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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Bücher zur neueren deutschen Literatur

an denen er gemessen werden soll, wiederholt falsch gewählt. Denn Raabes
Treue in der Lebensdarstellung kommt durchaus nicht der Otto Ludwigs
"völlig gleich" (wie S. 65 behauptet wird), und von einem "kristallklaren"
Gestalten (S. 136) kann höchst selten bei ihm die Rede sein. Es ist ein
gewaltiger Irrtum, wenn er seiner "tragisch-großen Gestaltungskraft" nach als
"mächtige Dichtererscheinung" neben Hebbel gestellt, wenn er "unser größter
Erzähler schlechthin" genannt wird (S. 165 f.). Da will mir ein Urteil wie
das von Erich Everth in seiner Broschüre "Wilhelm Raabe" (Xenien-
Vcrlag zu Leipzig) schou eher gefallen: "Als Künstler ist Raabe etwa Storni
kaum gleichzustellen und vielleicht auch Fonttme nicht -- er überragt sie aber
beide als menschliche Gesamterscheinung." Literaturgeschichte ist aber freilich auch
die zuletzt genannte Schrift noch nicht; und die Zeit für eine objektive Darstellung
Raabeschen Wesens ist scheinbar noch nicht da. Zunächst erwarten wir die aus¬
führliche Biographie, an der Wilhelm Brandes arbeiten soll.

Ganz anderes als über Spieros Raabe - Schrift darf man über desselben
Autors großes Werk vom gleichen Jahre sagen: "Detlev von Liliencron,
sein Leben und seine Werke" (erste und zweite Auflage, verlegt bei Schuster u.
Loeffler in Berlin und Leipzig. Mit 68 Bildern) ist ein Buch, bei dem man sich
für das erste beruhigen darf, das auf Jahre hinaus den Deutschen eine gute
Liliencron-Biographie bieten wird. Es ist hier das geleistet, was man zunächst
einmal wünschen durfte: ein für den Dichter Begeisterter, ein genauer Kenner
seiner Persönlichkeit, vertraut mit der Methode biographischer und literar¬
historischer Forschung, hat schnell und glücklich den Mittler zwischen dem Leben
und Schaffen dieses Dichters und seinem Volke abgegeben. ES ist ganz selbst¬
verständlich, daß bei einem so vom Leben hin und her Geworfenen wie
Liliencron nicht jetzt schon jedes Jahr des Daseins in gleich Helles Licht gerückt
werden kann; vielleicht wird manches -- wie die amerikanische Zeit -- immer
halb im Dunkel bleiben. Und Spiero selbst meint, daß aus bestimmten Jahren
bereits jetzt viel zu viel Briefe Liliencrons veröffentlicht sind, die durch Wieder¬
holung nebensächlicher Dinge ein schiefes Bilo liefern. Die Spierosche Bio¬
graphie gibt jedenfalls schon heute ein gutes Gesamtbild des Dichters"), und
ich will ihr keinerlei behagliche Breite zum Vorwurf machen. Aus der nahen
persönlichen Bekanntschaft mit Liliencron hat der Biograph die Fähigkeit an¬
schaulicher Gestaltung gezogen, und man glaubt den Freiherrn von Poggfred
vor sich zu sehen, wenn gelegentlich erzählt wird "von den Poggfred-Träumen,
wie sie jeder kennt, der mit Liliencron über Land ging und dem er dann aus
der Ecke einer kahlen Gaststube, unablässig sprechend, phantasierend, jedem
Schmetterling auf die Flügel schauend, ein Zauberschloß schuf". Es ist eine
ganz andere Sache, wenn in dieser umsichtigen Biographie der Enthusiasmus
auch einmal zu viel sagt, als wenn in jenem räsonnierenden Buch über Raabe



