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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Vom Baedeker und Kunstgenuß auf Reisen

mögliche Hochachtung vor der enormen geistigen Arbeit, die in den kleinen
Bänden aufgespeichert ist, und seit Jahren besitze und benutze ich sast alle Teile
des gesamten Werkes. Wogegen ich mich an dieser Stelle gewandt habe, ist
nicht das Werk selber, sondern eine allerdings weitverbreitete falsche Benutzung
desselben, wobei freilich nicht verschwiegen werden kann, daß manches im Werke
selber diese herbeiführt. Ein Werk wie Baedeker könnte im höchsten Grade
erzieherisch wirken. Es tut das auch, aber oft nach falscher Richtung.
Indem es etwas einseitig die kunsthistorische Betrachtung bevorzugt, allzulange
bei Details und Kuriositäten verweilt und überhaupt zuviel gibt, so daß es
das eigene Sehen des Reisenden zum Teil fast übelflüssig macht, kann das
vortreffliche Werk auch schaden.

Wenn ich mich nicht täusche, tritt in den neuesten Ausgaben in manchem
eine Wandlung ein. So ist überaus lehrreich und anregend die stärkere Be¬
tonung geologischer und morphologischer Betrachtung der Landschaften. Freilich
das Letzte und Tiefste in allem Reisen, die eigene originelle und persönliche
Erfassung von Menschen, Dingen und Ländern, die kann ein Reisehandbuch
nicht lehren. Wohl aber kann es durch falsche Einstellung, durch zu große
Verwöhnung und Hervorhebung unwesentlicher Dinge dem entgegen arbeiten.
Daß das Baedeker zuweilen tut, kann nicht bestritten werden.

Rate ich nun einen anderen Baedeker zu schreiben? Nichts liegt mir
ferner. Ich rate nur jedem, daß er sich freimache von der einseitigen Baedeker¬
perspektive und mit eigenen Augen sehen lernte, und zwar die Welt mit dem
Leben darinnen, nicht aber ein künstlich daraus gemachtes Museum. Ich
möchte das Paradoxon wagen, daß nichts weniger sehenswert ist als die
Sehenswürdigkeiten. Was von einer Reise am tiefsten bleibt, sind doch die
großen Stimmungen, nicht die Einzelheiten. Ich möchte die Wette machen,
daß von all den Reisenden, die die ganze Baedekerastronomie absolviert haben,
die meisten in ein paar Jahren recht wenig wissen von den tausend Details,
die sie im Schweiße ihres Angesichts abgesucht haben. Aber ich bin sicher,
daß, wer immer es erlebt hat, niemals den orangenblütendurchdufteten Morgen
aus der Erinnerung verlieren wird, den man hoch auf der Giralda in Sevillas
lichtblauem Himmel verbracht hat, niemals auch den mystischen Zauber des
Doms von Barcelona vergessen wird, oder den Sonnenaufgang über der rost¬
braunen Heide von Neukaftilien, auch wenn Baedeker davon nichts zu sagen
weiß.




Vom Baedeker und Kunstgenuß auf Reisen

mögliche Hochachtung vor der enormen geistigen Arbeit, die in den kleinen
Bänden aufgespeichert ist, und seit Jahren besitze und benutze ich sast alle Teile
des gesamten Werkes. Wogegen ich mich an dieser Stelle gewandt habe, ist
nicht das Werk selber, sondern eine allerdings weitverbreitete falsche Benutzung
desselben, wobei freilich nicht verschwiegen werden kann, daß manches im Werke
selber diese herbeiführt. Ein Werk wie Baedeker könnte im höchsten Grade
erzieherisch wirken. Es tut das auch, aber oft nach falscher Richtung.
Indem es etwas einseitig die kunsthistorische Betrachtung bevorzugt, allzulange
bei Details und Kuriositäten verweilt und überhaupt zuviel gibt, so daß es
das eigene Sehen des Reisenden zum Teil fast übelflüssig macht, kann das
vortreffliche Werk auch schaden.

Wenn ich mich nicht täusche, tritt in den neuesten Ausgaben in manchem
eine Wandlung ein. So ist überaus lehrreich und anregend die stärkere Be¬
tonung geologischer und morphologischer Betrachtung der Landschaften. Freilich
das Letzte und Tiefste in allem Reisen, die eigene originelle und persönliche
Erfassung von Menschen, Dingen und Ländern, die kann ein Reisehandbuch
nicht lehren. Wohl aber kann es durch falsche Einstellung, durch zu große
Verwöhnung und Hervorhebung unwesentlicher Dinge dem entgegen arbeiten.
Daß das Baedeker zuweilen tut, kann nicht bestritten werden.

Rate ich nun einen anderen Baedeker zu schreiben? Nichts liegt mir
ferner. Ich rate nur jedem, daß er sich freimache von der einseitigen Baedeker¬
perspektive und mit eigenen Augen sehen lernte, und zwar die Welt mit dem
Leben darinnen, nicht aber ein künstlich daraus gemachtes Museum. Ich
möchte das Paradoxon wagen, daß nichts weniger sehenswert ist als die
Sehenswürdigkeiten. Was von einer Reise am tiefsten bleibt, sind doch die
großen Stimmungen, nicht die Einzelheiten. Ich möchte die Wette machen,
daß von all den Reisenden, die die ganze Baedekerastronomie absolviert haben,
die meisten in ein paar Jahren recht wenig wissen von den tausend Details,
die sie im Schweiße ihres Angesichts abgesucht haben. Aber ich bin sicher,
daß, wer immer es erlebt hat, niemals den orangenblütendurchdufteten Morgen
aus der Erinnerung verlieren wird, den man hoch auf der Giralda in Sevillas
lichtblauem Himmel verbracht hat, niemals auch den mystischen Zauber des
Doms von Barcelona vergessen wird, oder den Sonnenaufgang über der rost¬
braunen Heide von Neukaftilien, auch wenn Baedeker davon nichts zu sagen
weiß.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/200>, abgerufen am 27.07.2024.