Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.Die energetische Naturauffassung den Fortschritt der Erfahrung und durch die logisch - erkenntnistheoretische Nach¬ Es gibt, wie wir weiter unten ausführlich zeigen werden, eine Reihe von Die energetische Naturauffassung den Fortschritt der Erfahrung und durch die logisch - erkenntnistheoretische Nach¬ Es gibt, wie wir weiter unten ausführlich zeigen werden, eine Reihe von <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328858"/> <fw type="header" place="top"> Die energetische Naturauffassung</fw><lb/> <p xml:id="ID_385" prev="#ID_384"> den Fortschritt der Erfahrung und durch die logisch - erkenntnistheoretische Nach¬<lb/> prüfung sich als notwendig erweisen. Die naturwissenschaftliche Hypothese ist<lb/> ihrem Wesen nach „Arbeitshypothese". Sie läßt sich als solche einem Modell<lb/> vergleichen, das ich mir zur Veranschaulichung und Erklärung eines bestimmten<lb/> Zusammenhanges von Dingen, Vorgängen und Beziehungen konstruiert habe.<lb/> Lerne ich diesem Zusammenhange angehörende neue Tatsachen kennen oder be¬<lb/> kannte Tatsachen anders deuten, so daß das Modell nicht mehr paßt, so muß<lb/> das Modell abgeändert oder unter Umständen ganz zum alten Eisen geworfen<lb/> werden. Es ist eine der dringlichsten Forderungen des wissenschaftlichen Ge¬<lb/> wissens des Naturforschers, zu solchen Abänderungen oder Erneuerungen der<lb/> Hypothese stets bereit zu sein und die Hypothese nicht erstarren zu lassen. Sind<lb/> die Energetiker hierzu bereit, so ist es unsere Pflicht, ihre grundlegende Hypo¬<lb/> these ernsthaft mit ihnen zu diskutieren. Dazu kommt, daß die bisher herrschende<lb/> Grundannahme, als deren „Konkurrenzhypothese" die Energetik auftritt, die<lb/> mechanistische Naturauffassung, an den gleichen prinzipiellen Mängeln leidet,<lb/> wie die Energetik.</p><lb/> <p xml:id="ID_386" next="#ID_387"> Es gibt, wie wir weiter unten ausführlich zeigen werden, eine Reihe von<lb/> neuentdeckten Tatsachen, denen das mechanistische Modell bisher noch nicht<lb/> gerecht zu werden vermochte. Und es stecken ferner im Mechanismus begriffliche<lb/> Schwierigkeiten von grundsätzlich gleicher Art, wie diejenigen in der Energetik.<lb/> Denn wie lautet der hauptsächliche prinzipielle Vorwurf, den der Natur-<lb/> Erkenntnistheoretiker dem Energetiker macht? Er sagt: dein Fundamentalbegriff<lb/> ist erkenntnistheoretisch nicht einwandfrei: denn entweder mußt du den Begriff<lb/> der Energie so fassen, daß darin versteckt der Begriff der Masse, den du los¬<lb/> werden willst, wieder enthalten ist; oder aber die sogenannte Energie schwebt<lb/> vollständig in der Luft, sie ist ein Erzeugnis metaphysischer Spekulation, mit<lb/> dem sich in der Naturwissenschaft nichts anfangen läßt. Einen ähnlichen Vor¬<lb/> wurf können wir aber auch gegen den Mechanismus erheben. Denn in der<lb/> mechanistischen Naturauffassung gilt als grundlegend jener bekannte Newtonsche<lb/> Grundsatz der Mechanik, der zugleich die Definition des Kraftbegriffes einschließt:<lb/> jede Veränderung im Bewegungszustande eines Körpers (jede Beschleunigung)<lb/> ist proportional der sie verursachenden Kraft und findet in der Kraftrichtung<lb/> statt. Das ergibt die bekannte Definitionsgleichung: Kraft gleich Masse mal<lb/> Beschleunigung. Von den drei Faktoren dieser Gleichung: Kraft, Masse, Be¬<lb/> schleunigung — ist mir aber einzig und allein die Beschleunigung in der Er¬<lb/> fahrung unmittelbar gegeben. Ich erfahre und beobachte einzig und allein,<lb/> daß die Körper in der Natur Veränderungen ihres Bewegungszustandes er¬<lb/> leiden. Daß diese Veränderungen durch Kräfte bewirkt werden, und daß es<lb/> Massen sind, auf die diese Kräfte ihre Wirkungen ausüben, nehme ich nicht<lb/> unmittelbar wahr, sondern erschließe ich erst aus den wahrgenommenen Tat¬<lb/> sachen. Insbesondere die Masse erschließe ich aus den Erfahrungstatsachen der<lb/> Trägheit und der Schwere. An der von mir empirisch festgestellten Trägheit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0124]
Die energetische Naturauffassung
den Fortschritt der Erfahrung und durch die logisch - erkenntnistheoretische Nach¬
prüfung sich als notwendig erweisen. Die naturwissenschaftliche Hypothese ist
ihrem Wesen nach „Arbeitshypothese". Sie läßt sich als solche einem Modell
vergleichen, das ich mir zur Veranschaulichung und Erklärung eines bestimmten
Zusammenhanges von Dingen, Vorgängen und Beziehungen konstruiert habe.
