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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie

hineingestellt wird. Die beste Definition für die Gesellschaft ist noch heute die¬
jenige, die schon der Berliner Philosoph Wilhelm Dilthey gegeben hat: Gesell¬
schaft ist eine Gruppe von Individuen, die im Verhältnis der Wechselwirkung
zueinander stehen. Diese Wechselwirkungen erzeugen nun dauernde Verhältnisse
und Gebilde, es entstehen Verhältnisse wie diejenigen der Unterordnung oder
der Solidarität, Gebilde wie diejenigen der Familie und des Staates einerseits,
des Rechts oder der Religion anderseits. Alle von uns genannten vier Problem¬
gruppen haben es daher teils mit der Gesellschaft selbst, teils mit ihren Er¬
zeugnissen zu tun, und so können wir sagen: die Soziologie (in dem von
uns begrenzten Sinne) ist die Lehre von den Wechselwirkungen unter den
Menschen und von ihren Erzeugnissen. Man könnte auch an Bezeichnungen denken
wie induktive Kulturwissenschaft oder Milieuwissenschaft oder Wissenschaft vom
objektiven Geist, aber man würde damit jedesmal nur einen Teil des Gemeinten
treffen. Die einschlägigen Probleme sind stückweise schon seit alter Zeit bald
von diesem, bald von jenem Denker behandelt worden, aber freilich in durchaus
früher deduktiven und konstruktiven Sinne. Demgemäß hat man diese Erörterungen
durchweg der Geschichtsphilosophie zugerechnet. Heute aber kommt alles darauf
an und geht eine große Bewegung darauf aus, diese deduktive durch eine
induktive BeHandlungsweise zu ersetzen, die von den Tatsachen des Lebens und
von den Ergebnissen der einzelnen Geisteswissenschaften ausgeht und allmählich
zu allgemeinen Sätzen aufsteigt. Wenn noch heute immer wieder neue "Systeme"
der Soziologie erscheinen oder ins Deutsche übersetzt werden, die alle Probleme
durch ein Prinzip zu lösen unternehmen, so kann der Laie vor solchen Büchern
nicht dringend genug gewarnt werden: sie repräsentieren nicht die neue, sondern
die alte Phase der Soziologie. Es ist ein dringendes Bedürfnis vorhanden
für die Ausgestaltung der Soziologie zu einer erfahrungsmäßig begründeten
Wissenschaft.

Denn die Soziologie (das Wort hier wieder im weiteren Sinne genommen)
wurzelt in den tiefsten Kräften unserer Zeit. Die obenerwähnte Nachdrücklich¬
keit, mit der die Soziologie sich selbst bei uns in Deutschland immer mehr zur
Geltung bringt, wo die Abneigung gegen den Dilettantismus und das Dringen
auf wissenschaftliche Gründlichkeit innerhalb der Gelehrtenwelt vielleicht besonders
stark entwickelt ist, ist ein unwiderleglicher Beweis dafür. Diese treibenden
Kräfte der soziologischen Bewegung haben vorzüglich drei Quellen.

Die erste ist die Tatsache des Milieus. Sie ist bekanntlich erst im vorigen
Jahrhundert gleichsam entdeckt worden und seitdem in das allgemeine Denken
übergegangen. Wir wissen heute, wie ein und derselbe Mensch in verschiedenen
Kreisen ein ganz verschiedenes Wesen bekundet und sich ganz verschieden ent¬
wickelt; wir wissen auch, wie die im wesentlichen jedenfalls gleiche menschliche
Natur in verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen im künstlerischen Auf.
fassen, im religiösen Vorstellen und im sittlichen Urteilen sich ganz verschieden
entfaltet hat. Wir haben dadurch einen ganz veränderten Begriff von der


Soziologie

hineingestellt wird. Die beste Definition für die Gesellschaft ist noch heute die¬
jenige, die schon der Berliner Philosoph Wilhelm Dilthey gegeben hat: Gesell¬
schaft ist eine Gruppe von Individuen, die im Verhältnis der Wechselwirkung
zueinander stehen. Diese Wechselwirkungen erzeugen nun dauernde Verhältnisse
und Gebilde, es entstehen Verhältnisse wie diejenigen der Unterordnung oder
der Solidarität, Gebilde wie diejenigen der Familie und des Staates einerseits,
des Rechts oder der Religion anderseits. Alle von uns genannten vier Problem¬
gruppen haben es daher teils mit der Gesellschaft selbst, teils mit ihren Er¬
zeugnissen zu tun, und so können wir sagen: die Soziologie (in dem von
uns begrenzten Sinne) ist die Lehre von den Wechselwirkungen unter den
Menschen und von ihren Erzeugnissen. Man könnte auch an Bezeichnungen denken
wie induktive Kulturwissenschaft oder Milieuwissenschaft oder Wissenschaft vom
objektiven Geist, aber man würde damit jedesmal nur einen Teil des Gemeinten
treffen. Die einschlägigen Probleme sind stückweise schon seit alter Zeit bald
von diesem, bald von jenem Denker behandelt worden, aber freilich in durchaus
früher deduktiven und konstruktiven Sinne. Demgemäß hat man diese Erörterungen
durchweg der Geschichtsphilosophie zugerechnet. Heute aber kommt alles darauf
an und geht eine große Bewegung darauf aus, diese deduktive durch eine
induktive BeHandlungsweise zu ersetzen, die von den Tatsachen des Lebens und
von den Ergebnissen der einzelnen Geisteswissenschaften ausgeht und allmählich
zu allgemeinen Sätzen aufsteigt. Wenn noch heute immer wieder neue „Systeme"
der Soziologie erscheinen oder ins Deutsche übersetzt werden, die alle Probleme
durch ein Prinzip zu lösen unternehmen, so kann der Laie vor solchen Büchern
nicht dringend genug gewarnt werden: sie repräsentieren nicht die neue, sondern
die alte Phase der Soziologie. Es ist ein dringendes Bedürfnis vorhanden
für die Ausgestaltung der Soziologie zu einer erfahrungsmäßig begründeten
Wissenschaft.