") Erwähnen will ich, daß O- I. Bierbaum den auch von Spiero erwähnten Besuch
Liliencrons bei Wilhelmi Imsen in München bestreitet.
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an denen er gemessen werden soll, wiederholt falsch gewählt. Denn Raabes
Treue in der Lebensdarstellung kommt durchaus nicht der Otto Ludwigs
„völlig gleich" (wie S. 65 behauptet wird), und von einem „kristallklaren"
Gestalten (S. 136) kann höchst selten bei ihm die Rede sein. Es ist ein
gewaltiger Irrtum, wenn er seiner „tragisch-großen Gestaltungskraft" nach als
„mächtige Dichtererscheinung" neben Hebbel gestellt, wenn er „unser größter
Erzähler schlechthin" genannt wird (S. 165 f.). Da will mir ein Urteil wie
das von Erich Everth in seiner Broschüre „Wilhelm Raabe" (Xenien-
Vcrlag zu Leipzig) schou eher gefallen: „Als Künstler ist Raabe etwa Storni
kaum gleichzustellen und vielleicht auch Fonttme nicht — er überragt sie aber
beide als menschliche Gesamterscheinung." Literaturgeschichte ist aber freilich auch
die zuletzt genannte Schrift noch nicht; und die Zeit für eine objektive Darstellung
Raabeschen Wesens ist scheinbar noch nicht da. Zunächst erwarten wir die aus¬
führliche Biographie, an der Wilhelm Brandes arbeiten soll.

Ganz anderes als über Spieros Raabe - Schrift darf man über desselben
Autors großes Werk vom gleichen Jahre sagen: „Detlev von Liliencron,
sein Leben und seine Werke" (erste und zweite Auflage, verlegt bei Schuster u.
Loeffler in Berlin und Leipzig. Mit 68 Bildern) ist ein Buch, bei dem man sich
für das erste beruhigen darf, das auf Jahre hinaus den Deutschen eine gute
Liliencron-Biographie bieten wird. Es ist hier das geleistet, was man zunächst
einmal wünschen durfte: ein für den Dichter Begeisterter, ein genauer Kenner
seiner Persönlichkeit, vertraut mit der Methode biographischer und literar¬
historischer Forschung, hat schnell und glücklich den Mittler zwischen dem Leben
und Schaffen dieses Dichters und seinem Volke abgegeben. ES ist ganz selbst¬
verständlich, daß bei einem so vom Leben hin und her Geworfenen wie
Liliencron nicht jetzt schon jedes Jahr des Daseins in gleich Helles Licht gerückt
werden kann; vielleicht wird manches — wie die amerikanische Zeit — immer
halb im Dunkel bleiben. Und Spiero selbst meint, daß aus bestimmten Jahren
bereits jetzt viel zu viel Briefe Liliencrons veröffentlicht sind, die durch Wieder¬
holung nebensächlicher Dinge ein schiefes Bilo liefern. Die Spierosche Bio¬
graphie gibt jedenfalls schon heute ein gutes Gesamtbild des Dichters"), und
ich will ihr keinerlei behagliche Breite zum Vorwurf machen. Aus der nahen
persönlichen Bekanntschaft mit Liliencron hat der Biograph die Fähigkeit an¬
schaulicher Gestaltung gezogen, und man glaubt den Freiherrn von Poggfred
vor sich zu sehen, wenn gelegentlich erzählt wird „von den Poggfred-Träumen,
wie sie jeder kennt, der mit Liliencron über Land ging und dem er dann aus
der Ecke einer kahlen Gaststube, unablässig sprechend, phantasierend, jedem
Schmetterling auf die Flügel schauend, ein Zauberschloß schuf". Es ist eine
ganz andere Sache, wenn in dieser umsichtigen Biographie der Enthusiasmus
auch einmal zu viel sagt, als wenn in jenem räsonnierenden Buch über Raabe



") Erwähnen will ich, daß O- I. Bierbaum den auch von Spiero erwähnten Besuch
Liliencrons bei Wilhelmi Imsen in München bestreitet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/148>, abgerufen am 27.07.2024.