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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie

menschlichen Natur bekommen; wir haben nämlich lernen müssen, sehr viele
Eigenschaften, die man früher auf die Rechnung dieser Natur schob, den Kräften
der Umwelt zuzuschreiben. Die Aufklärung verstand unter der Natur oder der
natürlichen Ausstattung des Menschen in der Hauptsache alle diejenigen Eigen¬
schaften, die sie bei dem Durchschnittsmenschen ihrer Zeit teils vorfand, teils
vorzufinden glaubte. Insbesondere wurde z. B. das klare logische Denken
zu den angeborenen Eigenschaften des Menschen gerechnet, während wir heute
wissen, daß sich diese besondere Art des Denkens erst mit dem Beginn der Neu¬
zeit im Zusammenhang mit der Ausbildung der Naturwissenschaft entwickelt hat
und daß ihr schon im Mittelalter eine ganz andere Art des Denkens voraus¬
ging. Ebenso ist unsere verfeinerte Art der Erotik ein jüngeres geschichtliches
Gebilde, und dasselbe gilt von allen höheren Gefühls- und Vorstellungskomplexen
auf dem Gebiete der Religion und der Kunst. Kurz, wenn man von der
seelischen Ausstattung des Einzelnen alle historischen Einwirkungen in Abzug
bringt, so bleibt schließlich nichts übrig als eine Reihe rein formaler Anlagen,
insbesondere von Verhaltungsweisen und Willensrichtungen. Würde ein einzelner
Mensch ohne alle Einwirkungen menschlicher Umgebung irgendwo aufwachsen,
so würde er über die geistig höchsten Tiere sich kaum erheben.

Die Entdeckung der Tatsache des Milieus führt nun aber zu weiteren
Problemen. Wenn der einzeln" Mensch in seiner Umgebung wurzelt, dann
gilt dasselbe auch von den geistigen Werken, die er schafft, von seinen Kunst¬
werken, von seinen religiösen Schöpfungen, seiner Weltanschauung. Auch der
einzelne Künstler schafft nicht lediglich aus rein ästhetischen Kräften heraus, die
überall dieselben wären, sondern die Art seines Schaffens hängt ebenfalls von
der ganzen Umwelt ab. Ebenso wird das Rechtsleben eines Volkes sowohl in
der Form der Gesetzgebung wie in der Auslegung der Gesetze nicht allein von
rein formal logischen, überall gleichen Kräften bestimmt, sondern es hängt
ab von dem ganzen rechtschaffenden und rechtsprechenden Menschen und durch
ihn wieder von der gesamten Umwelt, insbesondere von den wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und geistigen Zuständen der Zeit. Eine der Hauptfragen, die
hier entstehen, ist die: wie grenzt sich in der menschlichen Seele das Angeborene
gegenüber dem Erworbenen ab? Gibt es überhaupt angeborene Unterschiede
in der Veranlagung, sei es bei den Individuen sei es bei den Völkern oder
den Geschlechtern, oder sind alle Unterschiede nur aus die Verschiedenheit der
Umwelt zurückzuführen und verbinden sich solche etwaigen angeborenen Unter¬
schiede mit Unterschieden in der leiblichen Ausstattung im Sinne sogenannter
Rassenmerkmale? Ist in entsprechender Weise etwa der Begriff der Entartung
auch auf die angeborene seelische Ausstattung anzuwenden? In einer anderen
Richtung liegt dann die Frage: wie kommt die ganze Beeinflussung des einzelnen
durch seine Umwelt, seine Erziehung durch sie, seine Erhebung auf ihr
kulturelles Niveau zustande? Welches ist der Mechanismus dieser ganzen
Entwicklung?


Soziologie

menschlichen Natur bekommen; wir haben nämlich lernen müssen, sehr viele
Eigenschaften, die man früher auf die Rechnung dieser Natur schob, den Kräften
der Umwelt zuzuschreiben. Die Aufklärung verstand unter der Natur oder der
natürlichen Ausstattung des Menschen in der Hauptsache alle diejenigen Eigen¬
schaften, die sie bei dem Durchschnittsmenschen ihrer Zeit teils vorfand, teils
vorzufinden glaubte. Insbesondere wurde z. B. das klare logische Denken
zu den angeborenen Eigenschaften des Menschen gerechnet, während wir heute
wissen, daß sich diese besondere Art des Denkens erst mit dem Beginn der Neu¬
zeit im Zusammenhang mit der Ausbildung der Naturwissenschaft entwickelt hat
und daß ihr schon im Mittelalter eine ganz andere Art des Denkens voraus¬
ging. Ebenso ist unsere verfeinerte Art der Erotik ein jüngeres geschichtliches
Gebilde, und dasselbe gilt von allen höheren Gefühls- und Vorstellungskomplexen
auf dem Gebiete der Religion und der Kunst. Kurz, wenn man von der
seelischen Ausstattung des Einzelnen alle historischen Einwirkungen in Abzug
bringt, so bleibt schließlich nichts übrig als eine Reihe rein formaler Anlagen,
insbesondere von Verhaltungsweisen und Willensrichtungen. Würde ein einzelner
Mensch ohne alle Einwirkungen menschlicher Umgebung irgendwo aufwachsen,
so würde er über die geistig höchsten Tiere sich kaum erheben.