Denn die Soziologie (das Wort hier wieder im weiteren Sinne genommen)
wurzelt in den tiefsten Kräften unserer Zeit. Die obenerwähnte Nachdrücklich¬
keit, mit der die Soziologie sich selbst bei uns in Deutschland immer mehr zur
Geltung bringt, wo die Abneigung gegen den Dilettantismus und das Dringen
auf wissenschaftliche Gründlichkeit innerhalb der Gelehrtenwelt vielleicht besonders
stark entwickelt ist, ist ein unwiderleglicher Beweis dafür. Diese treibenden
Kräfte der soziologischen Bewegung haben vorzüglich drei Quellen.

Die erste ist die Tatsache des Milieus. Sie ist bekanntlich erst im vorigen
Jahrhundert gleichsam entdeckt worden und seitdem in das allgemeine Denken
übergegangen. Wir wissen heute, wie ein und derselbe Mensch in verschiedenen
Kreisen ein ganz verschiedenes Wesen bekundet und sich ganz verschieden ent¬
wickelt; wir wissen auch, wie die im wesentlichen jedenfalls gleiche menschliche
Natur in verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen im künstlerischen Auf.
fassen, im religiösen Vorstellen und im sittlichen Urteilen sich ganz verschieden
entfaltet hat. Wir haben dadurch einen ganz veränderten Begriff von der


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[0345] Soziologie hineingestellt wird. Die beste Definition für die Gesellschaft ist noch heute die¬ jenige, die schon der Berliner Philosoph Wilhelm Dilthey gegeben hat: Gesell¬ schaft ist eine Gruppe von Individuen, die im Verhältnis der Wechselwirkung zueinander stehen. Diese Wechselwirkungen erzeugen nun dauernde Verhältnisse und Gebilde, es entstehen Verhältnisse wie diejenigen der Unterordnung oder der Solidarität, Gebilde wie diejenigen der Familie und des Staates einerseits, des Rechts oder der Religion anderseits. Alle von uns genannten vier Problem¬ gruppen haben es daher teils mit der Gesellschaft selbst, teils mit ihren Er¬ zeugnissen zu tun, und so können wir sagen: die Soziologie (in dem von uns begrenzten Sinne) ist die Lehre von den Wechselwirkungen unter den Menschen und von ihren Erzeugnissen. Man könnte auch an Bezeichnungen denken wie induktive Kulturwissenschaft oder Milieuwissenschaft oder Wissenschaft vom objektiven Geist, aber man würde damit jedesmal nur einen Teil des Gemeinten treffen. Die einschlägigen Probleme sind stückweise schon seit alter Zeit bald von diesem, bald von jenem Denker behandelt worden, aber freilich in durchaus früher deduktiven und konstruktiven Sinne. Demgemäß hat man diese Erörterungen durchweg der Geschichtsphilosophie zugerechnet. Heute aber kommt alles darauf an und geht eine große Bewegung darauf aus, diese deduktive durch eine induktive BeHandlungsweise zu ersetzen, die von den Tatsachen des Lebens und von den Ergebnissen der einzelnen Geisteswissenschaften ausgeht und allmählich zu allgemeinen Sätzen aufsteigt. Wenn noch heute immer wieder neue „Systeme" der Soziologie erscheinen oder ins Deutsche übersetzt werden, die alle Probleme durch ein Prinzip zu lösen unternehmen, so kann der Laie vor solchen Büchern nicht dringend genug gewarnt werden: sie repräsentieren nicht die neue, sondern die alte Phase der Soziologie. Es ist ein dringendes Bedürfnis vorhanden für die Ausgestaltung der Soziologie zu einer erfahrungsmäßig begründeten Wissenschaft. Denn die Soziologie (das Wort hier wieder im weiteren Sinne genommen) wurzelt in den tiefsten Kräften unserer Zeit. Die obenerwähnte Nachdrücklich¬ keit, mit der die Soziologie sich selbst bei uns in Deutschland immer mehr zur Geltung bringt, wo die Abneigung gegen den Dilettantismus und das Dringen auf wissenschaftliche Gründlichkeit innerhalb der Gelehrtenwelt vielleicht besonders stark entwickelt ist, ist ein unwiderleglicher Beweis dafür. Diese treibenden Kräfte der soziologischen Bewegung haben vorzüglich drei Quellen. Die erste ist die Tatsache des Milieus. Sie ist bekanntlich erst im vorigen Jahrhundert gleichsam entdeckt worden und seitdem in das allgemeine Denken übergegangen. Wir wissen heute, wie ein und derselbe Mensch in verschiedenen Kreisen ein ganz verschiedenes Wesen bekundet und sich ganz verschieden ent¬ wickelt; wir wissen auch, wie die im wesentlichen jedenfalls gleiche menschliche Natur in verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen im künstlerischen Auf. fassen, im religiösen Vorstellen und im sittlichen Urteilen sich ganz verschieden entfaltet hat. Wir haben dadurch einen ganz veränderten Begriff von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/345>, abgerufen am 01.09.2024.