Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.Die russische Armee als Gegner Das glückliche Endergebnis des Krieges hat die ernsten Lehren, die er Die russische Armee als Gegner Das glückliche Endergebnis des Krieges hat die ernsten Lehren, die er <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0289" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329023"/> <fw type="header" place="top"> Die russische Armee als Gegner</fw><lb/> <p xml:id="ID_1003" next="#ID_1004"> Das glückliche Endergebnis des Krieges hat die ernsten Lehren, die er<lb/> zeitigte, im russischen Heere bald wieder in Vergessenheit geraten lassen. Die<lb/> Friedensjahre zwischen diesem Kriege im nahen und dem von 1904/1905<lb/> im fernen Orient zelligem einen weiteren Ausbau der Armee und zahlreiche<lb/> Reformen. Auch die Manöver wurden in wachsendem Maße entwickelt; gleich¬<lb/> wohl äußert General Kuropatkin in seinem Rechenschaftsbericht über den mand-<lb/> churischen Krieg: „Leider - hatte alles, was ich in den Manövern wahrnahm,<lb/> mich in der Überzeugung bestärkt, daß die taktische Durchbildung unserer Truppen,<lb/> besonders der höheren Führer vom Regimentskommandeur aufwärts, noch<lb/> unzureichend und nicht einheitlich war." Wesentliche Fortschritte auf dem Ge¬<lb/> biete des taktischen Könnens sind nicht gemacht. Zwar sagt Kuropatkin, die<lb/> Armee habe 1904 unzweifelhaft auf einem höheren taktischen Standpunkt<lb/> gestanden als 1877, gibt aber gleichzeitig zu, daß vieles umgetan geblieben und<lb/> in mancher Hinsicht sogar eine Rückkehr zum alten zu verzeichnen gewesen sei.<lb/> Auch sei die taktische Ausbildung weniger nach den vorhandenen Bestimmungen<lb/> als nach dem Ermessen der Oberkommandierenden der Militärbezirke erfolgt.<lb/> Große Verschiedenheiten wären so auch unvermeidlich gewesen. Theoretisch<lb/> wurden richtige Folgerungen aus den Begebenheiten von Plewna gezogen, vor<lb/> allem von Kuropatkin selber, aber der Glaube an die alles beherrschende Macht<lb/> des heutigen Feuers, die Erkenntnis, daß der Angriff in einem Vortragen des<lb/> Feuers zu bestehen habe, drang nicht durch. „Die Vorstellung von einem<lb/> unaufhaltsamen Vorgehen ohne Abgabe von Feuer, hatte sich leider bei vielen<lb/> Führern festgesetzt . . . Wir verstanden es nicht, einen Angriff durch starkes<lb/> Artillerie- und Jnfanteriefeuer wirksam vorzubereiten." In der Verteidigung<lb/> verfuhr die Armee wesentlich geschickter. Aber auch hierbei wurden die Reserven<lb/> nicht zur Verstärkung des Feuers verwandt, sondern geschlossen, ohne einen<lb/> Schuß zu tun, zum Gegenstoß vorgeführt. Kuropatkin steht in allem diesem<lb/> das Gegenteil vom deutschen Verfahren. General Dragomirows Lehre von der<lb/> ungeschmälerten Bedeutung des Bajonetts behielt die Oberhand, nicht zum<lb/> wenigsten, weil er an den Namen Suworow anknüpfte, der noch heute dem<lb/> Herzen russischer Krieger teuer ist. „Dragomirow hat viel dazu beigetragen,<lb/> daß die alte Richtung von der nahezu alles entscheidenden Bedeutung des<lb/> Bajonetts die Oberhand behielt ... Er stellte die absurde Forderung auf,<lb/> daß die Infanterie sich während der Feuerbälle beim Angriff nicht hinlegen<lb/> solle." Dragomirow mochte erkannt haben, daß eine individualisierende Aus¬<lb/> bildung, wie sie das Schützengefecht fordert, der Natur der russischen Soldaten<lb/> nicht zusagt. Seine Schriften wirkten besonders, weil er das moralische Prinzip<lb/> in so volkstümlich bestechender Weise in den Vordergrund zu stellen wußte. Sie<lb/> klang dem russischen Ohr so schön, diese immer wieder vorgebrachte Weisheit<lb/> von den unübertrefflichen Eigenschaften des russischen Soldaten, von der Unwider¬<lb/> stehlichkeit seines Bajonetts, so schön und — so bequem, denn es fehlte der<lb/> Ansporn zur Weiterarbeit. Eine solche, wie sie im deutschen Heere nach Siegen,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0289]
