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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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T>le cneraetischo Naturauffussung

und Schwere der Körper erkenne ich. daß sie Masse besitzen, oder, umgekehrt
ausgedrückt, weil die Körper Masse besitzen, sind sie träge und schwer. In
philosophischen Fachausdrücken: Masse einerseits und Trägheit und Schwere
anderseits verhalten sich wie Realgrund und Erkenntnisgrund. Von den drei
Faktoren der Newtonschen Bestimmungsgleichung ist mir also der eine, die
Beschleunigung, erfahrungsmäßig gegeben, der zweite, die Masse, ist auf Grund
von Erfahrungstatsachen erschlossen. Die beiden genannten Faktoren zusammen
bestimmen dann eindeutig den dritten: die Kraft. Das heißt: die Größe einer
Kraft ist eindeutig bestimmt durch die Größe der Beschleunigung, die sie einer
Masse von bestimmter Größe zu erteilen vermag.

Nun läßt sich aber der Begriff der Kraft aus den von uns wahrgenommenen
Beschleunigungen auf grundsätzlich gleiche Weise erschließen, wie der der Masse.
Es erscheint als grundsätzlich gleichberechtigt, aus der gegebenen Beschleunigung
und der erschlossenen Kraft die Masse, oder aber aus der gegebenen Beschleuni¬
gung und der erschlossenen Masse die Kraft zu bestimmen. In der Gleichung
K ^ in - b (Kraft gleich Masse mal Beschleunigung) kann ich ebensogut aus
K und b den Begriff und Größenwert von in bestimmen, wie aus in und b den
Begriff und Größenwert von K.

Daß die mechanistische Naturauffassung den letzteren Weg wählt, daß sie
aus Beschleunigung und Masse die Kraft bestimmt, statt aus Beschleunigung
und Kraft die Masse, ist in gewisser Hinsicht bloße Willkür. Gegen diese
Willkür richtet sich der grundlegende erkenntnistheoretische Einwand gegen die
mechanistische Naturauffassung, Man muß zugeben, daß dieser Einwand grund¬
sätzlich als ebenso schwerwiegend erscheint, wie die Einwände, die sich gegen den
Begriff der Energie als Grundbegriff der Naturwissenschaft richten lassen.
Mechanistische und energetische Naturauffassung stehen also in dieser Beziehung
prinzipiell auf gleicher Stufe. Es fragt sich jetzt nur noch, welche von beiden
Annahmen das bessere Modell darstellt, d. h. welche von beiden die einheitlichere
Beschreibung und Erklärung der naturwissenschaftlichen Erfahrungstatsachen er¬
möglicht. Kurz gesagt: welche von beiden Hypothesen ist die zweckmäßigere
naturwissenschaftliche Arbeitshypothese? Hierüber läßt sich zurzeit noch kein
abschließendes Urteil aussprechen, Z^clKuL sub juclics Il8 est!

Auf jeden Fall erscheint es bei diesem Stand der Dinge als recht und
billig, das naturwissenschaftliche Weltbild der nach ihrer kulturwissenschafilichen
Seite hin in dieser Zeitschrift wiederholt mit Recht scharf kritisierten Energetik
einmal in großen Zügen auszumalen. Das soll nun im Anschluß an die Dar¬
stellung geschehen, die der geistreiche französische Energetiker Gustave le Bon in
seinem auch in deutscher Übersetzung (bei I. A. Barth, Leipzig 1909) erschienenen
Buch "Über die Entwicklung der Materie" gegeben hat.

Wir folgen im nachstehenden teilweise den geradezu spannend zu nennenden
Ausführungen des französischen Gelehrten, gelegentlich in wörtlichen Wendungen.
Wir gehen aus von der Frage: Lassen sich vielleicht die rätselhaften Erschei-


Grenzboten III 1014 8
T>le cneraetischo Naturauffussung

und Schwere der Körper erkenne ich. daß sie Masse besitzen, oder, umgekehrt
ausgedrückt, weil die Körper Masse besitzen, sind sie träge und schwer. In
philosophischen Fachausdrücken: Masse einerseits und Trägheit und Schwere
anderseits verhalten sich wie Realgrund und Erkenntnisgrund. Von den drei
Faktoren der Newtonschen Bestimmungsgleichung ist mir also der eine, die
Beschleunigung, erfahrungsmäßig gegeben, der zweite, die Masse, ist auf Grund
von Erfahrungstatsachen erschlossen. Die beiden genannten Faktoren zusammen
bestimmen dann eindeutig den dritten: die Kraft. Das heißt: die Größe einer
Kraft ist eindeutig bestimmt durch die Größe der Beschleunigung, die sie einer
Masse von bestimmter Größe zu erteilen vermag.

Nun läßt sich aber der Begriff der Kraft aus den von uns wahrgenommenen
Beschleunigungen auf grundsätzlich gleiche Weise erschließen, wie der der Masse.
Es erscheint als grundsätzlich gleichberechtigt, aus der gegebenen Beschleunigung
und der erschlossenen Kraft die Masse, oder aber aus der gegebenen Beschleuni¬
gung und der erschlossenen Masse die Kraft zu bestimmen. In der Gleichung
K ^ in - b (Kraft gleich Masse mal Beschleunigung) kann ich ebensogut aus
K und b den Begriff und Größenwert von in bestimmen, wie aus in und b den
Begriff und Größenwert von K.

