeuge ausgeliefert werden.  Dieser Überfall<lb/>
mitten im Frieden wird noch heute, getreu der englischen Darstellung, als ein<lb/>
Akt der Notwehr in einer Lebensfrage der Nation entschuldigt.  In der Tat<lb/>
war es ein brutaler Raubzug eines Mächtigen gegen einen Kleinen. Helgoland<lb/>
wurden bei dieser Gelegenheit von England so nebenbei den Dänen wegge¬<lb/>
nommen.  Nie hatte England einen so furchtbaren Gegner wie Napoleon<lb/>
den Ersten gehabt, nie war seit dem Beginn seiner Seegeltung seine Existenz<lb/>
so bedroht gewesen; eben in diesem Kampfe um Sein oder Nichtsein hat es<lb/>
alle Seiten seiner Politik entfaltet, einer Politik, die nur dem eigenen Vorteil<lb/>
Existenzberechtigung zuerkennt und der in dessen Interesse jedes Mittel will-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0363] Englische Politik sperre. Waren doch damals Preußen, Österreich, Rußland noch reine Agrar- staaten, ihr Interesse am Seehandel also gering. Begreiflich, daß die Völker in dem unmittelbaren Urheber des sich türmenden Elends auch den allein Schuldigen sahen. In England vergaß man nicht den Mächtigen gegenüber immer wieder zu sagen, daß man die Sache der Ordnung gegen die Revolution verfechte. So verflochten sich die beiderseitigen Interessen zu einem gemeinsamen Ziel: das Festland wollte seinen Zwingherrn los sein, England seinen einzigen gefährlichen handelspolitischen Rivalen. Das Ziel wurde unter der tätigen Mithilfe auch Rußlands erreicht: der dankbare Kontinent flocht England Lorbeeren über Lorbeeren und häufte die ganze Schuld der vergangenen zwanzig¬ jährigen Kriegszeit auf Napoleons Haupt. Vollständig verstrickt in die eigenen kleinen Verhältnisse merkte man nicht, daß man für England die Bahn freige¬ macht hatte zur unbestrittenen Herrschaft auf den Meeren. Ja man merkte nicht einmal, daß England die plötzliche Aufhebung der Kontinentalsperre durch Überschwemmen von Waren zu Schleuderpreisen derart rücksichtlos aus¬ gebeutet hatte, daß der Kontinent noch auf Jahrzehnte, ja bis in die jüngste Zeit für eine Fülle von Waren der englischen Industrie geradezu tribut¬ pflichtig wurde. Aus jenen Tagen stammte das immer wieder geschickt erneuerte Ansehen englischer Fabrikate, das zu beseitigen der deutschen Industrie so unsägliche Arbeit und Mühe gekostet hat. Wie in diesen Dingen so blieb auch in der politischen Auffassung des Zeitalters Napoleons des Ersten die von England wachgerufene und verbreitete Meinung Sieger, so vollständig, daß sie auch heute noch in unseren Geschichtswerken mit nur unbedeutender Abschwächung vertreten wird. So findet der krasse Bruch des Völkerrechts Dänemark gegenüber auch in den neuesten Werken nur eine sehr laue Verurteilung. Die englische Regierung sandte in der Ansicht, Dänemark werde sich dem Bündnis von Tilsit anschließen, an den Prinzregenten die Aufforderung, mit England ein Bündnis einzugehen und als Bürgschaft für sein Wohlverhalten die gesamte Flotte aus¬ liefern. Die Forderung wurde unterstützt durch eine starke Flotte. Der Prinz¬ regent lehnte ab und der englische Admiral bombardierte Kopenhagen, die Hauptstadt eines Landes, mit dem England im Frieden lebte. Wenige Tage nach Beginn der Beschießung mußte die ganze dänische Flotte 18 Linienschiffe, 10 Fregatten und 42 kleinere Fahrzeuge ausgeliefert werden. Dieser Überfall mitten im Frieden wird noch heute, getreu der englischen Darstellung, als ein Akt der Notwehr in einer Lebensfrage der Nation entschuldigt. In der Tat war es ein brutaler Raubzug eines Mächtigen gegen einen Kleinen. Helgoland wurden bei dieser Gelegenheit von England so nebenbei den Dänen wegge¬ nommen. Nie hatte England einen so furchtbaren Gegner wie Napoleon den Ersten gehabt, nie war seit dem Beginn seiner Seegeltung seine Existenz so bedroht gewesen; eben in diesem Kampfe um Sein oder Nichtsein hat es alle Seiten seiner Politik entfaltet, einer Politik, die nur dem eigenen Vorteil Existenzberechtigung zuerkennt und der in dessen Interesse jedes Mittel will-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/363
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/363>, abgerufen am 22.12.2024.