Die russische Armee als Gegner
Das glückliche Endergebnis des Krieges hat die ernsten Lehren, die er
zeitigte, im russischen Heere bald wieder in Vergessenheit geraten lassen. Die
Friedensjahre zwischen diesem Kriege im nahen und dem von 1904/1905
im fernen Orient zelligem einen weiteren Ausbau der Armee und zahlreiche
Reformen. Auch die Manöver wurden in wachsendem Maße entwickelt; gleich¬
wohl äußert General Kuropatkin in seinem Rechenschaftsbericht über den mand-
churischen Krieg: „Leider - hatte alles, was ich in den Manövern wahrnahm,
mich in der Überzeugung bestärkt, daß die taktische Durchbildung unserer Truppen,
besonders der höheren Führer vom Regimentskommandeur aufwärts, noch
unzureichend und nicht einheitlich war." Wesentliche Fortschritte auf dem Ge¬
biete des taktischen Könnens sind nicht gemacht. Zwar sagt Kuropatkin, die
Armee habe 1904 unzweifelhaft auf einem höheren taktischen Standpunkt
gestanden als 1877, gibt aber gleichzeitig zu, daß vieles umgetan geblieben und
in mancher Hinsicht sogar eine Rückkehr zum alten zu verzeichnen gewesen sei.
Auch sei die taktische Ausbildung weniger nach den vorhandenen Bestimmungen
als nach dem Ermessen der Oberkommandierenden der Militärbezirke erfolgt.
Große Verschiedenheiten wären so auch unvermeidlich gewesen. Theoretisch
wurden richtige Folgerungen aus den Begebenheiten von Plewna gezogen, vor
allem von Kuropatkin selber, aber der Glaube an die alles beherrschende Macht
des heutigen Feuers, die Erkenntnis, daß der Angriff in einem Vortragen des
Feuers zu bestehen habe, drang nicht durch. „Die Vorstellung von einem
unaufhaltsamen Vorgehen ohne Abgabe von Feuer, hatte sich leider bei vielen
Führern festgesetzt . . . Wir verstanden es nicht, einen Angriff durch starkes
Artillerie- und Jnfanteriefeuer wirksam vorzubereiten." In der Verteidigung
verfuhr die Armee wesentlich geschickter. Aber auch hierbei wurden die Reserven
nicht zur Verstärkung des Feuers verwandt, sondern geschlossen, ohne einen
Schuß zu tun, zum Gegenstoß vorgeführt. Kuropatkin steht in allem diesem
das Gegenteil vom deutschen Verfahren. General Dragomirows Lehre von der
ungeschmälerten Bedeutung des Bajonetts behielt die Oberhand, nicht zum
wenigsten, weil er an den Namen Suworow anknüpfte, der noch heute dem
Herzen russischer Krieger teuer ist. „Dragomirow hat viel dazu beigetragen,
daß die alte Richtung von der nahezu alles entscheidenden Bedeutung des
Bajonetts die Oberhand behielt ... Er stellte die absurde Forderung auf,
daß die Infanterie sich während der Feuerbälle beim Angriff nicht hinlegen
solle." Dragomirow mochte erkannt haben, daß eine individualisierende Aus¬
bildung, wie sie das Schützengefecht fordert, der Natur der russischen Soldaten
nicht zusagt. Seine Schriften wirkten besonders, weil er das moralische Prinzip
in so volkstümlich bestechender Weise in den Vordergrund zu stellen wußte. Sie
klang dem russischen Ohr so schön, diese immer wieder vorgebrachte Weisheit
von den unübertrefflichen Eigenschaften des russischen Soldaten, von der Unwider¬
stehlichkeit seines Bajonetts, so schön und — so bequem, denn es fehlte der
Ansporn zur Weiterarbeit. Eine solche, wie sie im deutschen Heere nach Siegen,
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