Daß die mechanistische Naturauffassung den letzteren Weg wählt, daß sie
aus Beschleunigung und Masse die Kraft bestimmt, statt aus Beschleunigung
und Kraft die Masse, ist in gewisser Hinsicht bloße Willkür. Gegen diese
Willkür richtet sich der grundlegende erkenntnistheoretische Einwand gegen die
mechanistische Naturauffassung, Man muß zugeben, daß dieser Einwand grund¬
sätzlich als ebenso schwerwiegend erscheint, wie die Einwände, die sich gegen den
Begriff der Energie als Grundbegriff der Naturwissenschaft richten lassen.
Mechanistische und energetische Naturauffassung stehen also in dieser Beziehung
prinzipiell auf gleicher Stufe. Es fragt sich jetzt nur noch, welche von beiden
Annahmen das bessere Modell darstellt, d. h. welche von beiden die einheitlichere
Beschreibung und Erklärung der naturwissenschaftlichen Erfahrungstatsachen er¬
möglicht. Kurz gesagt: welche von beiden Hypothesen ist die zweckmäßigere
naturwissenschaftliche Arbeitshypothese? Hierüber läßt sich zurzeit noch kein
abschließendes Urteil aussprechen, Z^clKuL sub juclics Il8 est!

Auf jeden Fall erscheint es bei diesem Stand der Dinge als recht und
billig, das naturwissenschaftliche Weltbild der nach ihrer kulturwissenschafilichen
Seite hin in dieser Zeitschrift wiederholt mit Recht scharf kritisierten Energetik
einmal in großen Zügen auszumalen. Das soll nun im Anschluß an die Dar¬
stellung geschehen, die der geistreiche französische Energetiker Gustave le Bon in
seinem auch in deutscher Übersetzung (bei I. A. Barth, Leipzig 1909) erschienenen
Buch „Über die Entwicklung der Materie" gegeben hat.

Wir folgen im nachstehenden teilweise den geradezu spannend zu nennenden
Ausführungen des französischen Gelehrten, gelegentlich in wörtlichen Wendungen.
Wir gehen aus von der Frage: Lassen sich vielleicht die rätselhaften Erschei-


Grenzboten III 1014 8
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[0125] T>le cneraetischo Naturauffussung und Schwere der Körper erkenne ich. daß sie Masse besitzen, oder, umgekehrt ausgedrückt, weil die Körper Masse besitzen, sind sie träge und schwer. In philosophischen Fachausdrücken: Masse einerseits und Trägheit und Schwere anderseits verhalten sich wie Realgrund und Erkenntnisgrund. Von den drei Faktoren der Newtonschen Bestimmungsgleichung ist mir also der eine, die Beschleunigung, erfahrungsmäßig gegeben, der zweite, die Masse, ist auf Grund von Erfahrungstatsachen erschlossen. Die beiden genannten Faktoren zusammen bestimmen dann eindeutig den dritten: die Kraft. Das heißt: die Größe einer Kraft ist eindeutig bestimmt durch die Größe der Beschleunigung, die sie einer Masse von bestimmter Größe zu erteilen vermag. Nun läßt sich aber der Begriff der Kraft aus den von uns wahrgenommenen Beschleunigungen auf grundsätzlich gleiche Weise erschließen, wie der der Masse. Es erscheint als grundsätzlich gleichberechtigt, aus der gegebenen Beschleunigung und der erschlossenen Kraft die Masse, oder aber aus der gegebenen Beschleuni¬ gung und der erschlossenen Masse die Kraft zu bestimmen. In der Gleichung K ^ in - b (Kraft gleich Masse mal Beschleunigung) kann ich ebensogut aus K und b den Begriff und Größenwert von in bestimmen, wie aus in und b den Begriff und Größenwert von K. Daß die mechanistische Naturauffassung den letzteren Weg wählt, daß sie aus Beschleunigung und Masse die Kraft bestimmt, statt aus Beschleunigung und Kraft die Masse, ist in gewisser Hinsicht bloße Willkür. Gegen diese Willkür richtet sich der grundlegende erkenntnistheoretische Einwand gegen die mechanistische Naturauffassung, Man muß zugeben, daß dieser Einwand grund¬ sätzlich als ebenso schwerwiegend erscheint, wie die Einwände, die sich gegen den Begriff der Energie als Grundbegriff der Naturwissenschaft richten lassen. Mechanistische und energetische Naturauffassung stehen also in dieser Beziehung prinzipiell auf gleicher Stufe. Es fragt sich jetzt nur noch, welche von beiden Annahmen das bessere Modell darstellt, d. h. welche von beiden die einheitlichere Beschreibung und Erklärung der naturwissenschaftlichen Erfahrungstatsachen er¬ möglicht. Kurz gesagt: welche von beiden Hypothesen ist die zweckmäßigere naturwissenschaftliche Arbeitshypothese? Hierüber läßt sich zurzeit noch kein abschließendes Urteil aussprechen, Z^clKuL sub juclics Il8 est! Auf jeden Fall erscheint es bei diesem Stand der Dinge als recht und billig, das naturwissenschaftliche Weltbild der nach ihrer kulturwissenschafilichen Seite hin in dieser Zeitschrift wiederholt mit Recht scharf kritisierten Energetik einmal in großen Zügen auszumalen. Das soll nun im Anschluß an die Dar¬ stellung geschehen, die der geistreiche französische Energetiker Gustave le Bon in seinem auch in deutscher Übersetzung (bei I. A. Barth, Leipzig 1909) erschienenen Buch „Über die Entwicklung der Materie" gegeben hat. Wir folgen im nachstehenden teilweise den geradezu spannend zu nennenden Ausführungen des französischen Gelehrten, gelegentlich in wörtlichen Wendungen. Wir gehen aus von der Frage: Lassen sich vielleicht die rätselhaften Erschei- Grenzboten III 1014 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/125>, abgerufen am 27.07.2024.