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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie

diejenigen Untersuchungen aus, die sich auf die leibliche Seite des Menschen
oder menschlicher Gruppen beziehen, also alles, was ins Gebiet der Rassen¬
biologie und Rassenhvgiene gehört. Desgleichen sehen wir ab von allen bis
jetzt -- und wahrscheinlich auch noch auf lange Zeit -- recht unfertigen Unter¬
suchungen, die sich auf das Wesen und die spezifische Begabung der verschiedenen
Rassen beziehen. Weiter schließen wir -- wenigstens vorläufig noch, später
müssen wir diese Einschränkung zum Teil wieder aufheben -- alle praktischen
Fragen aus, die ins Gebiet der Sozialpolitik, der praktischen Reformen der
Gesellschaft usw. gehören. Nicht ganz selten wird auch bei der Beschreibung der
Kultur eines Stammes unter der Soziologie dessen gesamte geistige und
gesellschaftliche Kultur in Gegensatz zu seiner materiellen verstanden -- ein Sprach¬
gebrauch, dessen Beseitigung sehr wünschenswert ist, weil bei ihm nichts von
derjenigen Gemeinsamkeit vorhanden ist, die doch die übrigen Bedeutungen
dieses Wortes wenigstens einigermaßen zusammenschließt. -- Was bleibt nach
diesen Ausscheidungen noch übrig? Es sind vor allem vier Gruppen, von
Problemen, die sich auf Tatsachen teils der menschlichen Gesellschaft, teils
der Kultur beziehen. Zunächst kommen in Betracht die Kräfte, die das Leben
der Gesellschaft bestimmen, wie die Nachahmung, die Mode, die Autorität und
Unterordnung, der Zwang usw. Eine zweite Gruppe von Fragen bezieht sich
auf die Kräfte, welche das geschichtliche Leben bestimmen. Hier handelt es sich
darum, ob der einzelne oder ob die Masse maßgebend ist, welchen Einfluß die
wirtschaftlichen Zustände und welchen die Ideen besitzen usw. Eng damit
verknüpft ist eine dritte Gruppe von Problemen; sie bezieht sich auf den Zusamen-
hang der einzelnen Kulturgüter untereinander, also insbesondere darauf, wie
weit die einzelnen Kulturgüter wie etwa Kunst oder Religion sich völlig selbst¬
ständig gestalten können und ob im entgegengesetzten Fall die geistigen Zustände
oder die gesellschaftlichen oder die wirtschaftlichen Verhältnisse die Führung
besitzen. Endlich gehört hierher noch eine vierte Gruppe von Fragen: gibt es
einheitliche Gesetze der Entwicklung, gibt es überall wiederkehrende Stufen teils
der gesamten Kultur, teils der einzelnen Kulturgüter?

Lassen sich diese vier verschiedenen Gruppen von Problemen nun zu einer
inneren Einheit im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin zusammenfassen?
Das ist in der Tat möglich. Alle beziehen sich, wie schon gesagt, teils auf die
Gesellschaft, teils auf die Kultur. Diese beiden aber hängen wieder eng unter¬
einander zusammen. Denn Kulturgebilde wie Recht, Religion, Staat usw. sind
keine selbständigen Wesenheiten für sich, sondern bedürfen eines Substrates,
durch das sie erhalten, betätigt und gewandelt werden. Dieses Substrat aber
kann nicht der einzelne Mensch für sich sein, da dieser bei verschiedenen Völkern
und zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene religiöse, sittliche und rechtliche
Anschauungen hat, sondern nur die Gesamtheit, oder, wie wir auch sagen können,
die Gesellschaft. Innerhalb der Gesellschaft spielen sich alle jene Beeinflussungen
ab, durch die der Einzelne in den Zusammenhang der Kultur seines Volkes


Soziologie

diejenigen Untersuchungen aus, die sich auf die leibliche Seite des Menschen
oder menschlicher Gruppen beziehen, also alles, was ins Gebiet der Rassen¬
biologie und Rassenhvgiene gehört. Desgleichen sehen wir ab von allen bis
jetzt — und wahrscheinlich auch noch auf lange Zeit — recht unfertigen Unter¬
suchungen, die sich auf das Wesen und die spezifische Begabung der verschiedenen
Rassen beziehen. Weiter schließen wir — wenigstens vorläufig noch, später
müssen wir diese Einschränkung zum Teil wieder aufheben — alle praktischen
Fragen aus, die ins Gebiet der Sozialpolitik, der praktischen Reformen der
Gesellschaft usw. gehören. Nicht ganz selten wird auch bei der Beschreibung der
Kultur eines Stammes unter der Soziologie dessen gesamte geistige und
gesellschaftliche Kultur in Gegensatz zu seiner materiellen verstanden — ein Sprach¬
gebrauch, dessen Beseitigung sehr wünschenswert ist, weil bei ihm nichts von
derjenigen Gemeinsamkeit vorhanden ist, die doch die übrigen Bedeutungen
dieses Wortes wenigstens einigermaßen zusammenschließt. — Was bleibt nach
diesen Ausscheidungen noch übrig? Es sind vor allem vier Gruppen, von
Problemen, die sich auf Tatsachen teils der menschlichen Gesellschaft, teils
der Kultur beziehen. Zunächst kommen in Betracht die Kräfte, die das Leben
der Gesellschaft bestimmen, wie die Nachahmung, die Mode, die Autorität und
Unterordnung, der Zwang usw. Eine zweite Gruppe von Fragen bezieht sich
auf die Kräfte, welche das geschichtliche Leben bestimmen. Hier handelt es sich
darum, ob der einzelne oder ob die Masse maßgebend ist, welchen Einfluß die
wirtschaftlichen Zustände und welchen die Ideen besitzen usw. Eng damit
verknüpft ist eine dritte Gruppe von Problemen; sie bezieht sich auf den Zusamen-
hang der einzelnen Kulturgüter untereinander, also insbesondere darauf, wie
weit die einzelnen Kulturgüter wie etwa Kunst oder Religion sich völlig selbst¬
ständig gestalten können und ob im entgegengesetzten Fall die geistigen Zustände
oder die gesellschaftlichen oder die wirtschaftlichen Verhältnisse die Führung
besitzen. Endlich gehört hierher noch eine vierte Gruppe von Fragen: gibt es
einheitliche Gesetze der Entwicklung, gibt es überall wiederkehrende Stufen teils
der gesamten Kultur, teils der einzelnen Kulturgüter?

