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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Bücher zur neueren deutschen Literatur

längeren Jahren eine Art unwissenschaftlicher Literaturgeschichte sehr fröhlich
gediehen. Die Fachgelehrsamkcit ist in der Regel zu vornehm, darstellen zu
wollen, sie veranlaßt nur lange Reihen von Stil- und Quellenuntersuchungen,
läßt die Reimkunst erforschen und die Fassungen vergleichen. Selbstverständlich
ist ein Drittel dieser Schriften nützlich, vielleicht auch gut; der gebildete Laie
aber liest keine davon. Er will Bücher, die zusammenfassen, die von jenen
Einzelschriften höchstens die Quintessenz geben. Er hat nun einmal auch das
Bedürfnis, Literatur über Literatur zu lesen, hat es leider viel zu sehr. Und
diesem Bedürfnis kommt die unwissenschaftliche Literaturgeschichte entgegen. Sie
stellt neben die Sammlungen der fachwissenschaftlichen Schriften ganze Reihen
größerer Essays in Buchform, sie schreitet sogar zu großen Darstellungen vor,
die das gesamte Werk, selbst das Leben dieses und jenes neueren Dichters um¬
fassen sollen.

Nun, gelingt das einem Literaturfreund, der nicht zur engeren Zunft
gehört, wirklich, so hat er sich eben als Dilettant einen Platz in der Wissenschaft
errungen. Denn wissenschaftlich sind Werke ja doch nicht, weil sie aus der
Feder oder der Schule dieses oder jenes Universitätsprofessors stammen, sondern
wissenschaftlich ist jede unbestechliche Feststellung der Wahrheit, und wissenschaftlich
bleibt sie auch, wenn der Feststellende obendrein noch schriftstellerisches, dar¬
stellendes Talent hat. Freilich ist die Vereinigung dieser Gaben außerhalb der
Universitätskreise ebenso selten wie innerhalb; und wenn die Fachgelehrsamkeit
unproduktiv genannt werden muß, weil sie sich in Hunderten von Einzelfest¬
stellungen verliert, so ist die Literaturkritik der "Dilettanten" doch auch nicht
eben produktiv zu nennen, denn sie will oft schon mit der Darstellung beginnen,
wenn noch alle Vorbedingungen der Feststellung fehlen und bleibt daher in der
Regel -- unwissenschaftliche Literaturgeschichte.

Durch eine Reihe von literarhistorisch-kritischen Büchern, die zur Besprechung
vorliegen, sind diese Betrachtungen veranlaßt; sie ergeben sich nicht etwa aus
ganz besonders ungewöhnlichen Vorzügen oder Mängeln gerade dieser Schriften,
aber sie bieten -Gesichtspunkte für die Einordnung und Beurteilung der vor¬
liegenden Leistungen.

Wilhelms Raubes Tod hat ein allgemeines Bemühen entfesselt, ihm gerecht
zu werden, dem Volke das rechte Verständnis für ihn zu vermitteln. Die Zeit
oder der Mann, der ihm wirklich gerecht wird, ist aber bisher kaum schon ge¬
kommen, die Aufsätze und Schriften über Raabe drohen ihm vielfach zu schaden,
und zwar deshalb, weil sie ihn allzuoft überschätzen. Ein Rückschlag kann da
sehr leicht kommen, und gerade wer Raabe schätzt, sollte sich hüten, die Tadler
hervorzulocken. So finde ich den liebenswerten deutschen Mann wieder und
wieder überschätzt in Heinrich Spieros Buch "Das Werk Wilhelm
Raabes" (Xenien-Verlag zu Leipzig, 1913). Da gibt es eine Menge
Urteile, denen direkt widersprochen werden muß. Hier ist Raabe viel
zu sehr als Künstler hingestellt (S. 65 und 173), hier werden die Dichter,


Bücher zur neueren deutschen Literatur

längeren Jahren eine Art unwissenschaftlicher Literaturgeschichte sehr fröhlich
gediehen. Die Fachgelehrsamkcit ist in der Regel zu vornehm, darstellen zu
wollen, sie veranlaßt nur lange Reihen von Stil- und Quellenuntersuchungen,
läßt die Reimkunst erforschen und die Fassungen vergleichen. Selbstverständlich
ist ein Drittel dieser Schriften nützlich, vielleicht auch gut; der gebildete Laie
aber liest keine davon. Er will Bücher, die zusammenfassen, die von jenen
Einzelschriften höchstens die Quintessenz geben. Er hat nun einmal auch das
Bedürfnis, Literatur über Literatur zu lesen, hat es leider viel zu sehr. Und
diesem Bedürfnis kommt die unwissenschaftliche Literaturgeschichte entgegen. Sie
stellt neben die Sammlungen der fachwissenschaftlichen Schriften ganze Reihen
größerer Essays in Buchform, sie schreitet sogar zu großen Darstellungen vor,
die das gesamte Werk, selbst das Leben dieses und jenes neueren Dichters um¬
fassen sollen.

Nun, gelingt das einem Literaturfreund, der nicht zur engeren Zunft
gehört, wirklich, so hat er sich eben als Dilettant einen Platz in der Wissenschaft
errungen. Denn wissenschaftlich sind Werke ja doch nicht, weil sie aus der
Feder oder der Schule dieses oder jenes Universitätsprofessors stammen, sondern
wissenschaftlich ist jede unbestechliche Feststellung der Wahrheit, und wissenschaftlich
bleibt sie auch, wenn der Feststellende obendrein noch schriftstellerisches, dar¬
stellendes Talent hat. Freilich ist die Vereinigung dieser Gaben außerhalb der
Universitätskreise ebenso selten wie innerhalb; und wenn die Fachgelehrsamkeit
unproduktiv genannt werden muß, weil sie sich in Hunderten von Einzelfest¬
stellungen verliert, so ist die Literaturkritik der „Dilettanten" doch auch nicht
eben produktiv zu nennen, denn sie will oft schon mit der Darstellung beginnen,
wenn noch alle Vorbedingungen der Feststellung fehlen und bleibt daher in der
Regel — unwissenschaftliche Literaturgeschichte.