Lerne ich diesem Zusammenhange angehörende neue Tatsachen kennen oder be¬
kannte Tatsachen anders deuten, so daß das Modell nicht mehr paßt, so muß
das Modell abgeändert oder unter Umständen ganz zum alten Eisen geworfen
werden. Es ist eine der dringlichsten Forderungen des wissenschaftlichen Ge¬
wissens des Naturforschers, zu solchen Abänderungen oder Erneuerungen der
Hypothese stets bereit zu sein und die Hypothese nicht erstarren zu lassen. Sind
die Energetiker hierzu bereit, so ist es unsere Pflicht, ihre grundlegende Hypo¬
these ernsthaft mit ihnen zu diskutieren. Dazu kommt, daß die bisher herrschende
Grundannahme, als deren „Konkurrenzhypothese" die Energetik auftritt, die
mechanistische Naturauffassung, an den gleichen prinzipiellen Mängeln leidet,
wie die Energetik.
Es gibt, wie wir weiter unten ausführlich zeigen werden, eine Reihe von
neuentdeckten Tatsachen, denen das mechanistische Modell bisher noch nicht
gerecht zu werden vermochte. Und es stecken ferner im Mechanismus begriffliche
Schwierigkeiten von grundsätzlich gleicher Art, wie diejenigen in der Energetik.
Denn wie lautet der hauptsächliche prinzipielle Vorwurf, den der Natur-
Erkenntnistheoretiker dem Energetiker macht? Er sagt: dein Fundamentalbegriff
ist erkenntnistheoretisch nicht einwandfrei: denn entweder mußt du den Begriff
der Energie so fassen, daß darin versteckt der Begriff der Masse, den du los¬
werden willst, wieder enthalten ist; oder aber die sogenannte Energie schwebt
vollständig in der Luft, sie ist ein Erzeugnis metaphysischer Spekulation, mit
dem sich in der Naturwissenschaft nichts anfangen läßt. Einen ähnlichen Vor¬
wurf können wir aber auch gegen den Mechanismus erheben. Denn in der
mechanistischen Naturauffassung gilt als grundlegend jener bekannte Newtonsche
Grundsatz der Mechanik, der zugleich die Definition des Kraftbegriffes einschließt:
jede Veränderung im Bewegungszustande eines Körpers (jede Beschleunigung)
ist proportional der sie verursachenden Kraft und findet in der Kraftrichtung
statt. Das ergibt die bekannte Definitionsgleichung: Kraft gleich Masse mal
Beschleunigung. Von den drei Faktoren dieser Gleichung: Kraft, Masse, Be¬
schleunigung — ist mir aber einzig und allein die Beschleunigung in der Er¬
fahrung unmittelbar gegeben. Ich erfahre und beobachte einzig und allein,
daß die Körper in der Natur Veränderungen ihres Bewegungszustandes er¬
leiden. Daß diese Veränderungen durch Kräfte bewirkt werden, und daß es
Massen sind, auf die diese Kräfte ihre Wirkungen ausüben, nehme ich nicht
unmittelbar wahr, sondern erschließe ich erst aus den wahrgenommenen Tat¬
sachen. Insbesondere die Masse erschließe ich aus den Erfahrungstatsachen der
Trägheit und der Schwere. An der von mir empirisch festgestellten Trägheit
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