Lassen sich diese vier verschiedenen Gruppen von Problemen nun zu einer
inneren Einheit im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin zusammenfassen?
Das ist in der Tat möglich. Alle beziehen sich, wie schon gesagt, teils auf die
Gesellschaft, teils auf die Kultur. Diese beiden aber hängen wieder eng unter¬
einander zusammen. Denn Kulturgebilde wie Recht, Religion, Staat usw. sind
keine selbständigen Wesenheiten für sich, sondern bedürfen eines Substrates,
durch das sie erhalten, betätigt und gewandelt werden. Dieses Substrat aber
kann nicht der einzelne Mensch für sich sein, da dieser bei verschiedenen Völkern
und zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene religiöse, sittliche und rechtliche
Anschauungen hat, sondern nur die Gesamtheit, oder, wie wir auch sagen können,
die Gesellschaft. Innerhalb der Gesellschaft spielen sich alle jene Beeinflussungen
ab, durch die der Einzelne in den Zusammenhang der Kultur seines Volkes


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[0344] Soziologie diejenigen Untersuchungen aus, die sich auf die leibliche Seite des Menschen oder menschlicher Gruppen beziehen, also alles, was ins Gebiet der Rassen¬ biologie und Rassenhvgiene gehört. Desgleichen sehen wir ab von allen bis jetzt — und wahrscheinlich auch noch auf lange Zeit — recht unfertigen Unter¬ suchungen, die sich auf das Wesen und die spezifische Begabung der verschiedenen Rassen beziehen. Weiter schließen wir — wenigstens vorläufig noch, später müssen wir diese Einschränkung zum Teil wieder aufheben — alle praktischen Fragen aus, die ins Gebiet der Sozialpolitik, der praktischen Reformen der Gesellschaft usw. gehören. Nicht ganz selten wird auch bei der Beschreibung der Kultur eines Stammes unter der Soziologie dessen gesamte geistige und gesellschaftliche Kultur in Gegensatz zu seiner materiellen verstanden — ein Sprach¬ gebrauch, dessen Beseitigung sehr wünschenswert ist, weil bei ihm nichts von derjenigen Gemeinsamkeit vorhanden ist, die doch die übrigen Bedeutungen dieses Wortes wenigstens einigermaßen zusammenschließt. — Was bleibt nach diesen Ausscheidungen noch übrig? Es sind vor allem vier Gruppen, von Problemen, die sich auf Tatsachen teils der menschlichen Gesellschaft, teils der Kultur beziehen. Zunächst kommen in Betracht die Kräfte, die das Leben der Gesellschaft bestimmen, wie die Nachahmung, die Mode, die Autorität und Unterordnung, der Zwang usw. Eine zweite Gruppe von Fragen bezieht sich auf die Kräfte, welche das geschichtliche Leben bestimmen. Hier handelt es sich darum, ob der einzelne oder ob die Masse maßgebend ist, welchen Einfluß die wirtschaftlichen Zustände und welchen die Ideen besitzen usw. Eng damit verknüpft ist eine dritte Gruppe von Problemen; sie bezieht sich auf den Zusamen- hang der einzelnen Kulturgüter untereinander, also insbesondere darauf, wie weit die einzelnen Kulturgüter wie etwa Kunst oder Religion sich völlig selbst¬ ständig gestalten können und ob im entgegengesetzten Fall die geistigen Zustände oder die gesellschaftlichen oder die wirtschaftlichen Verhältnisse die Führung besitzen. Endlich gehört hierher noch eine vierte Gruppe von Fragen: gibt es einheitliche Gesetze der Entwicklung, gibt es überall wiederkehrende Stufen teils der gesamten Kultur, teils der einzelnen Kulturgüter? Lassen sich diese vier verschiedenen Gruppen von Problemen nun zu einer inneren Einheit im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin zusammenfassen? Das ist in der Tat möglich. Alle beziehen sich, wie schon gesagt, teils auf die Gesellschaft, teils auf die Kultur. Diese beiden aber hängen wieder eng unter¬ einander zusammen. Denn Kulturgebilde wie Recht, Religion, Staat usw. sind keine selbständigen Wesenheiten für sich, sondern bedürfen eines Substrates, durch das sie erhalten, betätigt und gewandelt werden. Dieses Substrat aber kann nicht der einzelne Mensch für sich sein, da dieser bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene religiöse, sittliche und rechtliche Anschauungen hat, sondern nur die Gesamtheit, oder, wie wir auch sagen können, die Gesellschaft. Innerhalb der Gesellschaft spielen sich alle jene Beeinflussungen ab, durch die der Einzelne in den Zusammenhang der Kultur seines Volkes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/344>, abgerufen am 22.12.2024.