Durch eine Reihe von literarhistorisch-kritischen Büchern, die zur Besprechung
vorliegen, sind diese Betrachtungen veranlaßt; sie ergeben sich nicht etwa aus
ganz besonders ungewöhnlichen Vorzügen oder Mängeln gerade dieser Schriften,
aber sie bieten -Gesichtspunkte für die Einordnung und Beurteilung der vor¬
liegenden Leistungen.

Wilhelms Raubes Tod hat ein allgemeines Bemühen entfesselt, ihm gerecht
zu werden, dem Volke das rechte Verständnis für ihn zu vermitteln. Die Zeit
oder der Mann, der ihm wirklich gerecht wird, ist aber bisher kaum schon ge¬
kommen, die Aufsätze und Schriften über Raabe drohen ihm vielfach zu schaden,
und zwar deshalb, weil sie ihn allzuoft überschätzen. Ein Rückschlag kann da
sehr leicht kommen, und gerade wer Raabe schätzt, sollte sich hüten, die Tadler
hervorzulocken. So finde ich den liebenswerten deutschen Mann wieder und
wieder überschätzt in Heinrich Spieros Buch „Das Werk Wilhelm
Raabes" (Xenien-Verlag zu Leipzig, 1913). Da gibt es eine Menge
Urteile, denen direkt widersprochen werden muß. Hier ist Raabe viel
zu sehr als Künstler hingestellt (S. 65 und 173), hier werden die Dichter,


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[0147] Bücher zur neueren deutschen Literatur längeren Jahren eine Art unwissenschaftlicher Literaturgeschichte sehr fröhlich gediehen. Die Fachgelehrsamkcit ist in der Regel zu vornehm, darstellen zu wollen, sie veranlaßt nur lange Reihen von Stil- und Quellenuntersuchungen, läßt die Reimkunst erforschen und die Fassungen vergleichen. Selbstverständlich ist ein Drittel dieser Schriften nützlich, vielleicht auch gut; der gebildete Laie aber liest keine davon. Er will Bücher, die zusammenfassen, die von jenen Einzelschriften höchstens die Quintessenz geben. Er hat nun einmal auch das Bedürfnis, Literatur über Literatur zu lesen, hat es leider viel zu sehr. Und diesem Bedürfnis kommt die unwissenschaftliche Literaturgeschichte entgegen. Sie stellt neben die Sammlungen der fachwissenschaftlichen Schriften ganze Reihen größerer Essays in Buchform, sie schreitet sogar zu großen Darstellungen vor, die das gesamte Werk, selbst das Leben dieses und jenes neueren Dichters um¬ fassen sollen. Nun, gelingt das einem Literaturfreund, der nicht zur engeren Zunft gehört, wirklich, so hat er sich eben als Dilettant einen Platz in der Wissenschaft errungen. Denn wissenschaftlich sind Werke ja doch nicht, weil sie aus der Feder oder der Schule dieses oder jenes Universitätsprofessors stammen, sondern wissenschaftlich ist jede unbestechliche Feststellung der Wahrheit, und wissenschaftlich bleibt sie auch, wenn der Feststellende obendrein noch schriftstellerisches, dar¬ stellendes Talent hat. Freilich ist die Vereinigung dieser Gaben außerhalb der Universitätskreise ebenso selten wie innerhalb; und wenn die Fachgelehrsamkeit unproduktiv genannt werden muß, weil sie sich in Hunderten von Einzelfest¬ stellungen verliert, so ist die Literaturkritik der „Dilettanten" doch auch nicht eben produktiv zu nennen, denn sie will oft schon mit der Darstellung beginnen, wenn noch alle Vorbedingungen der Feststellung fehlen und bleibt daher in der Regel — unwissenschaftliche Literaturgeschichte. Durch eine Reihe von literarhistorisch-kritischen Büchern, die zur Besprechung vorliegen, sind diese Betrachtungen veranlaßt; sie ergeben sich nicht etwa aus ganz besonders ungewöhnlichen Vorzügen oder Mängeln gerade dieser Schriften, aber sie bieten -Gesichtspunkte für die Einordnung und Beurteilung der vor¬ liegenden Leistungen. Wilhelms Raubes Tod hat ein allgemeines Bemühen entfesselt, ihm gerecht zu werden, dem Volke das rechte Verständnis für ihn zu vermitteln. Die Zeit oder der Mann, der ihm wirklich gerecht wird, ist aber bisher kaum schon ge¬ kommen, die Aufsätze und Schriften über Raabe drohen ihm vielfach zu schaden, und zwar deshalb, weil sie ihn allzuoft überschätzen. Ein Rückschlag kann da sehr leicht kommen, und gerade wer Raabe schätzt, sollte sich hüten, die Tadler hervorzulocken. So finde ich den liebenswerten deutschen Mann wieder und wieder überschätzt in Heinrich Spieros Buch „Das Werk Wilhelm Raabes" (Xenien-Verlag zu Leipzig, 1913). Da gibt es eine Menge Urteile, denen direkt widersprochen werden muß. Hier ist Raabe viel zu sehr als Künstler hingestellt (S. 65 und 173), hier werden die Dichter,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/147>, abgerufen am 27.07.2024.