Die Entdeckung der Tatsache des Milieus führt nun aber zu weiteren
Problemen. Wenn der einzeln« Mensch in seiner Umgebung wurzelt, dann
gilt dasselbe auch von den geistigen Werken, die er schafft, von seinen Kunst¬
werken, von seinen religiösen Schöpfungen, seiner Weltanschauung. Auch der
einzelne Künstler schafft nicht lediglich aus rein ästhetischen Kräften heraus, die
überall dieselben wären, sondern die Art seines Schaffens hängt ebenfalls von
der ganzen Umwelt ab. Ebenso wird das Rechtsleben eines Volkes sowohl in
der Form der Gesetzgebung wie in der Auslegung der Gesetze nicht allein von
rein formal logischen, überall gleichen Kräften bestimmt, sondern es hängt
ab von dem ganzen rechtschaffenden und rechtsprechenden Menschen und durch
ihn wieder von der gesamten Umwelt, insbesondere von den wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und geistigen Zuständen der Zeit. Eine der Hauptfragen, die
hier entstehen, ist die: wie grenzt sich in der menschlichen Seele das Angeborene
gegenüber dem Erworbenen ab? Gibt es überhaupt angeborene Unterschiede
in der Veranlagung, sei es bei den Individuen sei es bei den Völkern oder
den Geschlechtern, oder sind alle Unterschiede nur aus die Verschiedenheit der
Umwelt zurückzuführen und verbinden sich solche etwaigen angeborenen Unter¬
schiede mit Unterschieden in der leiblichen Ausstattung im Sinne sogenannter
Rassenmerkmale? Ist in entsprechender Weise etwa der Begriff der Entartung
auch auf die angeborene seelische Ausstattung anzuwenden? In einer anderen
Richtung liegt dann die Frage: wie kommt die ganze Beeinflussung des einzelnen
durch seine Umwelt, seine Erziehung durch sie, seine Erhebung auf ihr
kulturelles Niveau zustande? Welches ist der Mechanismus dieser ganzen
Entwicklung?


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[0346] Soziologie menschlichen Natur bekommen; wir haben nämlich lernen müssen, sehr viele Eigenschaften, die man früher auf die Rechnung dieser Natur schob, den Kräften der Umwelt zuzuschreiben. Die Aufklärung verstand unter der Natur oder der natürlichen Ausstattung des Menschen in der Hauptsache alle diejenigen Eigen¬ schaften, die sie bei dem Durchschnittsmenschen ihrer Zeit teils vorfand, teils vorzufinden glaubte. Insbesondere wurde z. B. das klare logische Denken zu den angeborenen Eigenschaften des Menschen gerechnet, während wir heute wissen, daß sich diese besondere Art des Denkens erst mit dem Beginn der Neu¬ zeit im Zusammenhang mit der Ausbildung der Naturwissenschaft entwickelt hat und daß ihr schon im Mittelalter eine ganz andere Art des Denkens voraus¬ ging. Ebenso ist unsere verfeinerte Art der Erotik ein jüngeres geschichtliches Gebilde, und dasselbe gilt von allen höheren Gefühls- und Vorstellungskomplexen auf dem Gebiete der Religion und der Kunst. Kurz, wenn man von der seelischen Ausstattung des Einzelnen alle historischen Einwirkungen in Abzug bringt, so bleibt schließlich nichts übrig als eine Reihe rein formaler Anlagen, insbesondere von Verhaltungsweisen und Willensrichtungen. Würde ein einzelner Mensch ohne alle Einwirkungen menschlicher Umgebung irgendwo aufwachsen, so würde er über die geistig höchsten Tiere sich kaum erheben. Die Entdeckung der Tatsache des Milieus führt nun aber zu weiteren Problemen. Wenn der einzeln« Mensch in seiner Umgebung wurzelt, dann gilt dasselbe auch von den geistigen Werken, die er schafft, von seinen Kunst¬ werken, von seinen religiösen Schöpfungen, seiner Weltanschauung. Auch der einzelne Künstler schafft nicht lediglich aus rein ästhetischen Kräften heraus, die überall dieselben wären, sondern die Art seines Schaffens hängt ebenfalls von der ganzen Umwelt ab. Ebenso wird das Rechtsleben eines Volkes sowohl in der Form der Gesetzgebung wie in der Auslegung der Gesetze nicht allein von rein formal logischen, überall gleichen Kräften bestimmt, sondern es hängt ab von dem ganzen rechtschaffenden und rechtsprechenden Menschen und durch ihn wieder von der gesamten Umwelt, insbesondere von den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistigen Zuständen der Zeit. Eine der Hauptfragen, die hier entstehen, ist die: wie grenzt sich in der menschlichen Seele das Angeborene gegenüber dem Erworbenen ab? Gibt es überhaupt angeborene Unterschiede in der Veranlagung, sei es bei den Individuen sei es bei den Völkern oder den Geschlechtern, oder sind alle Unterschiede nur aus die Verschiedenheit der Umwelt zurückzuführen und verbinden sich solche etwaigen angeborenen Unter¬ schiede mit Unterschieden in der leiblichen Ausstattung im Sinne sogenannter Rassenmerkmale? Ist in entsprechender Weise etwa der Begriff der Entartung auch auf die angeborene seelische Ausstattung anzuwenden? In einer anderen Richtung liegt dann die Frage: wie kommt die ganze Beeinflussung des einzelnen durch seine Umwelt, seine Erziehung durch sie, seine Erhebung auf ihr kulturelles Niveau zustande? Welches ist der Mechanismus dieser ganzen Entwicklung?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/346>, abgerufen am 28.07.2024.